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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band.

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in dem Hohenpriester, der sich selbst entleibt, in der Gruppe um ihn, die ein
ähnliches Schicksal erwartet oder bereits erduldet, den Untergang des Judenthums,
in den abziehenden Christen auf der linken Seite den gesegneten Keim des
Christenthums, rechts in dem ewigen Juden den Rest des umherirrenden, mit
Fluch beladenen Volks. Weiter zurück, im Mittelgrunde, links den siegreich
einziehenden Titus, ihm gegenüber, in dem brennenden, einstürzenden Tempel
die letzten verzweifelten, untergehenden Vertheidiger der Stadt, etwas näher
flüchtende jüdische Krieger und noch mehr nach vorn Mische Frauen in schreck¬
lichster Hungersqual ein Kind schlachtend, dabei einzelne, bereits vorangeeilte
Krieger des römischen Heers, die Jungfrauen aus der Nähe des Hohenpriesters
entführen wollen. DaS ist vortrefflich gedacht, aber diese Motive sind nicht
verbunden, sie stehn jedes für sich da und lenken auch nur das Auge auf sich.
Wir sehen allerdings im Mittelgrunde Titus und die einziehenden Römer und
so wird uns der Vorgang verständlich, aber erst durch Reflexion, nicht sinnlich
unmittelbar, jene obenerwähnten Gruppen stehen in keinem rechten Zusammen¬
hange mit Titus, man weiß oder ahnt, daß er die Ursache zu der schreck¬
lichen Katastrophe ist: man sieht es aber nicht, wenigstens nicht klar und
entschieden.

Wodurch Kaulbach sich die einheitliche Darstellung erschwerte oder worin
meiner Meinung nach der tiefere Grund des Mangels der Concentration liegt,
ist dieses, daß er der Einwirkung einer höhern Macht bei der Darstellung zu
viel Raum gewährte, ohne daß diese Macht doch innerlich wahrnehmbar
einen directen entschiedenen Einfluß übt. Mit vollem Recht zwar hat Kaul¬
bach hoch in die Wolken die Propheten gesetzt, den Untergang schauend, den
sie längst verkündet haben; denn durch sie wird uns vor die Seele geführt, daß
dieser Untergang eine Strafe des Himmels ist. Auch that er wohl daran,
sie als eine Erscheinung, nicht in voller Realität darzustellen, sie, die in ferner
Vergangenheit zurückliegen. Damit ist aber auch der Absicht, den göttlichen
Einfluß kundzugeben, Genüge geschehen. Die Schar der strafenden
Engel uuter den Propheten, so schön sie sind, ist schon nicht mehr zweckmäßig,
sie scheinen die Züchtigung der Stadt zu übernehmen, während doch Titus
das eigentliche Werkzeug derselben ist, der auch als solches, freilich aber nicht
bedeutend genug dargestellt ist. Wäre Titus wenigstens ein christlicher
Herrscher, der als Streiter des Himmels die abtrünnige Stadt zerstörte, so
möchten sie allenfalls als dessen Mitstreiter am Platze sein; bedient sich aber Gott
zur Erreichung seiner Zwecke einer irdischen, ihm fremden Macht, die nichts
ahnt von jenem himmlischen Einflüsse, dann wollen wir diese Macht auch als
die eigentliche Triebfeder des Vorgangs in ihrer ganzen Bedeutung dargestellt
sehen. Des Himmels Wille und Vorsehung war aber genugsam durch die
Propheten versinnlicht. Und da wir diesen Eindruck einmal empfangen


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in dem Hohenpriester, der sich selbst entleibt, in der Gruppe um ihn, die ein
ähnliches Schicksal erwartet oder bereits erduldet, den Untergang des Judenthums,
in den abziehenden Christen auf der linken Seite den gesegneten Keim des
Christenthums, rechts in dem ewigen Juden den Rest des umherirrenden, mit
Fluch beladenen Volks. Weiter zurück, im Mittelgrunde, links den siegreich
einziehenden Titus, ihm gegenüber, in dem brennenden, einstürzenden Tempel
die letzten verzweifelten, untergehenden Vertheidiger der Stadt, etwas näher
flüchtende jüdische Krieger und noch mehr nach vorn Mische Frauen in schreck¬
lichster Hungersqual ein Kind schlachtend, dabei einzelne, bereits vorangeeilte
Krieger des römischen Heers, die Jungfrauen aus der Nähe des Hohenpriesters
entführen wollen. DaS ist vortrefflich gedacht, aber diese Motive sind nicht
verbunden, sie stehn jedes für sich da und lenken auch nur das Auge auf sich.
Wir sehen allerdings im Mittelgrunde Titus und die einziehenden Römer und
so wird uns der Vorgang verständlich, aber erst durch Reflexion, nicht sinnlich
unmittelbar, jene obenerwähnten Gruppen stehen in keinem rechten Zusammen¬
hange mit Titus, man weiß oder ahnt, daß er die Ursache zu der schreck¬
lichen Katastrophe ist: man sieht es aber nicht, wenigstens nicht klar und
entschieden.

Wodurch Kaulbach sich die einheitliche Darstellung erschwerte oder worin
meiner Meinung nach der tiefere Grund des Mangels der Concentration liegt,
ist dieses, daß er der Einwirkung einer höhern Macht bei der Darstellung zu
viel Raum gewährte, ohne daß diese Macht doch innerlich wahrnehmbar
einen directen entschiedenen Einfluß übt. Mit vollem Recht zwar hat Kaul¬
bach hoch in die Wolken die Propheten gesetzt, den Untergang schauend, den
sie längst verkündet haben; denn durch sie wird uns vor die Seele geführt, daß
dieser Untergang eine Strafe des Himmels ist. Auch that er wohl daran,
sie als eine Erscheinung, nicht in voller Realität darzustellen, sie, die in ferner
Vergangenheit zurückliegen. Damit ist aber auch der Absicht, den göttlichen
Einfluß kundzugeben, Genüge geschehen. Die Schar der strafenden
Engel uuter den Propheten, so schön sie sind, ist schon nicht mehr zweckmäßig,
sie scheinen die Züchtigung der Stadt zu übernehmen, während doch Titus
das eigentliche Werkzeug derselben ist, der auch als solches, freilich aber nicht
bedeutend genug dargestellt ist. Wäre Titus wenigstens ein christlicher
Herrscher, der als Streiter des Himmels die abtrünnige Stadt zerstörte, so
möchten sie allenfalls als dessen Mitstreiter am Platze sein; bedient sich aber Gott
zur Erreichung seiner Zwecke einer irdischen, ihm fremden Macht, die nichts
ahnt von jenem himmlischen Einflüsse, dann wollen wir diese Macht auch als
die eigentliche Triebfeder des Vorgangs in ihrer ganzen Bedeutung dargestellt
sehen. Des Himmels Wille und Vorsehung war aber genugsam durch die
Propheten versinnlicht. Und da wir diesen Eindruck einmal empfangen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_99385/11>, abgerufen am 01.07.2024.