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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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und in der Geschichte, in der Wissenschaft des Rechts und der Sprache still em¬
porgewachsen ist, den Sinn der -- Humboldt, der Savigny und Grimm,
als von Grund aus Goethesche Denk- und Sinnesweise; er preist ihre Ent¬
äußerung vom Eigensinn, welcher die Erscheinungen nur so haben will, wie
er sie sich gedacht hat; ihre Entäußerung vom Egoismus, welcher die Dinge
nur sich selbst, nur seiner zufälligen Neigung und Bildung gerecht machen will;
die große Uneigennützigkeit, welche an den Gegenstand keine seiner Natur
fremdartige Anforderungen stellt, ihre Wehrhaftigkeit, die nur ausspricht, was
sie wirklich gesehen und erfahren, ihre Treue, welche heilige Scheu trägt, an
der dargebotenen Erscheinug willkürlich etwas zu verrücken.

Ich weiß nicht, ob diese Stelle in Vilmars Literaturgeschichte dem Maler
bei seinem Bilde vorgeschwebt haben mag; es scheint fast so, da Vilmar kurz
darauf ausruft: "Werde wie ein Kind und nimm, was dir geboten wird." Aus
jeden Fall wenigstens begegnen sich hier die Ansichten des Literarhistorikers und
die kinderliebenden Vorstellungen des Malers.

Wären wirklich Goethe und Humboldt die Träger einer solchen Ansicht?

Es ist ein eigen Ding um diese historische Schule, welche alle Geschichte
verwirft. Verzichtet die Menschheit darauf, die Erscheinungen so haben zu
wollen, wie sie sich dieselben gedachthat, so wäre keine Veränderung möglich,
es würde nichts geschehen, es gäbe keine Geschichte. Hätte Adam nicht die
Dinge nach seiner Meinung zurechtgelegt, wir hätte" noch nicht Feigenblätter,
um unsre Blöße zu decken. Wenn aber Bedürfniß und die Sehnsucht nach
einem besseren Zustande sonst Veränderungen herbeiführten, warum sollen sie
es.jetzt nicht mehr? oder leuchtet jetzt mit einem Male, wie Vilmar findet, "die
Sonne der Gerechtigkeit weithin durch alle Welt" und braucht man sich wirk¬
lich nur frei hinzustellen, um sich von ihr erwärmen zu lassen?

Wenn aber Veränderungen, wenn ein Fortschritt auch jetzt noch und im¬
mer unabweislich ist, dann ist es die Vernunft, welche diese Veränderungen
dictirt, die den Fortschritt, wenn anders man es der Unvernunft der Revolution
nicht überlassen will, herbeiführt; die Vernunft stellt gerade Forderungen an
die Frage, die sie bisher noch nicht erfüllt haben; und sie findet die Mittel,
diesen Forderungen ein Genüge zu verschaffen, Sie thut es im Leben, im
Recht, im Staat; sie thut es vor allem in den Naturwissenschaften. Ohne daß
an die Dinge Anforderungen gestellt wurden, welche bisher noch nicht an
sie gemacht worden waren, läßt sich über sie gar nichts erfahren. Erst als
man dem Magneteisenstein Eisen näherte, erfuhr man, daß er die Eigenschaft
Eisen anzuziehen besitzt; erst als man das Licht durch ein Prisma sich brechen
ließ, konnte man erfahren, daß der weiße Lichtstrahl aus farbigen Strahlen zu¬
sammengesetzt ist. Ob die Anforderungen, welche man an die Dinge stellt, ihrer
Natur fremdartige sind, läßt sich erst aus dem Erfolg sehen; den Zusammen-


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und in der Geschichte, in der Wissenschaft des Rechts und der Sprache still em¬
porgewachsen ist, den Sinn der — Humboldt, der Savigny und Grimm,
als von Grund aus Goethesche Denk- und Sinnesweise; er preist ihre Ent¬
äußerung vom Eigensinn, welcher die Erscheinungen nur so haben will, wie
er sie sich gedacht hat; ihre Entäußerung vom Egoismus, welcher die Dinge
nur sich selbst, nur seiner zufälligen Neigung und Bildung gerecht machen will;
die große Uneigennützigkeit, welche an den Gegenstand keine seiner Natur
fremdartige Anforderungen stellt, ihre Wehrhaftigkeit, die nur ausspricht, was
sie wirklich gesehen und erfahren, ihre Treue, welche heilige Scheu trägt, an
der dargebotenen Erscheinug willkürlich etwas zu verrücken.

Ich weiß nicht, ob diese Stelle in Vilmars Literaturgeschichte dem Maler
bei seinem Bilde vorgeschwebt haben mag; es scheint fast so, da Vilmar kurz
darauf ausruft: „Werde wie ein Kind und nimm, was dir geboten wird." Aus
jeden Fall wenigstens begegnen sich hier die Ansichten des Literarhistorikers und
die kinderliebenden Vorstellungen des Malers.

Wären wirklich Goethe und Humboldt die Träger einer solchen Ansicht?

Es ist ein eigen Ding um diese historische Schule, welche alle Geschichte
verwirft. Verzichtet die Menschheit darauf, die Erscheinungen so haben zu
wollen, wie sie sich dieselben gedachthat, so wäre keine Veränderung möglich,
es würde nichts geschehen, es gäbe keine Geschichte. Hätte Adam nicht die
Dinge nach seiner Meinung zurechtgelegt, wir hätte» noch nicht Feigenblätter,
um unsre Blöße zu decken. Wenn aber Bedürfniß und die Sehnsucht nach
einem besseren Zustande sonst Veränderungen herbeiführten, warum sollen sie
es.jetzt nicht mehr? oder leuchtet jetzt mit einem Male, wie Vilmar findet, „die
Sonne der Gerechtigkeit weithin durch alle Welt" und braucht man sich wirk¬
lich nur frei hinzustellen, um sich von ihr erwärmen zu lassen?

Wenn aber Veränderungen, wenn ein Fortschritt auch jetzt noch und im¬
mer unabweislich ist, dann ist es die Vernunft, welche diese Veränderungen
dictirt, die den Fortschritt, wenn anders man es der Unvernunft der Revolution
nicht überlassen will, herbeiführt; die Vernunft stellt gerade Forderungen an
die Frage, die sie bisher noch nicht erfüllt haben; und sie findet die Mittel,
diesen Forderungen ein Genüge zu verschaffen, Sie thut es im Leben, im
Recht, im Staat; sie thut es vor allem in den Naturwissenschaften. Ohne daß
an die Dinge Anforderungen gestellt wurden, welche bisher noch nicht an
sie gemacht worden waren, läßt sich über sie gar nichts erfahren. Erst als
man dem Magneteisenstein Eisen näherte, erfuhr man, daß er die Eigenschaft
Eisen anzuziehen besitzt; erst als man das Licht durch ein Prisma sich brechen
ließ, konnte man erfahren, daß der weiße Lichtstrahl aus farbigen Strahlen zu¬
sammengesetzt ist. Ob die Anforderungen, welche man an die Dinge stellt, ihrer
Natur fremdartige sind, läßt sich erst aus dem Erfolg sehen; den Zusammen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/115>, abgerufen am 24.08.2024.