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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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leichten Freiheit, aber nicht ohne Geist und Tahl, sich die Seite der darzu¬
stellenden Rolle hervorsucht, welche ihm bei seinem Naturell besonders wirksam
erscheint.

Jeder Künstler wird etwas Aehnliches thun, aber bei jedem wird
das Verhältniß verschieden sein, in welchem die unmittelbare produktive Kraft
zu der Reflexion steht; und die Art, wie beide regulirt werden durch
die allgemeine menschliche Bildung, durch Temperament, Gemüthsrichtung des
Künstlers. Einer genialen Kraft 'wird das Charakteristische der Rolle, wie
sich dies in den einzelnen Momenten äußert, schnell und mächtig wie eine
Anschauung aufschießen. Ein solcher Darsteller wird ohne vieles Nach¬
denken das Wesen des darzustellenden Charakters aufs lebhafteste empfin¬
den, und die einzelnen Momente seiner Darstellung werden mit instinct-
artiger Consequenz sich mit allem Detail wie von selbst in seiner Phantasie
entwickeln. Eine solche geniale Naturkraft, die größte, welche Deutschland
gehabt hat, war Schröder, in beschränkterer Weise mit vielen Unarten
Fleck, zuletzt Ludwig Devrient. Die großen Rollen solcher Künstler haben
den Vorzug, eine dämonische Wirkung auf den Zuschauer auszuüben, sie
sind aus einem Guß, bei allen UnVollkommenheiten im Einzelnen etwas
Großes und Fertiges. Aber nur selten erscheint die productive Kraft in der
Seele eines darstellenden Künstlers so mächtig, daß sie ihn selbst unwider¬
stehlich zwingt und alle Momente seiner Darstellung erfüllt, bei den meisten
großen Talenten unsrer Künstlerwelt springt diese schöpferische Kraft nur in
einzelnen Momenten beim Studium der Rolle so mächtig hervor, daß sie Ton,
Haltung, Geberde, alle Einzelheiten des Spiels wie eine Anschauung in die
Seele des Künstlers aufblitzen macht. Viele Scenen werden erst durch Nach¬
denken mit diesen gefundenen Momenten in Verbindung gebracht, die schöpferische
Kraft fchW da nich! mehr aus dem Vollen, sonvern sie arbeitet leise, mit Unter¬
brechung", sie will unterstützt sein durch jede andere Art von geistiger Arbeit,
und in manchen Momenten bleibt sie vielleicht ganz weg, und die banale
Spielphrase tritt störend als Lückenbüßer in die Erfindung. An solchen
Talenten schätzen wir nächst dem Reichthum ihrer Technik die Treue und
Sorgfalt, mit welcher sie in die Empfindung des Dichters sich hineinzuleben
suchen, und wir sind bei ihnen vorzugsweise kritisch in der Wahl der Mittel,
durch welche sie ihre Wirkungen hervorbringen. Ein sehr interessantes Bei¬
spiel solches Talentes war Seydelmann. Langsam und schwer entwickelte sich
seine Kraft für das Detail der Rolle; ein sehr sorgfältiges und complicirtes
Studium war für ihn nötlug, um den darzustellenden Charakter sich so klar
zu machen, daß er ihn fassen konnte; alles war bei ihm vorher bedacht,
ängstlich abgewogen, oft mit peinlicher Genauigkeit zurechtgelegt. Mit großer
Pietät suchte er die Intentionen des Dichters auf, er vertiefte sich gern in


leichten Freiheit, aber nicht ohne Geist und Tahl, sich die Seite der darzu¬
stellenden Rolle hervorsucht, welche ihm bei seinem Naturell besonders wirksam
erscheint.

Jeder Künstler wird etwas Aehnliches thun, aber bei jedem wird
das Verhältniß verschieden sein, in welchem die unmittelbare produktive Kraft
zu der Reflexion steht; und die Art, wie beide regulirt werden durch
die allgemeine menschliche Bildung, durch Temperament, Gemüthsrichtung des
Künstlers. Einer genialen Kraft 'wird das Charakteristische der Rolle, wie
sich dies in den einzelnen Momenten äußert, schnell und mächtig wie eine
Anschauung aufschießen. Ein solcher Darsteller wird ohne vieles Nach¬
denken das Wesen des darzustellenden Charakters aufs lebhafteste empfin¬
den, und die einzelnen Momente seiner Darstellung werden mit instinct-
artiger Consequenz sich mit allem Detail wie von selbst in seiner Phantasie
entwickeln. Eine solche geniale Naturkraft, die größte, welche Deutschland
gehabt hat, war Schröder, in beschränkterer Weise mit vielen Unarten
Fleck, zuletzt Ludwig Devrient. Die großen Rollen solcher Künstler haben
den Vorzug, eine dämonische Wirkung auf den Zuschauer auszuüben, sie
sind aus einem Guß, bei allen UnVollkommenheiten im Einzelnen etwas
Großes und Fertiges. Aber nur selten erscheint die productive Kraft in der
Seele eines darstellenden Künstlers so mächtig, daß sie ihn selbst unwider¬
stehlich zwingt und alle Momente seiner Darstellung erfüllt, bei den meisten
großen Talenten unsrer Künstlerwelt springt diese schöpferische Kraft nur in
einzelnen Momenten beim Studium der Rolle so mächtig hervor, daß sie Ton,
Haltung, Geberde, alle Einzelheiten des Spiels wie eine Anschauung in die
Seele des Künstlers aufblitzen macht. Viele Scenen werden erst durch Nach¬
denken mit diesen gefundenen Momenten in Verbindung gebracht, die schöpferische
Kraft fchW da nich! mehr aus dem Vollen, sonvern sie arbeitet leise, mit Unter¬
brechung«, sie will unterstützt sein durch jede andere Art von geistiger Arbeit,
und in manchen Momenten bleibt sie vielleicht ganz weg, und die banale
Spielphrase tritt störend als Lückenbüßer in die Erfindung. An solchen
Talenten schätzen wir nächst dem Reichthum ihrer Technik die Treue und
Sorgfalt, mit welcher sie in die Empfindung des Dichters sich hineinzuleben
suchen, und wir sind bei ihnen vorzugsweise kritisch in der Wahl der Mittel,
durch welche sie ihre Wirkungen hervorbringen. Ein sehr interessantes Bei¬
spiel solches Talentes war Seydelmann. Langsam und schwer entwickelte sich
seine Kraft für das Detail der Rolle; ein sehr sorgfältiges und complicirtes
Studium war für ihn nötlug, um den darzustellenden Charakter sich so klar
zu machen, daß er ihn fassen konnte; alles war bei ihm vorher bedacht,
ängstlich abgewogen, oft mit peinlicher Genauigkeit zurechtgelegt. Mit großer
Pietät suchte er die Intentionen des Dichters auf, er vertiefte sich gern in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/516>, abgerufen am 28.09.2024.