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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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Seite? -- Vielleicht hätte ich gläubige Wissenschaft und kritische Wissenschaft
sagen sollen; -- aber das trifft auch nicht recht; -- oder Unmittelbarkeit des
Schaffens und Grübeln der Reflexion? -- auch das thuts nicht; -- intuitive
Wissenschaft und dialektische Wissenschaft? -- nicht besser; Supernaturalismus
und Rationalismus? auch noch nicht; weiß ich doch nicht, was genau paßt;
der Leser wird selbst urtheilen und einen Namen geben, wenn er kann.

Auf der andern Seite also sieht man drei freundliche Kindergesichter: das
Verwerfliche erscheint auf diesem Bilde alt und grau; daS Verklärliche jung
und frisch; denn "grau, Freund, ist alle Theorie, doch ewig grün des Lebens
goldner Baum," sagt Mephisto. Der Schalk Goethe! Warum legt er wol die
Wahrheiten, die Sentenzen, die am allgemeinsten als Wahrheiten angeführt
werden, in den Mund des Lügengeistes?

Sind gleich diese Kindergesichter Porträts, so haben sie doch eine unver¬
kennbare Familienähnlichkeit mit dem Knaben, der den Zug der Christen
aus dem zerstörten Jerusalem führt: sonst stellen sie Goethe, Humboldt und
I. Grimm vor.

Und niemand wundert sich wahrlich, diese drei Männer im Lichte der
Verklärung zu erblicken. Aber man fragt denn doch, mit welchem Recht sie in
einen solchen Gegensatz mit andern Männern der Wissenschaft treten, daß man
über diese das Dunkel der Verworfenheit ausbreiten darf.

Zuerst wird man doch nicht die Dreistigkeit haben, zu behaupten, daß
die Ausbeute und die Anregung, welche der Maler in den Dichtungen Goethes,
in den Beschreibungen Humboldts, in den von Grimm bearbeiteten altdeutschen
Heldensagen zu eignen Werken gefunden oder finden könnte, seine Verehrung
für diese Männer so rechtfertigt, daß er seiner Abneigung gegen andre, die ihm
keine Anregung und Ausbeute gewährten, in der beschriebenen Weise Luft
machen durfte. In der That würde diese Philisterei doch ans ein Haar der
Engherzigkeit des Handelsmannes gleichen, der es verschmäht, für die Besichtigung
der Kaulbachschen Bilder fünf Silbergroschen auszugeben, weil das Ansehen
derselben ihm nichts wiederum einbringt.

Jedoch man sieht zuerst Goethe und so erwartet man ganz natürlich, daß
den Künstler das Künstlerische, den Poeten das Poetische in den Werken der
drei Verklärten angezogen hat. Aber so schön Alexander. von Humboldt zu
schreiben versteht, er wird sich selbst nie für einen Künstler angesehen haben,
geschweige denn wollen, daß der Kosmos für eine bloße Poesie gelte; Jakob
Grimm dagegen hat außer der Märchensammluug nur mühvolle Werke sprach¬
licher, mythologischer, archäologischer Untersuchungen hervorgebracht. Und warum
fehlt Tieck, der viel kunstvollere Märchen gedichtet als Grimm nachgeschrieben
hat? Hat er sich durch sein Eude dieser Ehre verlustig gemacht? Und warum
der erklärte Liebling des deutschen Volkes, Schiller, mit dem selbst Goethe


Grenzboten. II. ->8on. -I i

Seite? — Vielleicht hätte ich gläubige Wissenschaft und kritische Wissenschaft
sagen sollen; — aber das trifft auch nicht recht; — oder Unmittelbarkeit des
Schaffens und Grübeln der Reflexion? — auch das thuts nicht; — intuitive
Wissenschaft und dialektische Wissenschaft? — nicht besser; Supernaturalismus
und Rationalismus? auch noch nicht; weiß ich doch nicht, was genau paßt;
der Leser wird selbst urtheilen und einen Namen geben, wenn er kann.

Auf der andern Seite also sieht man drei freundliche Kindergesichter: das
Verwerfliche erscheint auf diesem Bilde alt und grau; daS Verklärliche jung
und frisch; denn „grau, Freund, ist alle Theorie, doch ewig grün des Lebens
goldner Baum," sagt Mephisto. Der Schalk Goethe! Warum legt er wol die
Wahrheiten, die Sentenzen, die am allgemeinsten als Wahrheiten angeführt
werden, in den Mund des Lügengeistes?

Sind gleich diese Kindergesichter Porträts, so haben sie doch eine unver¬
kennbare Familienähnlichkeit mit dem Knaben, der den Zug der Christen
aus dem zerstörten Jerusalem führt: sonst stellen sie Goethe, Humboldt und
I. Grimm vor.

Und niemand wundert sich wahrlich, diese drei Männer im Lichte der
Verklärung zu erblicken. Aber man fragt denn doch, mit welchem Recht sie in
einen solchen Gegensatz mit andern Männern der Wissenschaft treten, daß man
über diese das Dunkel der Verworfenheit ausbreiten darf.

Zuerst wird man doch nicht die Dreistigkeit haben, zu behaupten, daß
die Ausbeute und die Anregung, welche der Maler in den Dichtungen Goethes,
in den Beschreibungen Humboldts, in den von Grimm bearbeiteten altdeutschen
Heldensagen zu eignen Werken gefunden oder finden könnte, seine Verehrung
für diese Männer so rechtfertigt, daß er seiner Abneigung gegen andre, die ihm
keine Anregung und Ausbeute gewährten, in der beschriebenen Weise Luft
machen durfte. In der That würde diese Philisterei doch ans ein Haar der
Engherzigkeit des Handelsmannes gleichen, der es verschmäht, für die Besichtigung
der Kaulbachschen Bilder fünf Silbergroschen auszugeben, weil das Ansehen
derselben ihm nichts wiederum einbringt.

Jedoch man sieht zuerst Goethe und so erwartet man ganz natürlich, daß
den Künstler das Künstlerische, den Poeten das Poetische in den Werken der
drei Verklärten angezogen hat. Aber so schön Alexander. von Humboldt zu
schreiben versteht, er wird sich selbst nie für einen Künstler angesehen haben,
geschweige denn wollen, daß der Kosmos für eine bloße Poesie gelte; Jakob
Grimm dagegen hat außer der Märchensammluug nur mühvolle Werke sprach¬
licher, mythologischer, archäologischer Untersuchungen hervorgebracht. Und warum
fehlt Tieck, der viel kunstvollere Märchen gedichtet als Grimm nachgeschrieben
hat? Hat er sich durch sein Eude dieser Ehre verlustig gemacht? Und warum
der erklärte Liebling des deutschen Volkes, Schiller, mit dem selbst Goethe


Grenzboten. II. ->8on. -I i
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[0113] Seite? — Vielleicht hätte ich gläubige Wissenschaft und kritische Wissenschaft sagen sollen; — aber das trifft auch nicht recht; — oder Unmittelbarkeit des Schaffens und Grübeln der Reflexion? — auch das thuts nicht; — intuitive Wissenschaft und dialektische Wissenschaft? — nicht besser; Supernaturalismus und Rationalismus? auch noch nicht; weiß ich doch nicht, was genau paßt; der Leser wird selbst urtheilen und einen Namen geben, wenn er kann. Auf der andern Seite also sieht man drei freundliche Kindergesichter: das Verwerfliche erscheint auf diesem Bilde alt und grau; daS Verklärliche jung und frisch; denn „grau, Freund, ist alle Theorie, doch ewig grün des Lebens goldner Baum," sagt Mephisto. Der Schalk Goethe! Warum legt er wol die Wahrheiten, die Sentenzen, die am allgemeinsten als Wahrheiten angeführt werden, in den Mund des Lügengeistes? Sind gleich diese Kindergesichter Porträts, so haben sie doch eine unver¬ kennbare Familienähnlichkeit mit dem Knaben, der den Zug der Christen aus dem zerstörten Jerusalem führt: sonst stellen sie Goethe, Humboldt und I. Grimm vor. Und niemand wundert sich wahrlich, diese drei Männer im Lichte der Verklärung zu erblicken. Aber man fragt denn doch, mit welchem Recht sie in einen solchen Gegensatz mit andern Männern der Wissenschaft treten, daß man über diese das Dunkel der Verworfenheit ausbreiten darf. Zuerst wird man doch nicht die Dreistigkeit haben, zu behaupten, daß die Ausbeute und die Anregung, welche der Maler in den Dichtungen Goethes, in den Beschreibungen Humboldts, in den von Grimm bearbeiteten altdeutschen Heldensagen zu eignen Werken gefunden oder finden könnte, seine Verehrung für diese Männer so rechtfertigt, daß er seiner Abneigung gegen andre, die ihm keine Anregung und Ausbeute gewährten, in der beschriebenen Weise Luft machen durfte. In der That würde diese Philisterei doch ans ein Haar der Engherzigkeit des Handelsmannes gleichen, der es verschmäht, für die Besichtigung der Kaulbachschen Bilder fünf Silbergroschen auszugeben, weil das Ansehen derselben ihm nichts wiederum einbringt. Jedoch man sieht zuerst Goethe und so erwartet man ganz natürlich, daß den Künstler das Künstlerische, den Poeten das Poetische in den Werken der drei Verklärten angezogen hat. Aber so schön Alexander. von Humboldt zu schreiben versteht, er wird sich selbst nie für einen Künstler angesehen haben, geschweige denn wollen, daß der Kosmos für eine bloße Poesie gelte; Jakob Grimm dagegen hat außer der Märchensammluug nur mühvolle Werke sprach¬ licher, mythologischer, archäologischer Untersuchungen hervorgebracht. Und warum fehlt Tieck, der viel kunstvollere Märchen gedichtet als Grimm nachgeschrieben hat? Hat er sich durch sein Eude dieser Ehre verlustig gemacht? Und warum der erklärte Liebling des deutschen Volkes, Schiller, mit dem selbst Goethe Grenzboten. II. ->8on. -I i

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/113>, abgerufen am 03.07.2024.