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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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So waren Oestreich und Preußen dnrch die zartesten und durch die stärksten Fäden
zugleich "an Rußland geknüpft. Diese hat nun eine höhere Macht gewaltsam zer¬
rissen; Oestreich steht frei von persönlichen Verpflichtungen und kann ferner nur seine
selbständigen eignen Interessen, unbeirrt von gemüthlichen und traditionelle" Be¬
ziehungen, im Auge haben. Selbst im Verhältnisse unsres energischen Monarchen
zu dem neuen Souverän der nordischen Macht wird sich dies fühlbar machen. Die
Art. väterlicher Ueberordnung, zu welcher sich der Zeitgenosse und intimste Alliirte
Franz I. gegenüber dem jugendlichen Herrscher unsres Reiches für berechtigt hielt, ist
nun gebrochen. Mit voller Priorität, ja mit dem Bewußtsein schon vollbrachter
Thaten und in schweren Tagen geprüfter Einsicht tritt nun unser Monarch dem
russischen Thronerben entgegen, und wenn der freundschaftliche Rath Oestreichs
während der letzten Jahre in Petersburg in ironischer Weise abgelehnt wurde, so
dürste er sich jetzt mit um so größerm Nachdruck geltendmachcn können.

In dieser Weise wird in den weiter blickenden Kreisen unsrer Diplomatie das
große Ereigniß des Tages aufgefaßt und- die heilbringenden Folgen desselben für
die Gestaltung des Weltfriedens und der zukünftigen Machtstellung Oestreichs treten
bereits in den Vordergrund der Discussion.




Wissenschaft und Kunst.

Als eine der vortrefflichsten Leistungen von Berlinern Künstlern seit langer
Zeit muß ich Ihnen I. Schraders "Milton dictirt seinen Töchtern das Verlorne
Paradies" erwähnen. Es ist bekannt, daß Milton nach der Restauration von aller
politischen Thätigkeit entfernt in stiller Zurückgezogenheit aus einem entlegenen
Landsitz seine letzten Tage verbrachte. Hier dichtete er sein "Verlornes Paradies",
das er, im Alter erblindet, seinen Töchtern dictirte. So sehen wir ihn hier in
poetischer Erregung innerlich concipirte Worte gebend, welche die jüngste vor ihm
stehende Tochter an des Vaters Munde hangend niederschreibe. Weiter zurück
neben der jüngsten die älteste Tochter unter Folianten sitzend -- es war ihr Geschäft,
dem Vater ans diesem.oder jenem Buch die etwa,verlangten Stellen nachzuschlagen --
die dritte Tochter endlich, die durch Musik den ausruhenden Milton zu unterhalten
pflegte, hinter dem Vater, auf die Lehne seines Sessels gestützt, mit der Laute
im Arm.

Um von Milton selbst zu reden, so muß ich gestehen, daß ich ihn vollkommen
finde, denn in dem geistreich belebten Ausdruck des uach oben gerichteten Antlitzes,
der begleitenden Bewegung der.rechten Hand und des vorgebeugten Körpers ist neben
dem Ausdruck geistigen Schaffens die sast ungeschickte Unsicherheit der Blindheit so
entschieden und doch so sein (nicht im mindesten störend) ausgedrückt, daß ich be¬
kennen muß, es mir nicht vortrefflicher denken zu können. Und so nehmen auch
die Töchter jede in ihrer Weise theil. Die jüngste, noch kaum erwachsene, mit ge¬
spannter Aufmerksamkeit, der ein seiner Zusatz von kindlicher Zärtlichkeit gegeben
ist, die gesprochenen Worte des Vaters erwartend; welche die älteste, das Haupt
aus die Hand gestützt, am tiefsten erfaßt und begreift, während die ^mittlere', musika-


So waren Oestreich und Preußen dnrch die zartesten und durch die stärksten Fäden
zugleich "an Rußland geknüpft. Diese hat nun eine höhere Macht gewaltsam zer¬
rissen; Oestreich steht frei von persönlichen Verpflichtungen und kann ferner nur seine
selbständigen eignen Interessen, unbeirrt von gemüthlichen und traditionelle» Be¬
ziehungen, im Auge haben. Selbst im Verhältnisse unsres energischen Monarchen
zu dem neuen Souverän der nordischen Macht wird sich dies fühlbar machen. Die
Art. väterlicher Ueberordnung, zu welcher sich der Zeitgenosse und intimste Alliirte
Franz I. gegenüber dem jugendlichen Herrscher unsres Reiches für berechtigt hielt, ist
nun gebrochen. Mit voller Priorität, ja mit dem Bewußtsein schon vollbrachter
Thaten und in schweren Tagen geprüfter Einsicht tritt nun unser Monarch dem
russischen Thronerben entgegen, und wenn der freundschaftliche Rath Oestreichs
während der letzten Jahre in Petersburg in ironischer Weise abgelehnt wurde, so
dürste er sich jetzt mit um so größerm Nachdruck geltendmachcn können.

In dieser Weise wird in den weiter blickenden Kreisen unsrer Diplomatie das
große Ereigniß des Tages aufgefaßt und- die heilbringenden Folgen desselben für
die Gestaltung des Weltfriedens und der zukünftigen Machtstellung Oestreichs treten
bereits in den Vordergrund der Discussion.




Wissenschaft und Kunst.

Als eine der vortrefflichsten Leistungen von Berlinern Künstlern seit langer
Zeit muß ich Ihnen I. Schraders „Milton dictirt seinen Töchtern das Verlorne
Paradies" erwähnen. Es ist bekannt, daß Milton nach der Restauration von aller
politischen Thätigkeit entfernt in stiller Zurückgezogenheit aus einem entlegenen
Landsitz seine letzten Tage verbrachte. Hier dichtete er sein „Verlornes Paradies",
das er, im Alter erblindet, seinen Töchtern dictirte. So sehen wir ihn hier in
poetischer Erregung innerlich concipirte Worte gebend, welche die jüngste vor ihm
stehende Tochter an des Vaters Munde hangend niederschreibe. Weiter zurück
neben der jüngsten die älteste Tochter unter Folianten sitzend — es war ihr Geschäft,
dem Vater ans diesem.oder jenem Buch die etwa,verlangten Stellen nachzuschlagen —
die dritte Tochter endlich, die durch Musik den ausruhenden Milton zu unterhalten
pflegte, hinter dem Vater, auf die Lehne seines Sessels gestützt, mit der Laute
im Arm.

Um von Milton selbst zu reden, so muß ich gestehen, daß ich ihn vollkommen
finde, denn in dem geistreich belebten Ausdruck des uach oben gerichteten Antlitzes,
der begleitenden Bewegung der.rechten Hand und des vorgebeugten Körpers ist neben
dem Ausdruck geistigen Schaffens die sast ungeschickte Unsicherheit der Blindheit so
entschieden und doch so sein (nicht im mindesten störend) ausgedrückt, daß ich be¬
kennen muß, es mir nicht vortrefflicher denken zu können. Und so nehmen auch
die Töchter jede in ihrer Weise theil. Die jüngste, noch kaum erwachsene, mit ge¬
spannter Aufmerksamkeit, der ein seiner Zusatz von kindlicher Zärtlichkeit gegeben
ist, die gesprochenen Worte des Vaters erwartend; welche die älteste, das Haupt
aus die Hand gestützt, am tiefsten erfaßt und begreift, während die ^mittlere', musika-


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[0447] So waren Oestreich und Preußen dnrch die zartesten und durch die stärksten Fäden zugleich "an Rußland geknüpft. Diese hat nun eine höhere Macht gewaltsam zer¬ rissen; Oestreich steht frei von persönlichen Verpflichtungen und kann ferner nur seine selbständigen eignen Interessen, unbeirrt von gemüthlichen und traditionelle» Be¬ ziehungen, im Auge haben. Selbst im Verhältnisse unsres energischen Monarchen zu dem neuen Souverän der nordischen Macht wird sich dies fühlbar machen. Die Art. väterlicher Ueberordnung, zu welcher sich der Zeitgenosse und intimste Alliirte Franz I. gegenüber dem jugendlichen Herrscher unsres Reiches für berechtigt hielt, ist nun gebrochen. Mit voller Priorität, ja mit dem Bewußtsein schon vollbrachter Thaten und in schweren Tagen geprüfter Einsicht tritt nun unser Monarch dem russischen Thronerben entgegen, und wenn der freundschaftliche Rath Oestreichs während der letzten Jahre in Petersburg in ironischer Weise abgelehnt wurde, so dürste er sich jetzt mit um so größerm Nachdruck geltendmachcn können. In dieser Weise wird in den weiter blickenden Kreisen unsrer Diplomatie das große Ereigniß des Tages aufgefaßt und- die heilbringenden Folgen desselben für die Gestaltung des Weltfriedens und der zukünftigen Machtstellung Oestreichs treten bereits in den Vordergrund der Discussion. Wissenschaft und Kunst. Als eine der vortrefflichsten Leistungen von Berlinern Künstlern seit langer Zeit muß ich Ihnen I. Schraders „Milton dictirt seinen Töchtern das Verlorne Paradies" erwähnen. Es ist bekannt, daß Milton nach der Restauration von aller politischen Thätigkeit entfernt in stiller Zurückgezogenheit aus einem entlegenen Landsitz seine letzten Tage verbrachte. Hier dichtete er sein „Verlornes Paradies", das er, im Alter erblindet, seinen Töchtern dictirte. So sehen wir ihn hier in poetischer Erregung innerlich concipirte Worte gebend, welche die jüngste vor ihm stehende Tochter an des Vaters Munde hangend niederschreibe. Weiter zurück neben der jüngsten die älteste Tochter unter Folianten sitzend — es war ihr Geschäft, dem Vater ans diesem.oder jenem Buch die etwa,verlangten Stellen nachzuschlagen — die dritte Tochter endlich, die durch Musik den ausruhenden Milton zu unterhalten pflegte, hinter dem Vater, auf die Lehne seines Sessels gestützt, mit der Laute im Arm. Um von Milton selbst zu reden, so muß ich gestehen, daß ich ihn vollkommen finde, denn in dem geistreich belebten Ausdruck des uach oben gerichteten Antlitzes, der begleitenden Bewegung der.rechten Hand und des vorgebeugten Körpers ist neben dem Ausdruck geistigen Schaffens die sast ungeschickte Unsicherheit der Blindheit so entschieden und doch so sein (nicht im mindesten störend) ausgedrückt, daß ich be¬ kennen muß, es mir nicht vortrefflicher denken zu können. Und so nehmen auch die Töchter jede in ihrer Weise theil. Die jüngste, noch kaum erwachsene, mit ge¬ spannter Aufmerksamkeit, der ein seiner Zusatz von kindlicher Zärtlichkeit gegeben ist, die gesprochenen Worte des Vaters erwartend; welche die älteste, das Haupt aus die Hand gestützt, am tiefsten erfaßt und begreift, während die ^mittlere', musika-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/447>, abgerufen am 26.06.2024.