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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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an. Seit Jahrhunderten mit deutschen Staaten politisch verbunden und unter
der Regierung deutscher Fürsten stehend, ist sie in Sprache und Denkweise, in
Sitten und Gebräuchen von den ihr verwandten Stämmen in Polen, Gali-
zien und Mähren losgelöst, ohne in das Culturleben der deutschen Nation.
hineingezogen zu sein. Es ist eine sehr verbreitete, aber durchaus irrige An¬
nahme, daß die oberschlestsche Volkssprache nur ein Dialekt der polnischen sei.
Der Unterschied zwischen dem sogenannten Hochpolnischen und Oberschlesischen
liegt weit weniger in der verschiedenen Aussprache vieler Wörter, oder in der
Anwendung einer Menge von Provinzialismen, sondern vielmehr darin, daß
der Oberschlesier die in der polnischen Sprache lebende Denk- und Anschau¬
ungsweise fast völlig verloren hat. Er spricht in der That deutsch mit mecha¬
nisch angewendeten polnischen Vocabeln, die er, wie die entsprechenden deutschen
Worte auch in übertragener Bedeutung anwendet, er bedient sich deutscher
Sprichwörter, ins Polnische übersetzt und kennt nicht einmal polnische Volks¬
lieder.

So bewegt er sich in dem engen Zirkel einer Sprache, die eine Literatur
weder besitzt, noch zu hoffen hat, ist abgeschnitten von allem geistigen Leben der
Gegenwart, und muß sich erst die Kenntniß einer andern Sprache erwerben, um
theilzunehmen an der Cultur seiner Zeit. Die gebildeten Classen der hiesigen
Bevölkerung bestehen aus eingewanderten Deutschen, von denen die wenigsten
sich mit der oberschlesischen Sprache vertraut machen, und diese wenigen be¬
greiflicherweise nur insoweit es ihr Beruf unumgänglich nothwendig macht. Es
gehört namentlich der Stand der Rittergutsbesitzer fast ohne Ausnahme dem
deutschen Elemente an. Die große Mehrzahl der eingewanderten Deutschen ist
außerdem protestantisch, während die eingeborene slawische Bevölkerung durchaus
der katholischen Kirche angehört.

So sehen mir aus der einen Seite Reichthum, Unternehmungsgeist, den
Genuß großer politischer und socialer Vorrechte, deutsche Bildung, National¬
bewußtsein, Protestantismus -- auf der andern: Armuth, Indolenz, Trägheit,
Politische und sociale Abhängigkeit, die tiefste Unwissenheit, Katholicismus. In
keinem andern Theile der preußischen Monarchie eristiren zwei Schichten der
Bevölkerung, durch alle diese Gegensätze zugleich voneinander getrennt. In
Posen z. B. fallt die nationale und kirchliche Trennung mit dem Gegensatze
zwischen Wohlstand und Armuth, Bildung und Unwissenheit wie mit der stän¬
dischen Gliederung :c. keineswegs zusammen. --

Nirgend ist weniger als hier auf eine allmälige Ausgleichung dieser Gegen¬
sätze ohne Zuthun des Staats zu rechnen, nirgend liegt für den Staat eine
größere Veranlassung zu einem fördernden und ausgleichenden Einschreiten vor,
und nirgend wird eine solche Einwirkung auf geringere Schwierigkeiten, auf
dankbareres Entgegenkommen stoßen.


Grenzlinien. I. -tuos. > 53

an. Seit Jahrhunderten mit deutschen Staaten politisch verbunden und unter
der Regierung deutscher Fürsten stehend, ist sie in Sprache und Denkweise, in
Sitten und Gebräuchen von den ihr verwandten Stämmen in Polen, Gali-
zien und Mähren losgelöst, ohne in das Culturleben der deutschen Nation.
hineingezogen zu sein. Es ist eine sehr verbreitete, aber durchaus irrige An¬
nahme, daß die oberschlestsche Volkssprache nur ein Dialekt der polnischen sei.
Der Unterschied zwischen dem sogenannten Hochpolnischen und Oberschlesischen
liegt weit weniger in der verschiedenen Aussprache vieler Wörter, oder in der
Anwendung einer Menge von Provinzialismen, sondern vielmehr darin, daß
der Oberschlesier die in der polnischen Sprache lebende Denk- und Anschau¬
ungsweise fast völlig verloren hat. Er spricht in der That deutsch mit mecha¬
nisch angewendeten polnischen Vocabeln, die er, wie die entsprechenden deutschen
Worte auch in übertragener Bedeutung anwendet, er bedient sich deutscher
Sprichwörter, ins Polnische übersetzt und kennt nicht einmal polnische Volks¬
lieder.

So bewegt er sich in dem engen Zirkel einer Sprache, die eine Literatur
weder besitzt, noch zu hoffen hat, ist abgeschnitten von allem geistigen Leben der
Gegenwart, und muß sich erst die Kenntniß einer andern Sprache erwerben, um
theilzunehmen an der Cultur seiner Zeit. Die gebildeten Classen der hiesigen
Bevölkerung bestehen aus eingewanderten Deutschen, von denen die wenigsten
sich mit der oberschlesischen Sprache vertraut machen, und diese wenigen be¬
greiflicherweise nur insoweit es ihr Beruf unumgänglich nothwendig macht. Es
gehört namentlich der Stand der Rittergutsbesitzer fast ohne Ausnahme dem
deutschen Elemente an. Die große Mehrzahl der eingewanderten Deutschen ist
außerdem protestantisch, während die eingeborene slawische Bevölkerung durchaus
der katholischen Kirche angehört.

So sehen mir aus der einen Seite Reichthum, Unternehmungsgeist, den
Genuß großer politischer und socialer Vorrechte, deutsche Bildung, National¬
bewußtsein, Protestantismus — auf der andern: Armuth, Indolenz, Trägheit,
Politische und sociale Abhängigkeit, die tiefste Unwissenheit, Katholicismus. In
keinem andern Theile der preußischen Monarchie eristiren zwei Schichten der
Bevölkerung, durch alle diese Gegensätze zugleich voneinander getrennt. In
Posen z. B. fallt die nationale und kirchliche Trennung mit dem Gegensatze
zwischen Wohlstand und Armuth, Bildung und Unwissenheit wie mit der stän¬
dischen Gliederung :c. keineswegs zusammen. —

Nirgend ist weniger als hier auf eine allmälige Ausgleichung dieser Gegen¬
sätze ohne Zuthun des Staats zu rechnen, nirgend liegt für den Staat eine
größere Veranlassung zu einem fördernden und ausgleichenden Einschreiten vor,
und nirgend wird eine solche Einwirkung auf geringere Schwierigkeiten, auf
dankbareres Entgegenkommen stoßen.


Grenzlinien. I. -tuos. > 53
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[0425] an. Seit Jahrhunderten mit deutschen Staaten politisch verbunden und unter der Regierung deutscher Fürsten stehend, ist sie in Sprache und Denkweise, in Sitten und Gebräuchen von den ihr verwandten Stämmen in Polen, Gali- zien und Mähren losgelöst, ohne in das Culturleben der deutschen Nation. hineingezogen zu sein. Es ist eine sehr verbreitete, aber durchaus irrige An¬ nahme, daß die oberschlestsche Volkssprache nur ein Dialekt der polnischen sei. Der Unterschied zwischen dem sogenannten Hochpolnischen und Oberschlesischen liegt weit weniger in der verschiedenen Aussprache vieler Wörter, oder in der Anwendung einer Menge von Provinzialismen, sondern vielmehr darin, daß der Oberschlesier die in der polnischen Sprache lebende Denk- und Anschau¬ ungsweise fast völlig verloren hat. Er spricht in der That deutsch mit mecha¬ nisch angewendeten polnischen Vocabeln, die er, wie die entsprechenden deutschen Worte auch in übertragener Bedeutung anwendet, er bedient sich deutscher Sprichwörter, ins Polnische übersetzt und kennt nicht einmal polnische Volks¬ lieder. So bewegt er sich in dem engen Zirkel einer Sprache, die eine Literatur weder besitzt, noch zu hoffen hat, ist abgeschnitten von allem geistigen Leben der Gegenwart, und muß sich erst die Kenntniß einer andern Sprache erwerben, um theilzunehmen an der Cultur seiner Zeit. Die gebildeten Classen der hiesigen Bevölkerung bestehen aus eingewanderten Deutschen, von denen die wenigsten sich mit der oberschlesischen Sprache vertraut machen, und diese wenigen be¬ greiflicherweise nur insoweit es ihr Beruf unumgänglich nothwendig macht. Es gehört namentlich der Stand der Rittergutsbesitzer fast ohne Ausnahme dem deutschen Elemente an. Die große Mehrzahl der eingewanderten Deutschen ist außerdem protestantisch, während die eingeborene slawische Bevölkerung durchaus der katholischen Kirche angehört. So sehen mir aus der einen Seite Reichthum, Unternehmungsgeist, den Genuß großer politischer und socialer Vorrechte, deutsche Bildung, National¬ bewußtsein, Protestantismus — auf der andern: Armuth, Indolenz, Trägheit, Politische und sociale Abhängigkeit, die tiefste Unwissenheit, Katholicismus. In keinem andern Theile der preußischen Monarchie eristiren zwei Schichten der Bevölkerung, durch alle diese Gegensätze zugleich voneinander getrennt. In Posen z. B. fallt die nationale und kirchliche Trennung mit dem Gegensatze zwischen Wohlstand und Armuth, Bildung und Unwissenheit wie mit der stän¬ dischen Gliederung :c. keineswegs zusammen. — Nirgend ist weniger als hier auf eine allmälige Ausgleichung dieser Gegen¬ sätze ohne Zuthun des Staats zu rechnen, nirgend liegt für den Staat eine größere Veranlassung zu einem fördernden und ausgleichenden Einschreiten vor, und nirgend wird eine solche Einwirkung auf geringere Schwierigkeiten, auf dankbareres Entgegenkommen stoßen. Grenzlinien. I. -tuos. > 53

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/425>, abgerufen am 26.06.2024.