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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Herr, unerforschlich sind deine Wege!? Dies ist allerdings eine zugeknöpfte
Politik, bei der uns auch die allergewöhnlichsten Begriffe im Stich lassen.

Legen wir das Schriftstück beiseite mit den sämmtlichen Citaten aus Klüber
u. s, w> und betrachten wir die einfache Sachlage.

Preußen ist unzweifelhaft ein souveräner Staat und hat das Recht, in
dem Krieg der Verbündeten gegen Rußland sich für die ersteren oder für das
letztere zu entscheiden, oder auch sich für neutral zu erklären. Dieses Recht
kann ihm keine Macht bestreiten.

Ihrerseits haben die Verbündeten ebenso das Recht, von den Friedens¬
verhandlungen, die sie mit Rußland anstellen, Preußen auszuschließen, wie ja
im Jahre -1840 in der damaligen orientalischen Verwirrung Frankreich ausge¬
schlossen wurde. Die Verbündeten stellen den sehr natürlichen Grundsatz auf:
die nicht anthaten, sollen auch nicht anrathen.

Zweitens haben die Verbündeten unzweifelhaft das Recht, die preußische
Neutralitätserklärung zu respectiren oder nicht. Nach völkerrechtlichen Bestim¬
mungen ist nur der Schweiz und Belgien die Neutralität garantirt, solange sie
ihrerseits die Neutralität nicht verletzten. Es gibt keine völkerrechtliche Bestim¬
mung, welche in einem Krieg zwischen West- und Osteuropa dem dazwischen¬
liegenden Preußen die Neutralität garantirte. Es wird sich also hier blos
darum handeln, was die drei verbündeten Mächte, wenn der Krieg in der That
ausbricht, in ihrem Interesse sür Wünschenswerther halten werden: die Neutra¬
lität Preußens oder den Krieg gegen Preußen.

Bei England könnte die Frage zweifelhaft sein. Eine Vergrößerung Frank¬
reichs und eine Schwächung Preußens kann nicht im Interesse Englands liegen.
Aus der andern Weise ist aber England auf eine Weise in den Krieg engagirt,
daß es kaum mehr zurücktreten kann. Daß in der Krim der Krieg gegen Nu߬
land nicht zu entscheiden ist, davon sind die Staatsmänner Großbritanniens
jetzt wol überzeugt. Wenn sie also den Zweck wollen, werden sie auch die
Mittel billigen müssen. Es kommt noch ein zweiter Umstand dazu. Die
öffentliche Meinung ist nicht überall eine Macht, in England ist'sie es aber,
und wie sich jetzt die öffentliche Meinung in England zu Preußen stellt, davon
kann man sich aus jedem beliebigen Tageblatt unterrichten. Mit tiefem Schmerz
sprechen wir es aus, nicht blos weil wir selbst Preußen sind, sondern weil uns
der preußische Staat als einer der mächtigsten Hebel der Culturentwicklung er¬
scheint: die preußische Politik wird in London im Jahre 1855 grade so geachtet,
als es im Jahre -I80L geschah.

Was Frankreich betrifft, so kann niemand zweifelhaft sein. Ein Krieg
gegen Rußland kann Frankreich keinen realen Gewinn bringen, es führt ihn
nur um der Ehre willen. Ein Krieg gegen Preußen dagegen zur Eroberung
der Rheinprovinz würde die ganze französische Nation elektrisiren. Wenn der


Herr, unerforschlich sind deine Wege!? Dies ist allerdings eine zugeknöpfte
Politik, bei der uns auch die allergewöhnlichsten Begriffe im Stich lassen.

Legen wir das Schriftstück beiseite mit den sämmtlichen Citaten aus Klüber
u. s, w> und betrachten wir die einfache Sachlage.

Preußen ist unzweifelhaft ein souveräner Staat und hat das Recht, in
dem Krieg der Verbündeten gegen Rußland sich für die ersteren oder für das
letztere zu entscheiden, oder auch sich für neutral zu erklären. Dieses Recht
kann ihm keine Macht bestreiten.

Ihrerseits haben die Verbündeten ebenso das Recht, von den Friedens¬
verhandlungen, die sie mit Rußland anstellen, Preußen auszuschließen, wie ja
im Jahre -1840 in der damaligen orientalischen Verwirrung Frankreich ausge¬
schlossen wurde. Die Verbündeten stellen den sehr natürlichen Grundsatz auf:
die nicht anthaten, sollen auch nicht anrathen.

Zweitens haben die Verbündeten unzweifelhaft das Recht, die preußische
Neutralitätserklärung zu respectiren oder nicht. Nach völkerrechtlichen Bestim¬
mungen ist nur der Schweiz und Belgien die Neutralität garantirt, solange sie
ihrerseits die Neutralität nicht verletzten. Es gibt keine völkerrechtliche Bestim¬
mung, welche in einem Krieg zwischen West- und Osteuropa dem dazwischen¬
liegenden Preußen die Neutralität garantirte. Es wird sich also hier blos
darum handeln, was die drei verbündeten Mächte, wenn der Krieg in der That
ausbricht, in ihrem Interesse sür Wünschenswerther halten werden: die Neutra¬
lität Preußens oder den Krieg gegen Preußen.

Bei England könnte die Frage zweifelhaft sein. Eine Vergrößerung Frank¬
reichs und eine Schwächung Preußens kann nicht im Interesse Englands liegen.
Aus der andern Weise ist aber England auf eine Weise in den Krieg engagirt,
daß es kaum mehr zurücktreten kann. Daß in der Krim der Krieg gegen Nu߬
land nicht zu entscheiden ist, davon sind die Staatsmänner Großbritanniens
jetzt wol überzeugt. Wenn sie also den Zweck wollen, werden sie auch die
Mittel billigen müssen. Es kommt noch ein zweiter Umstand dazu. Die
öffentliche Meinung ist nicht überall eine Macht, in England ist'sie es aber,
und wie sich jetzt die öffentliche Meinung in England zu Preußen stellt, davon
kann man sich aus jedem beliebigen Tageblatt unterrichten. Mit tiefem Schmerz
sprechen wir es aus, nicht blos weil wir selbst Preußen sind, sondern weil uns
der preußische Staat als einer der mächtigsten Hebel der Culturentwicklung er¬
scheint: die preußische Politik wird in London im Jahre 1855 grade so geachtet,
als es im Jahre -I80L geschah.

Was Frankreich betrifft, so kann niemand zweifelhaft sein. Ein Krieg
gegen Rußland kann Frankreich keinen realen Gewinn bringen, es führt ihn
nur um der Ehre willen. Ein Krieg gegen Preußen dagegen zur Eroberung
der Rheinprovinz würde die ganze französische Nation elektrisiren. Wenn der


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[0492] Herr, unerforschlich sind deine Wege!? Dies ist allerdings eine zugeknöpfte Politik, bei der uns auch die allergewöhnlichsten Begriffe im Stich lassen. Legen wir das Schriftstück beiseite mit den sämmtlichen Citaten aus Klüber u. s, w> und betrachten wir die einfache Sachlage. Preußen ist unzweifelhaft ein souveräner Staat und hat das Recht, in dem Krieg der Verbündeten gegen Rußland sich für die ersteren oder für das letztere zu entscheiden, oder auch sich für neutral zu erklären. Dieses Recht kann ihm keine Macht bestreiten. Ihrerseits haben die Verbündeten ebenso das Recht, von den Friedens¬ verhandlungen, die sie mit Rußland anstellen, Preußen auszuschließen, wie ja im Jahre -1840 in der damaligen orientalischen Verwirrung Frankreich ausge¬ schlossen wurde. Die Verbündeten stellen den sehr natürlichen Grundsatz auf: die nicht anthaten, sollen auch nicht anrathen. Zweitens haben die Verbündeten unzweifelhaft das Recht, die preußische Neutralitätserklärung zu respectiren oder nicht. Nach völkerrechtlichen Bestim¬ mungen ist nur der Schweiz und Belgien die Neutralität garantirt, solange sie ihrerseits die Neutralität nicht verletzten. Es gibt keine völkerrechtliche Bestim¬ mung, welche in einem Krieg zwischen West- und Osteuropa dem dazwischen¬ liegenden Preußen die Neutralität garantirte. Es wird sich also hier blos darum handeln, was die drei verbündeten Mächte, wenn der Krieg in der That ausbricht, in ihrem Interesse sür Wünschenswerther halten werden: die Neutra¬ lität Preußens oder den Krieg gegen Preußen. Bei England könnte die Frage zweifelhaft sein. Eine Vergrößerung Frank¬ reichs und eine Schwächung Preußens kann nicht im Interesse Englands liegen. Aus der andern Weise ist aber England auf eine Weise in den Krieg engagirt, daß es kaum mehr zurücktreten kann. Daß in der Krim der Krieg gegen Nu߬ land nicht zu entscheiden ist, davon sind die Staatsmänner Großbritanniens jetzt wol überzeugt. Wenn sie also den Zweck wollen, werden sie auch die Mittel billigen müssen. Es kommt noch ein zweiter Umstand dazu. Die öffentliche Meinung ist nicht überall eine Macht, in England ist'sie es aber, und wie sich jetzt die öffentliche Meinung in England zu Preußen stellt, davon kann man sich aus jedem beliebigen Tageblatt unterrichten. Mit tiefem Schmerz sprechen wir es aus, nicht blos weil wir selbst Preußen sind, sondern weil uns der preußische Staat als einer der mächtigsten Hebel der Culturentwicklung er¬ scheint: die preußische Politik wird in London im Jahre 1855 grade so geachtet, als es im Jahre -I80L geschah. Was Frankreich betrifft, so kann niemand zweifelhaft sein. Ein Krieg gegen Rußland kann Frankreich keinen realen Gewinn bringen, es führt ihn nur um der Ehre willen. Ein Krieg gegen Preußen dagegen zur Eroberung der Rheinprovinz würde die ganze französische Nation elektrisiren. Wenn der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/492>, abgerufen am 29.06.2024.