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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Adele, Roman von Fanny Lewald.

Mit der sittlichen Tendenz dieses Romans sind wir im höchsten Grade
einverstanden; es ist dieselbe, die wir seit Jahren in unsrer Kritik vertreten.
Seit dem Wiederaufblühen unsrer Dichtung nämlich, und namentlich seit der
romantischen Schule, hat sich zunächst bei den Talenten, die sich zur Poesie für
berufen hielten, .weil sie poetische Empfänglichkeit besaßen, dann aber bei der
Masse des Publicums, welches sich mit belletristischer Lectüre beschäftigt, eine
Ansicht über das Verhältniß der Poesie zum Leben gebildet, welche durchaus
falsch, unsittlich und verwerflich ist und unser öffentliches Leben ans ebenso be¬
denkliche Abwege geleitet hat, als unsre Kunst. Man hat nämlich das geniale
poetische Denken und Empfinden als ein vom sittlichen Denken und Empfinden
durchaus getrenntes darstellen wollen; man hat für den Dichter eine andre
Moral ausfindig gemacht, als für den gewöhnlichen Menschen; man hat dem
Grundsatz gehuldigt, über dessen frevelhafte Absurdität spätere Jahrhunderte
.erstaunen werden: daß das Leben ein Stoff für die Kunst sei, und daß man,
um neue Stoffe und Formen für die Kunst zu gewinnen, mit dem Leben und
seinen Gesetzen willkürlich umspringen könne. Fanny Lewald hat die Unwür-
digke.it dieses Grundsatzes lebhaft empfunden und nachzujveisen gesucht, daß diese
Welt zunächst eine Welt der Pflichten sei, und daß der Dichter, der ausschlie߬
lich nach virtuosen Empfindungen strebe und die Läuterung derselben durch die
ernste Stimme des Gewissens verschmähe, nicht blos ein schlechter Mensch,
sondern auch ein schlechter Dichter werde. Die Heldin des Romans, Adele,
ein verzogenes und verbildetes Kind, bildet sich ein, die Muse eines gefeierten
Tagesdichters zu werden, gewissermaßen eine zweite Bettina. Aus dieser thö¬
richten Maskerade ergeben sich nun eine Reihe von Unwahrheiten, sehr fein
und scharfsinnig aufgespürt und mit Ernst dargestellt. Das Porträt des Dich¬
ters ist ein Typus, dem man in unsern Tagen nicht selten begegnen wird.

Hellwig war einer der rührigsten Schriftsteller jener Zeit. Die kecke, pole¬
mische Weise, mit der er, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, gegen die letzten,
noch lebenden Heroen der classischen Epoche aufgetreten, und die vorübergehende
Verfolgung, welche seine Werke in einigen deutschen Staaten erlitten, hatten
ihm schnell einen Namen gemacht, den seine damaligen Leistungen kaum zu er¬
klären vermochten. Später, als er reifer geworden, Bedeutendes in der Kritik
zu leisten fähig gewesen wäre, hatte er sich der Dichtkunst zugewendet und
damit den Boden verlassen, ans dem allein er sich mit Vortheil zu bewegen
vermochte. Unfähig Gestalten zu erzeugen, an deren zwingender Bestimmtheit
jede Willkür des Dichters erlahmt, stand er schon während des Schaffens seinen
eignen Arbeiten kritisch gegenüber, und immer getheilt zwischen den unklare"
Aufwallungen seiner Phantasie und der Schärfe seines zergliedernden Ver-


Adele, Roman von Fanny Lewald.

Mit der sittlichen Tendenz dieses Romans sind wir im höchsten Grade
einverstanden; es ist dieselbe, die wir seit Jahren in unsrer Kritik vertreten.
Seit dem Wiederaufblühen unsrer Dichtung nämlich, und namentlich seit der
romantischen Schule, hat sich zunächst bei den Talenten, die sich zur Poesie für
berufen hielten, .weil sie poetische Empfänglichkeit besaßen, dann aber bei der
Masse des Publicums, welches sich mit belletristischer Lectüre beschäftigt, eine
Ansicht über das Verhältniß der Poesie zum Leben gebildet, welche durchaus
falsch, unsittlich und verwerflich ist und unser öffentliches Leben ans ebenso be¬
denkliche Abwege geleitet hat, als unsre Kunst. Man hat nämlich das geniale
poetische Denken und Empfinden als ein vom sittlichen Denken und Empfinden
durchaus getrenntes darstellen wollen; man hat für den Dichter eine andre
Moral ausfindig gemacht, als für den gewöhnlichen Menschen; man hat dem
Grundsatz gehuldigt, über dessen frevelhafte Absurdität spätere Jahrhunderte
.erstaunen werden: daß das Leben ein Stoff für die Kunst sei, und daß man,
um neue Stoffe und Formen für die Kunst zu gewinnen, mit dem Leben und
seinen Gesetzen willkürlich umspringen könne. Fanny Lewald hat die Unwür-
digke.it dieses Grundsatzes lebhaft empfunden und nachzujveisen gesucht, daß diese
Welt zunächst eine Welt der Pflichten sei, und daß der Dichter, der ausschlie߬
lich nach virtuosen Empfindungen strebe und die Läuterung derselben durch die
ernste Stimme des Gewissens verschmähe, nicht blos ein schlechter Mensch,
sondern auch ein schlechter Dichter werde. Die Heldin des Romans, Adele,
ein verzogenes und verbildetes Kind, bildet sich ein, die Muse eines gefeierten
Tagesdichters zu werden, gewissermaßen eine zweite Bettina. Aus dieser thö¬
richten Maskerade ergeben sich nun eine Reihe von Unwahrheiten, sehr fein
und scharfsinnig aufgespürt und mit Ernst dargestellt. Das Porträt des Dich¬
ters ist ein Typus, dem man in unsern Tagen nicht selten begegnen wird.

Hellwig war einer der rührigsten Schriftsteller jener Zeit. Die kecke, pole¬
mische Weise, mit der er, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, gegen die letzten,
noch lebenden Heroen der classischen Epoche aufgetreten, und die vorübergehende
Verfolgung, welche seine Werke in einigen deutschen Staaten erlitten, hatten
ihm schnell einen Namen gemacht, den seine damaligen Leistungen kaum zu er¬
klären vermochten. Später, als er reifer geworden, Bedeutendes in der Kritik
zu leisten fähig gewesen wäre, hatte er sich der Dichtkunst zugewendet und
damit den Boden verlassen, ans dem allein er sich mit Vortheil zu bewegen
vermochte. Unfähig Gestalten zu erzeugen, an deren zwingender Bestimmtheit
jede Willkür des Dichters erlahmt, stand er schon während des Schaffens seinen
eignen Arbeiten kritisch gegenüber, und immer getheilt zwischen den unklare»
Aufwallungen seiner Phantasie und der Schärfe seines zergliedernden Ver-


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[0470] Adele, Roman von Fanny Lewald. Mit der sittlichen Tendenz dieses Romans sind wir im höchsten Grade einverstanden; es ist dieselbe, die wir seit Jahren in unsrer Kritik vertreten. Seit dem Wiederaufblühen unsrer Dichtung nämlich, und namentlich seit der romantischen Schule, hat sich zunächst bei den Talenten, die sich zur Poesie für berufen hielten, .weil sie poetische Empfänglichkeit besaßen, dann aber bei der Masse des Publicums, welches sich mit belletristischer Lectüre beschäftigt, eine Ansicht über das Verhältniß der Poesie zum Leben gebildet, welche durchaus falsch, unsittlich und verwerflich ist und unser öffentliches Leben ans ebenso be¬ denkliche Abwege geleitet hat, als unsre Kunst. Man hat nämlich das geniale poetische Denken und Empfinden als ein vom sittlichen Denken und Empfinden durchaus getrenntes darstellen wollen; man hat für den Dichter eine andre Moral ausfindig gemacht, als für den gewöhnlichen Menschen; man hat dem Grundsatz gehuldigt, über dessen frevelhafte Absurdität spätere Jahrhunderte .erstaunen werden: daß das Leben ein Stoff für die Kunst sei, und daß man, um neue Stoffe und Formen für die Kunst zu gewinnen, mit dem Leben und seinen Gesetzen willkürlich umspringen könne. Fanny Lewald hat die Unwür- digke.it dieses Grundsatzes lebhaft empfunden und nachzujveisen gesucht, daß diese Welt zunächst eine Welt der Pflichten sei, und daß der Dichter, der ausschlie߬ lich nach virtuosen Empfindungen strebe und die Läuterung derselben durch die ernste Stimme des Gewissens verschmähe, nicht blos ein schlechter Mensch, sondern auch ein schlechter Dichter werde. Die Heldin des Romans, Adele, ein verzogenes und verbildetes Kind, bildet sich ein, die Muse eines gefeierten Tagesdichters zu werden, gewissermaßen eine zweite Bettina. Aus dieser thö¬ richten Maskerade ergeben sich nun eine Reihe von Unwahrheiten, sehr fein und scharfsinnig aufgespürt und mit Ernst dargestellt. Das Porträt des Dich¬ ters ist ein Typus, dem man in unsern Tagen nicht selten begegnen wird. Hellwig war einer der rührigsten Schriftsteller jener Zeit. Die kecke, pole¬ mische Weise, mit der er, kaum dem Jünglingsalter entwachsen, gegen die letzten, noch lebenden Heroen der classischen Epoche aufgetreten, und die vorübergehende Verfolgung, welche seine Werke in einigen deutschen Staaten erlitten, hatten ihm schnell einen Namen gemacht, den seine damaligen Leistungen kaum zu er¬ klären vermochten. Später, als er reifer geworden, Bedeutendes in der Kritik zu leisten fähig gewesen wäre, hatte er sich der Dichtkunst zugewendet und damit den Boden verlassen, ans dem allein er sich mit Vortheil zu bewegen vermochte. Unfähig Gestalten zu erzeugen, an deren zwingender Bestimmtheit jede Willkür des Dichters erlahmt, stand er schon während des Schaffens seinen eignen Arbeiten kritisch gegenüber, und immer getheilt zwischen den unklare» Aufwallungen seiner Phantasie und der Schärfe seines zergliedernden Ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/470>, abgerufen am 29.06.2024.