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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Oberschlesien ist schon jetzt von Eisenbahnen durchschnitten und eine erheb¬
liche Ausdehnung der Schienenwege steht nach verschiedenen Richtungen zu
erwarten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine solche Vermehrung
der Verbindungsmittel die deutsche Einwanderung bedeutend steigern und zu
einem glänzenden Aufschwünge der Industrie führen wird. Leider ist mit gleicher
Bestimmtheit vorherzusehen, daß dieser Aufschwung der niederen Bevölkerung Ober-
schlefisns nicht nur nicht zugutekommen, sondern ihr Elend- in mancher Weise
steigern muß. Denn was auswärtige Unternehmer hierherlockt, ist einerseits
der große Reichthum des östlichen Oberschlesien an unterirdischen Schätzen
(Eisenerz, Galmei, Steinkohlen u. s. w.), andrerseits der niedrige Stand der
Arbeitslöhne. Der letztere hat seinen Grund in der Armuth und Bedürfniß-
losigkeit der arbeitenden Classen, und so liegt eS grade im Interesse der zuneh¬
menden Industrie, den Zustand zu erhalten, dessen Beseitigung zum Zwecke einer
wahren Cultur so dringend wünschenswert!) ist. Freilich ist mit der Ausdeh¬
nung der Industrie eine Erhöhung der Lohnsätze nothwendig verbunden und
im Lause der letzten Jahre bereits sehr merklich eingetreten. Sie steht aber in
keinem Verhältniß zu der zunehmenden Theuerung der Lebensmittel und kann keine
Entschädigung bieten für den verderblichen Druck, den sie hier auf die Land¬
wirthschaft ausübt. Wo die Bodencultur bereits einen hohen Grad der Aus¬
bildung erreicht hat, wirkt jede Hebung der Industrie fordernd auf die erstere
zurück und selbst in rohen Landstrichen muß eine vorangehende Entwicklung der
Industrie den Aufschwung der Landwirthschaft allmälig nach sich ziehen. Es
geschieht dies aber auf einem Umwege, welcher hier, wo eine starke, ursprüng¬
lich auf Landwirthschaft angewiesene, mit Land angesessene rohe Bevölkerung
von dem unsteten Charakter aller slawischen Stämme plötzlich in den mecha¬
nischen Dienst einer gewaltigen Industrie hineingezogen und allen Schwan¬
kungen zwischen raschem Gewinn und plötzlicher Verdicnstlostgkeit preisgegeben
wird -- welcher hier -- wenigstens für die nächsten Generationen dieser Be¬
völkerung, unheilvoll werden muß. Wir sehen den.Bauer Pflug und Egge
vernachlässigen und mit seinem abgetriebenen Wirthschaflsgespann Fuhrmanns¬
dienste für Gruben und Hütten leisten, seinen Verdienst in den zahllosen Kneipen
vertrinken und dann viehisch lärmend ober auf seinem Wagen schlafend die
Straßen belagern; wir sehen den Gärtner, den Ackerhäusler ihre Besitzungen
wochen-, monatelang verlassen, um in entfernten Hohöfen und Hütten u. f. w.
einen rasch zerrinnenden Gewinn zu suchen, indeß die Hütten daheim verfalle",
die Weiber nothdürftig ein paar Beete mit Kohl und Kartoffeln bepflanzen und
die halb oder ganz nackten Kinder ein abgemagertes Stück Vieh an Grabenraimn
und auf versumpften Ackerstücken zur Weide herumführen. Wir haben oben ge¬
sehen, daß die Verhältnisse des bäuerlichen Grundbesitzes weder von der Art sind,
um unternehmungslustige deutsche Ansiec'ter heran zu ziehen, noch geeignet er-


Oberschlesien ist schon jetzt von Eisenbahnen durchschnitten und eine erheb¬
liche Ausdehnung der Schienenwege steht nach verschiedenen Richtungen zu
erwarten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine solche Vermehrung
der Verbindungsmittel die deutsche Einwanderung bedeutend steigern und zu
einem glänzenden Aufschwünge der Industrie führen wird. Leider ist mit gleicher
Bestimmtheit vorherzusehen, daß dieser Aufschwung der niederen Bevölkerung Ober-
schlefisns nicht nur nicht zugutekommen, sondern ihr Elend- in mancher Weise
steigern muß. Denn was auswärtige Unternehmer hierherlockt, ist einerseits
der große Reichthum des östlichen Oberschlesien an unterirdischen Schätzen
(Eisenerz, Galmei, Steinkohlen u. s. w.), andrerseits der niedrige Stand der
Arbeitslöhne. Der letztere hat seinen Grund in der Armuth und Bedürfniß-
losigkeit der arbeitenden Classen, und so liegt eS grade im Interesse der zuneh¬
menden Industrie, den Zustand zu erhalten, dessen Beseitigung zum Zwecke einer
wahren Cultur so dringend wünschenswert!) ist. Freilich ist mit der Ausdeh¬
nung der Industrie eine Erhöhung der Lohnsätze nothwendig verbunden und
im Lause der letzten Jahre bereits sehr merklich eingetreten. Sie steht aber in
keinem Verhältniß zu der zunehmenden Theuerung der Lebensmittel und kann keine
Entschädigung bieten für den verderblichen Druck, den sie hier auf die Land¬
wirthschaft ausübt. Wo die Bodencultur bereits einen hohen Grad der Aus¬
bildung erreicht hat, wirkt jede Hebung der Industrie fordernd auf die erstere
zurück und selbst in rohen Landstrichen muß eine vorangehende Entwicklung der
Industrie den Aufschwung der Landwirthschaft allmälig nach sich ziehen. Es
geschieht dies aber auf einem Umwege, welcher hier, wo eine starke, ursprüng¬
lich auf Landwirthschaft angewiesene, mit Land angesessene rohe Bevölkerung
von dem unsteten Charakter aller slawischen Stämme plötzlich in den mecha¬
nischen Dienst einer gewaltigen Industrie hineingezogen und allen Schwan¬
kungen zwischen raschem Gewinn und plötzlicher Verdicnstlostgkeit preisgegeben
wird — welcher hier — wenigstens für die nächsten Generationen dieser Be¬
völkerung, unheilvoll werden muß. Wir sehen den.Bauer Pflug und Egge
vernachlässigen und mit seinem abgetriebenen Wirthschaflsgespann Fuhrmanns¬
dienste für Gruben und Hütten leisten, seinen Verdienst in den zahllosen Kneipen
vertrinken und dann viehisch lärmend ober auf seinem Wagen schlafend die
Straßen belagern; wir sehen den Gärtner, den Ackerhäusler ihre Besitzungen
wochen-, monatelang verlassen, um in entfernten Hohöfen und Hütten u. f. w.
einen rasch zerrinnenden Gewinn zu suchen, indeß die Hütten daheim verfalle»,
die Weiber nothdürftig ein paar Beete mit Kohl und Kartoffeln bepflanzen und
die halb oder ganz nackten Kinder ein abgemagertes Stück Vieh an Grabenraimn
und auf versumpften Ackerstücken zur Weide herumführen. Wir haben oben ge¬
sehen, daß die Verhältnisse des bäuerlichen Grundbesitzes weder von der Art sind,
um unternehmungslustige deutsche Ansiec'ter heran zu ziehen, noch geeignet er-


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[0426] Oberschlesien ist schon jetzt von Eisenbahnen durchschnitten und eine erheb¬ liche Ausdehnung der Schienenwege steht nach verschiedenen Richtungen zu erwarten. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß eine solche Vermehrung der Verbindungsmittel die deutsche Einwanderung bedeutend steigern und zu einem glänzenden Aufschwünge der Industrie führen wird. Leider ist mit gleicher Bestimmtheit vorherzusehen, daß dieser Aufschwung der niederen Bevölkerung Ober- schlefisns nicht nur nicht zugutekommen, sondern ihr Elend- in mancher Weise steigern muß. Denn was auswärtige Unternehmer hierherlockt, ist einerseits der große Reichthum des östlichen Oberschlesien an unterirdischen Schätzen (Eisenerz, Galmei, Steinkohlen u. s. w.), andrerseits der niedrige Stand der Arbeitslöhne. Der letztere hat seinen Grund in der Armuth und Bedürfniß- losigkeit der arbeitenden Classen, und so liegt eS grade im Interesse der zuneh¬ menden Industrie, den Zustand zu erhalten, dessen Beseitigung zum Zwecke einer wahren Cultur so dringend wünschenswert!) ist. Freilich ist mit der Ausdeh¬ nung der Industrie eine Erhöhung der Lohnsätze nothwendig verbunden und im Lause der letzten Jahre bereits sehr merklich eingetreten. Sie steht aber in keinem Verhältniß zu der zunehmenden Theuerung der Lebensmittel und kann keine Entschädigung bieten für den verderblichen Druck, den sie hier auf die Land¬ wirthschaft ausübt. Wo die Bodencultur bereits einen hohen Grad der Aus¬ bildung erreicht hat, wirkt jede Hebung der Industrie fordernd auf die erstere zurück und selbst in rohen Landstrichen muß eine vorangehende Entwicklung der Industrie den Aufschwung der Landwirthschaft allmälig nach sich ziehen. Es geschieht dies aber auf einem Umwege, welcher hier, wo eine starke, ursprüng¬ lich auf Landwirthschaft angewiesene, mit Land angesessene rohe Bevölkerung von dem unsteten Charakter aller slawischen Stämme plötzlich in den mecha¬ nischen Dienst einer gewaltigen Industrie hineingezogen und allen Schwan¬ kungen zwischen raschem Gewinn und plötzlicher Verdicnstlostgkeit preisgegeben wird — welcher hier — wenigstens für die nächsten Generationen dieser Be¬ völkerung, unheilvoll werden muß. Wir sehen den.Bauer Pflug und Egge vernachlässigen und mit seinem abgetriebenen Wirthschaflsgespann Fuhrmanns¬ dienste für Gruben und Hütten leisten, seinen Verdienst in den zahllosen Kneipen vertrinken und dann viehisch lärmend ober auf seinem Wagen schlafend die Straßen belagern; wir sehen den Gärtner, den Ackerhäusler ihre Besitzungen wochen-, monatelang verlassen, um in entfernten Hohöfen und Hütten u. f. w. einen rasch zerrinnenden Gewinn zu suchen, indeß die Hütten daheim verfalle», die Weiber nothdürftig ein paar Beete mit Kohl und Kartoffeln bepflanzen und die halb oder ganz nackten Kinder ein abgemagertes Stück Vieh an Grabenraimn und auf versumpften Ackerstücken zur Weide herumführen. Wir haben oben ge¬ sehen, daß die Verhältnisse des bäuerlichen Grundbesitzes weder von der Art sind, um unternehmungslustige deutsche Ansiec'ter heran zu ziehen, noch geeignet er-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/426>, abgerufen am 26.06.2024.