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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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scheinen, die gegenwärtigen Besitzer von ihrem verführerischen Amphibienleben
zurückzulocken in ihr ursprüngliches Element. Wielange müßte es bei einem
Fortbestehen all dieser ungünstigen Verhältnisse dauern, bis der sein'gente Preis
aller landwirthschaftlichen Producte eine so verlockende Aussicht auf Gewinn
eröffnet, um den Druck aufzuwiegen, der jetzt auf der bäuerlichen Landescultur
lastet? Welche Fortschritte würde die Verwahrlosung der bäuerlichen Bevölkerung
bis dahin machen? Wie oft noch würde ihr Nothschrei das Mitleid des ganzen
Vaterlandes wachrufen und eine Anklage gegen den Staat wiederholen, der
die offenkundiger Hindernisse einer gedeihlichen Entwicklung hätte beseitigen
können und sollen?

Wie zu helfen ist, sagt sich leicht, wenn wir das Uebel richtig erkannt
haben. Denn wir wiederholen, daß wir vom Staate hier keine neue Schöpfung,
sondern nur Entfernung von Beschränkungen, Ausbesserung und Fortführung
bereits gegebener Entwicklungsbahnen fordern.

Die Wegräumung der Schlagbäume an unsern Grenzen im Norden, Osten
und Süden hängt zunächst von dem Willen der angrenzenden Staaten ab.
Ob die Machtstellung Preußens von dem Gewichte ist, um bei den Nachbar¬
staaten einen zu diesem Ziele führenden Entschluß durchzusetzen, kann hier nicht
untersucht werden. Daß aber unsre nächsten Interessen die Beseitigung der Grenz¬
sperre dringend fordern, daß der freie Verkehr nach dem Innern Polens, Ru߬
lands, Galiziens u. f. w. zu riesenhaften Aufschwünge unsrer östlichen Pro¬
vinzen führen würde, daß die Eröffnung dieses uns künstlich verschlossenen
Verkehrs durch Errichtung neuer Verträge und männliche Geltendmachung der
bestehenden zu den vornehmsten Aufgaben unsrer auswärtigen Politik gehört
-- kann nicht oft genug wiederholt werden. Wie schwer die Aufgabe auch
scheinen mag, sie ist sicher nicht unlösbar, ihre Lösung ist vor allem der ernste¬
sten Anstrengungen -- wenn es sein muß -- großer Opfer werth.

Die vollständige Beseitigung der ständischen Verfassung, die Einführung
einer auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Selbstverwaltung ruhen¬
den Gemeinde- und Kreisordnung, die entsprechende Aenderung der Polizei-
und Armengesetzgebung sind Forderungen des ganzen Landes, und wenn wir
oben nachgewiesen haben, daß die Vorrechte des Ritterstandes in Oberschlesien
drückender und nachtheiliger als in andern Provinzen auf dem Bauernstande
lasten, so liegt hier eine doppelte Veranlassung zu ihrer Beseitigung vor. Wir
verzichten auf eine Widerlegung der vom Egoismus der Bevorzugten dictirten
Phrase, daß das Volk noch nicht reif sei für eine freie Gemeindeverfassung,
für eine selbstständige Verwaltung der eignen Angelegenheiten. Rechte ma¬
chen rechtlich, nur Vorrechte verleiten zur Ausschweifung.

Auch einer nähern Darlegung der einzuführenden Gemeinde- u. Ver¬
fassung selbst können wir uns enthalten. Denn welche Einwendungen auch


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scheinen, die gegenwärtigen Besitzer von ihrem verführerischen Amphibienleben
zurückzulocken in ihr ursprüngliches Element. Wielange müßte es bei einem
Fortbestehen all dieser ungünstigen Verhältnisse dauern, bis der sein'gente Preis
aller landwirthschaftlichen Producte eine so verlockende Aussicht auf Gewinn
eröffnet, um den Druck aufzuwiegen, der jetzt auf der bäuerlichen Landescultur
lastet? Welche Fortschritte würde die Verwahrlosung der bäuerlichen Bevölkerung
bis dahin machen? Wie oft noch würde ihr Nothschrei das Mitleid des ganzen
Vaterlandes wachrufen und eine Anklage gegen den Staat wiederholen, der
die offenkundiger Hindernisse einer gedeihlichen Entwicklung hätte beseitigen
können und sollen?

Wie zu helfen ist, sagt sich leicht, wenn wir das Uebel richtig erkannt
haben. Denn wir wiederholen, daß wir vom Staate hier keine neue Schöpfung,
sondern nur Entfernung von Beschränkungen, Ausbesserung und Fortführung
bereits gegebener Entwicklungsbahnen fordern.

Die Wegräumung der Schlagbäume an unsern Grenzen im Norden, Osten
und Süden hängt zunächst von dem Willen der angrenzenden Staaten ab.
Ob die Machtstellung Preußens von dem Gewichte ist, um bei den Nachbar¬
staaten einen zu diesem Ziele führenden Entschluß durchzusetzen, kann hier nicht
untersucht werden. Daß aber unsre nächsten Interessen die Beseitigung der Grenz¬
sperre dringend fordern, daß der freie Verkehr nach dem Innern Polens, Ru߬
lands, Galiziens u. f. w. zu riesenhaften Aufschwünge unsrer östlichen Pro¬
vinzen führen würde, daß die Eröffnung dieses uns künstlich verschlossenen
Verkehrs durch Errichtung neuer Verträge und männliche Geltendmachung der
bestehenden zu den vornehmsten Aufgaben unsrer auswärtigen Politik gehört
— kann nicht oft genug wiederholt werden. Wie schwer die Aufgabe auch
scheinen mag, sie ist sicher nicht unlösbar, ihre Lösung ist vor allem der ernste¬
sten Anstrengungen — wenn es sein muß — großer Opfer werth.

Die vollständige Beseitigung der ständischen Verfassung, die Einführung
einer auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Selbstverwaltung ruhen¬
den Gemeinde- und Kreisordnung, die entsprechende Aenderung der Polizei-
und Armengesetzgebung sind Forderungen des ganzen Landes, und wenn wir
oben nachgewiesen haben, daß die Vorrechte des Ritterstandes in Oberschlesien
drückender und nachtheiliger als in andern Provinzen auf dem Bauernstande
lasten, so liegt hier eine doppelte Veranlassung zu ihrer Beseitigung vor. Wir
verzichten auf eine Widerlegung der vom Egoismus der Bevorzugten dictirten
Phrase, daß das Volk noch nicht reif sei für eine freie Gemeindeverfassung,
für eine selbstständige Verwaltung der eignen Angelegenheiten. Rechte ma¬
chen rechtlich, nur Vorrechte verleiten zur Ausschweifung.

Auch einer nähern Darlegung der einzuführenden Gemeinde- u. Ver¬
fassung selbst können wir uns enthalten. Denn welche Einwendungen auch


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[0427] scheinen, die gegenwärtigen Besitzer von ihrem verführerischen Amphibienleben zurückzulocken in ihr ursprüngliches Element. Wielange müßte es bei einem Fortbestehen all dieser ungünstigen Verhältnisse dauern, bis der sein'gente Preis aller landwirthschaftlichen Producte eine so verlockende Aussicht auf Gewinn eröffnet, um den Druck aufzuwiegen, der jetzt auf der bäuerlichen Landescultur lastet? Welche Fortschritte würde die Verwahrlosung der bäuerlichen Bevölkerung bis dahin machen? Wie oft noch würde ihr Nothschrei das Mitleid des ganzen Vaterlandes wachrufen und eine Anklage gegen den Staat wiederholen, der die offenkundiger Hindernisse einer gedeihlichen Entwicklung hätte beseitigen können und sollen? Wie zu helfen ist, sagt sich leicht, wenn wir das Uebel richtig erkannt haben. Denn wir wiederholen, daß wir vom Staate hier keine neue Schöpfung, sondern nur Entfernung von Beschränkungen, Ausbesserung und Fortführung bereits gegebener Entwicklungsbahnen fordern. Die Wegräumung der Schlagbäume an unsern Grenzen im Norden, Osten und Süden hängt zunächst von dem Willen der angrenzenden Staaten ab. Ob die Machtstellung Preußens von dem Gewichte ist, um bei den Nachbar¬ staaten einen zu diesem Ziele führenden Entschluß durchzusetzen, kann hier nicht untersucht werden. Daß aber unsre nächsten Interessen die Beseitigung der Grenz¬ sperre dringend fordern, daß der freie Verkehr nach dem Innern Polens, Ru߬ lands, Galiziens u. f. w. zu riesenhaften Aufschwünge unsrer östlichen Pro¬ vinzen führen würde, daß die Eröffnung dieses uns künstlich verschlossenen Verkehrs durch Errichtung neuer Verträge und männliche Geltendmachung der bestehenden zu den vornehmsten Aufgaben unsrer auswärtigen Politik gehört — kann nicht oft genug wiederholt werden. Wie schwer die Aufgabe auch scheinen mag, sie ist sicher nicht unlösbar, ihre Lösung ist vor allem der ernste¬ sten Anstrengungen — wenn es sein muß — großer Opfer werth. Die vollständige Beseitigung der ständischen Verfassung, die Einführung einer auf den Grundsätzen der Gleichberechtigung und Selbstverwaltung ruhen¬ den Gemeinde- und Kreisordnung, die entsprechende Aenderung der Polizei- und Armengesetzgebung sind Forderungen des ganzen Landes, und wenn wir oben nachgewiesen haben, daß die Vorrechte des Ritterstandes in Oberschlesien drückender und nachtheiliger als in andern Provinzen auf dem Bauernstande lasten, so liegt hier eine doppelte Veranlassung zu ihrer Beseitigung vor. Wir verzichten auf eine Widerlegung der vom Egoismus der Bevorzugten dictirten Phrase, daß das Volk noch nicht reif sei für eine freie Gemeindeverfassung, für eine selbstständige Verwaltung der eignen Angelegenheiten. Rechte ma¬ chen rechtlich, nur Vorrechte verleiten zur Ausschweifung. Auch einer nähern Darlegung der einzuführenden Gemeinde- u. Ver¬ fassung selbst können wir uns enthalten. Denn welche Einwendungen auch 53"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/427>, abgerufen am 26.06.2024.