Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

aber diese Empfindung nachher durch Reflexionen immer wieder erstickt wird.
Wir machen auf eine hübsche Anekdote Seite k> aufmerksam. Jdas Mutter
erklärt ihr, daß Gottes Engel auch bei Nacht stets über ihr wachen und sie
nie verlassen. Jda war durchaus nicht furchtsam in Bezug auf physische Ge¬
fahr, die Idee aber des Uebernatürlichen, die so plötzlich ihrer aufgeregten
Einbildungskraft vorgeführt wurde, machte einen mächtigen Eindruck auf sie.
Sie blieb jedoch ganz stille; Mrs. May errieth nicht, was in ihr vorging
und sprach noch einige Momente über den Gegenstand. -- Am Abend', nach¬
dem sie entkleidet und allein in ihrem Bettchen gelassen worden war, wurden
ihre Eltern plötzlich lares ihr lautes, ängstliches Rufen erschreckt; als sie in
ihr Zimmer eilten, sahen sie sie vom Mondlicht beschienen aufrecht auf ihrem
Lager.sitzen; das hübsche Gesichtchen war ganz entstellt und verzerrt vor Angst
und Furcht. Als man sie um den Grund derselben fragte, antwortete sie un¬
ter Thränen, die sie nicht länger zurückzuhalten vermochte: "Ich möchte,
daß Gott seine Engel wegrufen sollte! Ich kann ja nicht einschlafen,
wenn sie alle um mich her stehen und mich anschauen!" -- Uebrigens ist das
Talent der Verfasserin weit anmuthiger und liebenswürdiger und die Stim¬
mung des Romans weit heiterer als in Onkel Tom. Zwar werden uns auch
hier die Peitschenhiebe und andere Mißhandlungen keineswegs erlassen, aber
sie sind doch mit mehr Maß angewendet, und die wohlthuenden Scenen über¬
wiegen bei weitem die abscheulichen. -- Den angenehmsten Eindrück von diesen
Büchern hat auf uns das "Leben eines Landkrämers" gemacht. Der Ver¬
fasser ist zwar ein reiner Naturalist und von allen künstlerischen Anforderun¬
gen muß man vollständig absehen, wenn man sich in ihn hineinfinden will,
aber er hat ein scharfes und gesundes Auge für die Wirklichkeit, und von
dem bunten, wilden, abenteuerlichen, halbverrückten und doch interessanten
Leben in den neugegründeten Kolonien Nvrdaimrikaö erlangt man bei ihm
eine viel frischere und lebendigere Anschauung, als aus hundert Reisebeschrei-
bungen. Sein Humor ist dreist, zuweilen frech, aber uns erscheint jeder
Funke echten Humors in der weinerlichen Stimmung unsrer Literatur, die aus
bloßer Langeweile Schmerzen empfindet, als ein unschätzbares Gut, und wir
wünschen diesen lustigen Schwanken recht zahlreiche Leser.

Die große Verbreitung, welche jetzt der amerikanische Roman in Deutsch¬
land findet, geht zwar nicht aus dem innern Werth desselben in ästhetischer
Beziehung hervor, aber sie ist wenigstens ein Zeichen, das sich allmälig ein
'einheitlicher, positiver und des Studiums werther Inhalt darin herausstellt.
Die amerikanische Poesie, wie sie uns jetzt massenhaft gegenübertritt, ist nicht
der unmittelbare Ausdruck des amerikanischen Wesens, sie ist vielmehr eine
entschiedene Reaction gegen die Grundzüge desselben, gegen den Materialismus
und die Unstetigkeit, die in den Tag hineinlebt und nur erwirbt, um wieder


aber diese Empfindung nachher durch Reflexionen immer wieder erstickt wird.
Wir machen auf eine hübsche Anekdote Seite k> aufmerksam. Jdas Mutter
erklärt ihr, daß Gottes Engel auch bei Nacht stets über ihr wachen und sie
nie verlassen. Jda war durchaus nicht furchtsam in Bezug auf physische Ge¬
fahr, die Idee aber des Uebernatürlichen, die so plötzlich ihrer aufgeregten
Einbildungskraft vorgeführt wurde, machte einen mächtigen Eindruck auf sie.
Sie blieb jedoch ganz stille; Mrs. May errieth nicht, was in ihr vorging
und sprach noch einige Momente über den Gegenstand. — Am Abend', nach¬
dem sie entkleidet und allein in ihrem Bettchen gelassen worden war, wurden
ihre Eltern plötzlich lares ihr lautes, ängstliches Rufen erschreckt; als sie in
ihr Zimmer eilten, sahen sie sie vom Mondlicht beschienen aufrecht auf ihrem
Lager.sitzen; das hübsche Gesichtchen war ganz entstellt und verzerrt vor Angst
und Furcht. Als man sie um den Grund derselben fragte, antwortete sie un¬
ter Thränen, die sie nicht länger zurückzuhalten vermochte: „Ich möchte,
daß Gott seine Engel wegrufen sollte! Ich kann ja nicht einschlafen,
wenn sie alle um mich her stehen und mich anschauen!" — Uebrigens ist das
Talent der Verfasserin weit anmuthiger und liebenswürdiger und die Stim¬
mung des Romans weit heiterer als in Onkel Tom. Zwar werden uns auch
hier die Peitschenhiebe und andere Mißhandlungen keineswegs erlassen, aber
sie sind doch mit mehr Maß angewendet, und die wohlthuenden Scenen über¬
wiegen bei weitem die abscheulichen. — Den angenehmsten Eindrück von diesen
Büchern hat auf uns das „Leben eines Landkrämers" gemacht. Der Ver¬
fasser ist zwar ein reiner Naturalist und von allen künstlerischen Anforderun¬
gen muß man vollständig absehen, wenn man sich in ihn hineinfinden will,
aber er hat ein scharfes und gesundes Auge für die Wirklichkeit, und von
dem bunten, wilden, abenteuerlichen, halbverrückten und doch interessanten
Leben in den neugegründeten Kolonien Nvrdaimrikaö erlangt man bei ihm
eine viel frischere und lebendigere Anschauung, als aus hundert Reisebeschrei-
bungen. Sein Humor ist dreist, zuweilen frech, aber uns erscheint jeder
Funke echten Humors in der weinerlichen Stimmung unsrer Literatur, die aus
bloßer Langeweile Schmerzen empfindet, als ein unschätzbares Gut, und wir
wünschen diesen lustigen Schwanken recht zahlreiche Leser.

Die große Verbreitung, welche jetzt der amerikanische Roman in Deutsch¬
land findet, geht zwar nicht aus dem innern Werth desselben in ästhetischer
Beziehung hervor, aber sie ist wenigstens ein Zeichen, das sich allmälig ein
'einheitlicher, positiver und des Studiums werther Inhalt darin herausstellt.
Die amerikanische Poesie, wie sie uns jetzt massenhaft gegenübertritt, ist nicht
der unmittelbare Ausdruck des amerikanischen Wesens, sie ist vielmehr eine
entschiedene Reaction gegen die Grundzüge desselben, gegen den Materialismus
und die Unstetigkeit, die in den Tag hineinlebt und nur erwirbt, um wieder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0420" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99272"/>
            <p xml:id="ID_1478" prev="#ID_1477"> aber diese Empfindung nachher durch Reflexionen immer wieder erstickt wird.<lb/>
Wir machen auf eine hübsche Anekdote Seite k&gt; aufmerksam. Jdas Mutter<lb/>
erklärt ihr, daß Gottes Engel auch bei Nacht stets über ihr wachen und sie<lb/>
nie verlassen. Jda war durchaus nicht furchtsam in Bezug auf physische Ge¬<lb/>
fahr, die Idee aber des Uebernatürlichen, die so plötzlich ihrer aufgeregten<lb/>
Einbildungskraft vorgeführt wurde, machte einen mächtigen Eindruck auf sie.<lb/>
Sie blieb jedoch ganz stille; Mrs. May errieth nicht, was in ihr vorging<lb/>
und sprach noch einige Momente über den Gegenstand. &#x2014; Am Abend', nach¬<lb/>
dem sie entkleidet und allein in ihrem Bettchen gelassen worden war, wurden<lb/>
ihre Eltern plötzlich lares ihr lautes, ängstliches Rufen erschreckt; als sie in<lb/>
ihr Zimmer eilten, sahen sie sie vom Mondlicht beschienen aufrecht auf ihrem<lb/>
Lager.sitzen; das hübsche Gesichtchen war ganz entstellt und verzerrt vor Angst<lb/>
und Furcht. Als man sie um den Grund derselben fragte, antwortete sie un¬<lb/>
ter Thränen, die sie nicht länger zurückzuhalten vermochte: &#x201E;Ich möchte,<lb/>
daß Gott seine Engel wegrufen sollte! Ich kann ja nicht einschlafen,<lb/>
wenn sie alle um mich her stehen und mich anschauen!" &#x2014; Uebrigens ist das<lb/>
Talent der Verfasserin weit anmuthiger und liebenswürdiger und die Stim¬<lb/>
mung des Romans weit heiterer als in Onkel Tom. Zwar werden uns auch<lb/>
hier die Peitschenhiebe und andere Mißhandlungen keineswegs erlassen, aber<lb/>
sie sind doch mit mehr Maß angewendet, und die wohlthuenden Scenen über¬<lb/>
wiegen bei weitem die abscheulichen. &#x2014; Den angenehmsten Eindrück von diesen<lb/>
Büchern hat auf uns das &#x201E;Leben eines Landkrämers" gemacht. Der Ver¬<lb/>
fasser ist zwar ein reiner Naturalist und von allen künstlerischen Anforderun¬<lb/>
gen muß man vollständig absehen, wenn man sich in ihn hineinfinden will,<lb/>
aber er hat ein scharfes und gesundes Auge für die Wirklichkeit, und von<lb/>
dem bunten, wilden, abenteuerlichen, halbverrückten und doch interessanten<lb/>
Leben in den neugegründeten Kolonien Nvrdaimrikaö erlangt man bei ihm<lb/>
eine viel frischere und lebendigere Anschauung, als aus hundert Reisebeschrei-<lb/>
bungen. Sein Humor ist dreist, zuweilen frech, aber uns erscheint jeder<lb/>
Funke echten Humors in der weinerlichen Stimmung unsrer Literatur, die aus<lb/>
bloßer Langeweile Schmerzen empfindet, als ein unschätzbares Gut, und wir<lb/>
wünschen diesen lustigen Schwanken recht zahlreiche Leser.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1479" next="#ID_1480"> Die große Verbreitung, welche jetzt der amerikanische Roman in Deutsch¬<lb/>
land findet, geht zwar nicht aus dem innern Werth desselben in ästhetischer<lb/>
Beziehung hervor, aber sie ist wenigstens ein Zeichen, das sich allmälig ein<lb/>
'einheitlicher, positiver und des Studiums werther Inhalt darin herausstellt.<lb/>
Die amerikanische Poesie, wie sie uns jetzt massenhaft gegenübertritt, ist nicht<lb/>
der unmittelbare Ausdruck des amerikanischen Wesens, sie ist vielmehr eine<lb/>
entschiedene Reaction gegen die Grundzüge desselben, gegen den Materialismus<lb/>
und die Unstetigkeit, die in den Tag hineinlebt und nur erwirbt, um wieder</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0420] aber diese Empfindung nachher durch Reflexionen immer wieder erstickt wird. Wir machen auf eine hübsche Anekdote Seite k> aufmerksam. Jdas Mutter erklärt ihr, daß Gottes Engel auch bei Nacht stets über ihr wachen und sie nie verlassen. Jda war durchaus nicht furchtsam in Bezug auf physische Ge¬ fahr, die Idee aber des Uebernatürlichen, die so plötzlich ihrer aufgeregten Einbildungskraft vorgeführt wurde, machte einen mächtigen Eindruck auf sie. Sie blieb jedoch ganz stille; Mrs. May errieth nicht, was in ihr vorging und sprach noch einige Momente über den Gegenstand. — Am Abend', nach¬ dem sie entkleidet und allein in ihrem Bettchen gelassen worden war, wurden ihre Eltern plötzlich lares ihr lautes, ängstliches Rufen erschreckt; als sie in ihr Zimmer eilten, sahen sie sie vom Mondlicht beschienen aufrecht auf ihrem Lager.sitzen; das hübsche Gesichtchen war ganz entstellt und verzerrt vor Angst und Furcht. Als man sie um den Grund derselben fragte, antwortete sie un¬ ter Thränen, die sie nicht länger zurückzuhalten vermochte: „Ich möchte, daß Gott seine Engel wegrufen sollte! Ich kann ja nicht einschlafen, wenn sie alle um mich her stehen und mich anschauen!" — Uebrigens ist das Talent der Verfasserin weit anmuthiger und liebenswürdiger und die Stim¬ mung des Romans weit heiterer als in Onkel Tom. Zwar werden uns auch hier die Peitschenhiebe und andere Mißhandlungen keineswegs erlassen, aber sie sind doch mit mehr Maß angewendet, und die wohlthuenden Scenen über¬ wiegen bei weitem die abscheulichen. — Den angenehmsten Eindrück von diesen Büchern hat auf uns das „Leben eines Landkrämers" gemacht. Der Ver¬ fasser ist zwar ein reiner Naturalist und von allen künstlerischen Anforderun¬ gen muß man vollständig absehen, wenn man sich in ihn hineinfinden will, aber er hat ein scharfes und gesundes Auge für die Wirklichkeit, und von dem bunten, wilden, abenteuerlichen, halbverrückten und doch interessanten Leben in den neugegründeten Kolonien Nvrdaimrikaö erlangt man bei ihm eine viel frischere und lebendigere Anschauung, als aus hundert Reisebeschrei- bungen. Sein Humor ist dreist, zuweilen frech, aber uns erscheint jeder Funke echten Humors in der weinerlichen Stimmung unsrer Literatur, die aus bloßer Langeweile Schmerzen empfindet, als ein unschätzbares Gut, und wir wünschen diesen lustigen Schwanken recht zahlreiche Leser. Die große Verbreitung, welche jetzt der amerikanische Roman in Deutsch¬ land findet, geht zwar nicht aus dem innern Werth desselben in ästhetischer Beziehung hervor, aber sie ist wenigstens ein Zeichen, das sich allmälig ein 'einheitlicher, positiver und des Studiums werther Inhalt darin herausstellt. Die amerikanische Poesie, wie sie uns jetzt massenhaft gegenübertritt, ist nicht der unmittelbare Ausdruck des amerikanischen Wesens, sie ist vielmehr eine entschiedene Reaction gegen die Grundzüge desselben, gegen den Materialismus und die Unstetigkeit, die in den Tag hineinlebt und nur erwirbt, um wieder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/420
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/420>, abgerufen am 26.06.2024.