Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

der Staatsstreich allerheiligsten Andenkens. Monatelang wird daran gezehrt
-- man schreibt, man beschreibt, man schreibt ab, man bejaht, man verneint,
jeder Tag hat seine Aufgabe -- jeder Tag seine Station, die man den Kaiser
vor- oder heimwärts machen laßt. Heute ist es Morny, morgen der Obrist Fleury,
übermorgen der Arzt der Kaiserin, die Ncihterinn, der Schneider, der Kutscher,
die man zu Zeugen anruft, für oder wider; die romantischen Correspondenten
begnügen sich mit so prosaischen Behelfe nicht, sie erzählen uns von Wallfahrten
in^ gelobte Land, welche die junge Kaiserin zu Fuß unternehmen will, während
der Kaiser Sebastopol erobert. -- So werben Erde und Himmel eingenommen,
um den Journalen ihr tägliches Brot zu verschaffen. Fragen Sie aber, wer
etwas Gewisses kenne vom Plane des Kaisers, der lacht Sie aus, wenn er
ehrlich ist. Niemand weiß es, nur darin sind alle einig, die Napoleon III.
kennen, wenn er wirklich die ernste Absicht je gehegt hat, die Reise zu unter¬
nehmen, dann wird er sie ausführen und müßten hundert Kongresse darüber
den Hals brechen. Für Ihren Berichterstatter ist nur der eine Umstand ma߬
gebend: man spricht soviel und so oft von dieser Reise, wie vom Staats¬
streiche, es werden dieselben Manöver dabei gebraucht--es wird mit denselben
Waffen dafür und dagegen gekämpft.

Wir sind übrigens schon so abgestumpft gegen alle Eindrücke, die nicht
wie der Blitz auf uns einschlagen, daß Paris durch nichts mehr seine alltäg¬
liche Physiognomie zu verlieren im Stande ist.

Wir sind wie im Aetherschlaf versunken, wir wissen beiläufig, was um uns
her vorgeht, aber wir rühren uns nicht -- es müßte denn Börsestunde sein.

Mademoiselle Doudet und ihre enthusiastischen Verehrer von jenseits des
Kanals, diese Laffarge im kleinen Maßstabe -- Berryers akademisches Ballspiel
mit Herrn Salvandy -- die Memoiren von Veron, die Memoiren von Dupin,
die erwarteten Memoiren von Guizot, Barnums Lebenslauf, Nikolaus Absterben,
eine angebliche Revolution in Spanien, das Bombardement von Sebastopol, die
Conferenzen in Wien, Friede, Krieg, Weltausstellung -- Kunstausstellung, es
ist uns alles gleich: der Pariser flanirt oder verarbeitet diese großen Welt¬
ereignisse zu kleinen netten Causerien, der Spießbürger trinkt sein Bier -- ver¬
nimm das neue Wunder der Assimilation, blondes Deutschland -- und spielt
Domino, der Boursier spielt den Dominus des Jahrhunderts, die Lorette die
Dominante und Fräulein Rachel ihre Abschiedskomödien fort, als ob gar nichts
vorgefallen wäre. Alles spielt sein altes Spiel, sogar die Pianisten thun, als
ob sie jemand anhörte, die Recensenten, als. ob sie jemand läse. Man ist
wahrhaftig in Verlegenheit, soll man es sagen, für wen eigentlich die Welt¬
geschichte gemacht wird.

Der Carneval hat am meisten gelitten unter den politischen Ereignissen,
die Debardeurs sind um öO Procent im Preise gehn."teil und im bu<mi' ssras


der Staatsstreich allerheiligsten Andenkens. Monatelang wird daran gezehrt
— man schreibt, man beschreibt, man schreibt ab, man bejaht, man verneint,
jeder Tag hat seine Aufgabe — jeder Tag seine Station, die man den Kaiser
vor- oder heimwärts machen laßt. Heute ist es Morny, morgen der Obrist Fleury,
übermorgen der Arzt der Kaiserin, die Ncihterinn, der Schneider, der Kutscher,
die man zu Zeugen anruft, für oder wider; die romantischen Correspondenten
begnügen sich mit so prosaischen Behelfe nicht, sie erzählen uns von Wallfahrten
in^ gelobte Land, welche die junge Kaiserin zu Fuß unternehmen will, während
der Kaiser Sebastopol erobert. — So werben Erde und Himmel eingenommen,
um den Journalen ihr tägliches Brot zu verschaffen. Fragen Sie aber, wer
etwas Gewisses kenne vom Plane des Kaisers, der lacht Sie aus, wenn er
ehrlich ist. Niemand weiß es, nur darin sind alle einig, die Napoleon III.
kennen, wenn er wirklich die ernste Absicht je gehegt hat, die Reise zu unter¬
nehmen, dann wird er sie ausführen und müßten hundert Kongresse darüber
den Hals brechen. Für Ihren Berichterstatter ist nur der eine Umstand ma߬
gebend: man spricht soviel und so oft von dieser Reise, wie vom Staats¬
streiche, es werden dieselben Manöver dabei gebraucht—es wird mit denselben
Waffen dafür und dagegen gekämpft.

Wir sind übrigens schon so abgestumpft gegen alle Eindrücke, die nicht
wie der Blitz auf uns einschlagen, daß Paris durch nichts mehr seine alltäg¬
liche Physiognomie zu verlieren im Stande ist.

Wir sind wie im Aetherschlaf versunken, wir wissen beiläufig, was um uns
her vorgeht, aber wir rühren uns nicht — es müßte denn Börsestunde sein.

Mademoiselle Doudet und ihre enthusiastischen Verehrer von jenseits des
Kanals, diese Laffarge im kleinen Maßstabe — Berryers akademisches Ballspiel
mit Herrn Salvandy — die Memoiren von Veron, die Memoiren von Dupin,
die erwarteten Memoiren von Guizot, Barnums Lebenslauf, Nikolaus Absterben,
eine angebliche Revolution in Spanien, das Bombardement von Sebastopol, die
Conferenzen in Wien, Friede, Krieg, Weltausstellung — Kunstausstellung, es
ist uns alles gleich: der Pariser flanirt oder verarbeitet diese großen Welt¬
ereignisse zu kleinen netten Causerien, der Spießbürger trinkt sein Bier — ver¬
nimm das neue Wunder der Assimilation, blondes Deutschland — und spielt
Domino, der Boursier spielt den Dominus des Jahrhunderts, die Lorette die
Dominante und Fräulein Rachel ihre Abschiedskomödien fort, als ob gar nichts
vorgefallen wäre. Alles spielt sein altes Spiel, sogar die Pianisten thun, als
ob sie jemand anhörte, die Recensenten, als. ob sie jemand läse. Man ist
wahrhaftig in Verlegenheit, soll man es sagen, für wen eigentlich die Welt¬
geschichte gemacht wird.

Der Carneval hat am meisten gelitten unter den politischen Ereignissen,
die Debardeurs sind um öO Procent im Preise gehn.»teil und im bu<mi' ssras


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0512" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99364"/>
          <p xml:id="ID_1793" prev="#ID_1792"> der Staatsstreich allerheiligsten Andenkens. Monatelang wird daran gezehrt<lb/>
&#x2014; man schreibt, man beschreibt, man schreibt ab, man bejaht, man verneint,<lb/>
jeder Tag hat seine Aufgabe &#x2014; jeder Tag seine Station, die man den Kaiser<lb/>
vor- oder heimwärts machen laßt. Heute ist es Morny, morgen der Obrist Fleury,<lb/>
übermorgen der Arzt der Kaiserin, die Ncihterinn, der Schneider, der Kutscher,<lb/>
die man zu Zeugen anruft, für oder wider; die romantischen Correspondenten<lb/>
begnügen sich mit so prosaischen Behelfe nicht, sie erzählen uns von Wallfahrten<lb/>
in^ gelobte Land, welche die junge Kaiserin zu Fuß unternehmen will, während<lb/>
der Kaiser Sebastopol erobert. &#x2014; So werben Erde und Himmel eingenommen,<lb/>
um den Journalen ihr tägliches Brot zu verschaffen. Fragen Sie aber, wer<lb/>
etwas Gewisses kenne vom Plane des Kaisers, der lacht Sie aus, wenn er<lb/>
ehrlich ist. Niemand weiß es, nur darin sind alle einig, die Napoleon III.<lb/>
kennen, wenn er wirklich die ernste Absicht je gehegt hat, die Reise zu unter¬<lb/>
nehmen, dann wird er sie ausführen und müßten hundert Kongresse darüber<lb/>
den Hals brechen. Für Ihren Berichterstatter ist nur der eine Umstand ma߬<lb/>
gebend: man spricht soviel und so oft von dieser Reise, wie vom Staats¬<lb/>
streiche, es werden dieselben Manöver dabei gebraucht&#x2014;es wird mit denselben<lb/>
Waffen dafür und dagegen gekämpft.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1794"> Wir sind übrigens schon so abgestumpft gegen alle Eindrücke, die nicht<lb/>
wie der Blitz auf uns einschlagen, daß Paris durch nichts mehr seine alltäg¬<lb/>
liche Physiognomie zu verlieren im Stande ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1795"> Wir sind wie im Aetherschlaf versunken, wir wissen beiläufig, was um uns<lb/>
her vorgeht, aber wir rühren uns nicht &#x2014; es müßte denn Börsestunde sein.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1796"> Mademoiselle Doudet und ihre enthusiastischen Verehrer von jenseits des<lb/>
Kanals, diese Laffarge im kleinen Maßstabe &#x2014; Berryers akademisches Ballspiel<lb/>
mit Herrn Salvandy &#x2014; die Memoiren von Veron, die Memoiren von Dupin,<lb/>
die erwarteten Memoiren von Guizot, Barnums Lebenslauf, Nikolaus Absterben,<lb/>
eine angebliche Revolution in Spanien, das Bombardement von Sebastopol, die<lb/>
Conferenzen in Wien, Friede, Krieg, Weltausstellung &#x2014; Kunstausstellung, es<lb/>
ist uns alles gleich: der Pariser flanirt oder verarbeitet diese großen Welt¬<lb/>
ereignisse zu kleinen netten Causerien, der Spießbürger trinkt sein Bier &#x2014; ver¬<lb/>
nimm das neue Wunder der Assimilation, blondes Deutschland &#x2014; und spielt<lb/>
Domino, der Boursier spielt den Dominus des Jahrhunderts, die Lorette die<lb/>
Dominante und Fräulein Rachel ihre Abschiedskomödien fort, als ob gar nichts<lb/>
vorgefallen wäre. Alles spielt sein altes Spiel, sogar die Pianisten thun, als<lb/>
ob sie jemand anhörte, die Recensenten, als. ob sie jemand läse. Man ist<lb/>
wahrhaftig in Verlegenheit, soll man es sagen, für wen eigentlich die Welt¬<lb/>
geschichte gemacht wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1797" next="#ID_1798"> Der Carneval hat am meisten gelitten unter den politischen Ereignissen,<lb/>
die Debardeurs sind um öO Procent im Preise gehn.»teil und im bu&lt;mi' ssras</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0512] der Staatsstreich allerheiligsten Andenkens. Monatelang wird daran gezehrt — man schreibt, man beschreibt, man schreibt ab, man bejaht, man verneint, jeder Tag hat seine Aufgabe — jeder Tag seine Station, die man den Kaiser vor- oder heimwärts machen laßt. Heute ist es Morny, morgen der Obrist Fleury, übermorgen der Arzt der Kaiserin, die Ncihterinn, der Schneider, der Kutscher, die man zu Zeugen anruft, für oder wider; die romantischen Correspondenten begnügen sich mit so prosaischen Behelfe nicht, sie erzählen uns von Wallfahrten in^ gelobte Land, welche die junge Kaiserin zu Fuß unternehmen will, während der Kaiser Sebastopol erobert. — So werben Erde und Himmel eingenommen, um den Journalen ihr tägliches Brot zu verschaffen. Fragen Sie aber, wer etwas Gewisses kenne vom Plane des Kaisers, der lacht Sie aus, wenn er ehrlich ist. Niemand weiß es, nur darin sind alle einig, die Napoleon III. kennen, wenn er wirklich die ernste Absicht je gehegt hat, die Reise zu unter¬ nehmen, dann wird er sie ausführen und müßten hundert Kongresse darüber den Hals brechen. Für Ihren Berichterstatter ist nur der eine Umstand ma߬ gebend: man spricht soviel und so oft von dieser Reise, wie vom Staats¬ streiche, es werden dieselben Manöver dabei gebraucht—es wird mit denselben Waffen dafür und dagegen gekämpft. Wir sind übrigens schon so abgestumpft gegen alle Eindrücke, die nicht wie der Blitz auf uns einschlagen, daß Paris durch nichts mehr seine alltäg¬ liche Physiognomie zu verlieren im Stande ist. Wir sind wie im Aetherschlaf versunken, wir wissen beiläufig, was um uns her vorgeht, aber wir rühren uns nicht — es müßte denn Börsestunde sein. Mademoiselle Doudet und ihre enthusiastischen Verehrer von jenseits des Kanals, diese Laffarge im kleinen Maßstabe — Berryers akademisches Ballspiel mit Herrn Salvandy — die Memoiren von Veron, die Memoiren von Dupin, die erwarteten Memoiren von Guizot, Barnums Lebenslauf, Nikolaus Absterben, eine angebliche Revolution in Spanien, das Bombardement von Sebastopol, die Conferenzen in Wien, Friede, Krieg, Weltausstellung — Kunstausstellung, es ist uns alles gleich: der Pariser flanirt oder verarbeitet diese großen Welt¬ ereignisse zu kleinen netten Causerien, der Spießbürger trinkt sein Bier — ver¬ nimm das neue Wunder der Assimilation, blondes Deutschland — und spielt Domino, der Boursier spielt den Dominus des Jahrhunderts, die Lorette die Dominante und Fräulein Rachel ihre Abschiedskomödien fort, als ob gar nichts vorgefallen wäre. Alles spielt sein altes Spiel, sogar die Pianisten thun, als ob sie jemand anhörte, die Recensenten, als. ob sie jemand läse. Man ist wahrhaftig in Verlegenheit, soll man es sagen, für wen eigentlich die Welt¬ geschichte gemacht wird. Der Carneval hat am meisten gelitten unter den politischen Ereignissen, die Debardeurs sind um öO Procent im Preise gehn.»teil und im bu<mi' ssras

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/512
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/512>, abgerufen am 29.06.2024.