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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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wegen gezwungen werden, wenn er früher noch niemals in Untersuchung
gewesen ist, zehn Seiten aus diesem Commentar auswendig zu lernen; sollte
er sich aber aus demselben Vergehen wieder betreten lassen, so sollen ihm
zwanzig Seiten aufgegeben werden, die Anmerkungen mit eingerechnet; eine
weitere Steigerung der Strafe halten wir für überflüssig, denn er wird gewiß
lieber alle seine Federn zerstampfen, ehe er sich zu einer neuen Invective herbei¬
äßt, lieber "gewarnt, die Gerechtigkeit zu ehren und die Götter zu scheuen." --


Grabbes Leben und Charakter von Karl Ziegler. Hamburg, Hoff¬
mann Le Como. --

Das Buch macht einen sehr trüben Eindruck, aber es ist eine heilsame Lectüre
für alle angehenden Genies. Die Idee einer exceptionellen Stellung deS
Dichters entwickelt sich in keinem bestimmten Beispiel so deutlich in ihrer
ganzen Krankhaftigkeit, als in dem Leben Grabbes. Der Herausgeber über¬
schätzt zwar das poetische Talent seines verstorbenen Freundes, aber seine Be¬
obachtung ist scharf und klar, seine Erzählung ehrlich und gewissenhaft.

Grabbe war 1801 zu Detmold geboren. Schon aus der Schule galt er
als ein kleines Genie und ein Lehrer, der überhaupt einen schädlichen Einfluß
auf ihn ausgeübt zu haben scheint, verglich einen seiner poetischen Versuche
mit Calderon und Shakespeare. Schon damals führte er ein excentrisches
Phantasieleben; schon damals kokettirte er mit seinen Empfindungen und
Handlungen; schon damals stürzte er sich in den Genuß geistiger Getränke,
weil er in ihm das Zeichen einer genialen Kraft sah.

1820 besuchte er die Universität Leipzig. In eine Studentenverbindung ein¬
zutreten war einem genialen Gemüth natürlich ebenso unmöglich, als ein zusam¬
menhängendes, folgerichtiges Studium zu treiben. Wenn jene Verbindungen in¬
sofern schädlich einwirken, als sie die Studenten zur Trägheit und Liederlichkeit
verleiten, so haben sie doch wieder namentlich auf ungeberdige, reizbare'Personen
einen wohlthätigen Einfluß, weil sie dieselben daran gewöhnen, sich als Glied
eines Ganzen zu fühlen und sich einer Disciplin zu umerwersen. Grabbe trieb
sich dagegen in Kaffeehäusern umher, stürmte auf seine Gesundheit los, ver¬
suchte sich in Tragödien und hatte hin und wieder die Absicht, Schauspieler
zu werden. Die beiden Stücke: " Gothland" und "Scherz, List, Ironie und
tiefere Bedeutung", die ihm einen lobenden Brief von Tieck einbrachten, wurden
in dieser Zeit geschrieben.

Ostern 1822 ging er nach Berlin, wo er in einen literarischen Kreis ein¬
trat (Heine, Uechtritz, Ludwig Robert u. s. w.), in, welchem die Genialität
durch ein verkehrtes Leben und eine verkehrte Lebensweise geflissentlich ausge¬
drückt wurde. Hier fühlte er sich nun unter Ebenbürtigen, seine Begabung
wurde anerkannt und er glaubte bald ein gemachter Mann zu sein. Er ver-


wegen gezwungen werden, wenn er früher noch niemals in Untersuchung
gewesen ist, zehn Seiten aus diesem Commentar auswendig zu lernen; sollte
er sich aber aus demselben Vergehen wieder betreten lassen, so sollen ihm
zwanzig Seiten aufgegeben werden, die Anmerkungen mit eingerechnet; eine
weitere Steigerung der Strafe halten wir für überflüssig, denn er wird gewiß
lieber alle seine Federn zerstampfen, ehe er sich zu einer neuen Invective herbei¬
äßt, lieber „gewarnt, die Gerechtigkeit zu ehren und die Götter zu scheuen." —


Grabbes Leben und Charakter von Karl Ziegler. Hamburg, Hoff¬
mann Le Como. —

Das Buch macht einen sehr trüben Eindruck, aber es ist eine heilsame Lectüre
für alle angehenden Genies. Die Idee einer exceptionellen Stellung deS
Dichters entwickelt sich in keinem bestimmten Beispiel so deutlich in ihrer
ganzen Krankhaftigkeit, als in dem Leben Grabbes. Der Herausgeber über¬
schätzt zwar das poetische Talent seines verstorbenen Freundes, aber seine Be¬
obachtung ist scharf und klar, seine Erzählung ehrlich und gewissenhaft.

Grabbe war 1801 zu Detmold geboren. Schon aus der Schule galt er
als ein kleines Genie und ein Lehrer, der überhaupt einen schädlichen Einfluß
auf ihn ausgeübt zu haben scheint, verglich einen seiner poetischen Versuche
mit Calderon und Shakespeare. Schon damals führte er ein excentrisches
Phantasieleben; schon damals kokettirte er mit seinen Empfindungen und
Handlungen; schon damals stürzte er sich in den Genuß geistiger Getränke,
weil er in ihm das Zeichen einer genialen Kraft sah.

1820 besuchte er die Universität Leipzig. In eine Studentenverbindung ein¬
zutreten war einem genialen Gemüth natürlich ebenso unmöglich, als ein zusam¬
menhängendes, folgerichtiges Studium zu treiben. Wenn jene Verbindungen in¬
sofern schädlich einwirken, als sie die Studenten zur Trägheit und Liederlichkeit
verleiten, so haben sie doch wieder namentlich auf ungeberdige, reizbare'Personen
einen wohlthätigen Einfluß, weil sie dieselben daran gewöhnen, sich als Glied
eines Ganzen zu fühlen und sich einer Disciplin zu umerwersen. Grabbe trieb
sich dagegen in Kaffeehäusern umher, stürmte auf seine Gesundheit los, ver¬
suchte sich in Tragödien und hatte hin und wieder die Absicht, Schauspieler
zu werden. Die beiden Stücke: „ Gothland" und „Scherz, List, Ironie und
tiefere Bedeutung", die ihm einen lobenden Brief von Tieck einbrachten, wurden
in dieser Zeit geschrieben.

Ostern 1822 ging er nach Berlin, wo er in einen literarischen Kreis ein¬
trat (Heine, Uechtritz, Ludwig Robert u. s. w.), in, welchem die Genialität
durch ein verkehrtes Leben und eine verkehrte Lebensweise geflissentlich ausge¬
drückt wurde. Hier fühlte er sich nun unter Ebenbürtigen, seine Begabung
wurde anerkannt und er glaubte bald ein gemachter Mann zu sein. Er ver-


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[0468] wegen gezwungen werden, wenn er früher noch niemals in Untersuchung gewesen ist, zehn Seiten aus diesem Commentar auswendig zu lernen; sollte er sich aber aus demselben Vergehen wieder betreten lassen, so sollen ihm zwanzig Seiten aufgegeben werden, die Anmerkungen mit eingerechnet; eine weitere Steigerung der Strafe halten wir für überflüssig, denn er wird gewiß lieber alle seine Federn zerstampfen, ehe er sich zu einer neuen Invective herbei¬ äßt, lieber „gewarnt, die Gerechtigkeit zu ehren und die Götter zu scheuen." — Grabbes Leben und Charakter von Karl Ziegler. Hamburg, Hoff¬ mann Le Como. — Das Buch macht einen sehr trüben Eindruck, aber es ist eine heilsame Lectüre für alle angehenden Genies. Die Idee einer exceptionellen Stellung deS Dichters entwickelt sich in keinem bestimmten Beispiel so deutlich in ihrer ganzen Krankhaftigkeit, als in dem Leben Grabbes. Der Herausgeber über¬ schätzt zwar das poetische Talent seines verstorbenen Freundes, aber seine Be¬ obachtung ist scharf und klar, seine Erzählung ehrlich und gewissenhaft. Grabbe war 1801 zu Detmold geboren. Schon aus der Schule galt er als ein kleines Genie und ein Lehrer, der überhaupt einen schädlichen Einfluß auf ihn ausgeübt zu haben scheint, verglich einen seiner poetischen Versuche mit Calderon und Shakespeare. Schon damals führte er ein excentrisches Phantasieleben; schon damals kokettirte er mit seinen Empfindungen und Handlungen; schon damals stürzte er sich in den Genuß geistiger Getränke, weil er in ihm das Zeichen einer genialen Kraft sah. 1820 besuchte er die Universität Leipzig. In eine Studentenverbindung ein¬ zutreten war einem genialen Gemüth natürlich ebenso unmöglich, als ein zusam¬ menhängendes, folgerichtiges Studium zu treiben. Wenn jene Verbindungen in¬ sofern schädlich einwirken, als sie die Studenten zur Trägheit und Liederlichkeit verleiten, so haben sie doch wieder namentlich auf ungeberdige, reizbare'Personen einen wohlthätigen Einfluß, weil sie dieselben daran gewöhnen, sich als Glied eines Ganzen zu fühlen und sich einer Disciplin zu umerwersen. Grabbe trieb sich dagegen in Kaffeehäusern umher, stürmte auf seine Gesundheit los, ver¬ suchte sich in Tragödien und hatte hin und wieder die Absicht, Schauspieler zu werden. Die beiden Stücke: „ Gothland" und „Scherz, List, Ironie und tiefere Bedeutung", die ihm einen lobenden Brief von Tieck einbrachten, wurden in dieser Zeit geschrieben. Ostern 1822 ging er nach Berlin, wo er in einen literarischen Kreis ein¬ trat (Heine, Uechtritz, Ludwig Robert u. s. w.), in, welchem die Genialität durch ein verkehrtes Leben und eine verkehrte Lebensweise geflissentlich ausge¬ drückt wurde. Hier fühlte er sich nun unter Ebenbürtigen, seine Begabung wurde anerkannt und er glaubte bald ein gemachter Mann zu sein. Er ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/468>, abgerufen am 29.06.2024.