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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Geschichte zum Opfer fallen, sondern die eisernen Naturen, die sie beherrschen,
und die um dieser Herrschaft willen ihr eignes natürliches Gefühl unterdrücken.
Man bewundert sie umsomehr, jeweiliger man sich ihnen ebenbürtig fühlt.
Denn unsre reflectirende Zeit, soweit sie sich in der Literatur geltendmacht,
zeichnet sich keineswegs durch Härte und Entschlossenheit aus, vielmehr durch eine
weiche, haltlose Bestimmbarkeit und Unschlüssigkeit. Daß ein gesunder Cha¬
rakter auf eignen Füßen steht und daß die sogenannten großen Persönlichkeiten
in der Geschichte nur dadurch groß werden, baß ihr Eigenwille mit den tiefern
Bedürfnissen der Zeit übereinstimmt, davon haben sie keine Vorstellung. Da
sie in sich selbst keinen Halt fühlen, so meinen sie, daß auch die großen
Männer ihren Halt nur darin finden, daß sie sich an eine Idee verpfänden.
Aber das ist gar nicht die Art und Weise großer Männer. Sie leben, um
sich selbst zu bethätigen, und weil ihre Natur von Gott so glücklich begabt ist,
daß ihre Individualität mit dem Allgemeinen zusammenhängt, so führen sie
damit zugleich nebenbei eine Idee durch, das heißt einen Fortschritt der Mensch¬
heit, den die nachgebornen dann herausfinden und analysiren mögen; der
Held selbst, der Genius, ist sich dieser Idee nicht bewußt; er handelt, wie er
muß und seine kluge Berechnung bezieht sich nur auf die endlichen Mittel.

Von diesem reflectirten Standpunkt unsrer Zeit hat Fräulein v. Schlicht-
krull auch den Cardinal Richelieu aufgefaßt. Die frühern Romanschreiber
verabscheuten diesen Despoten und nahmen für die liebenswürdigen Männer
Partei, die ihm zum Opfer fielen, gleichviel ob in ihrem Charakter historische
Berechtigung lag oder nicht. Die Geschichtschreiber urtheilten anders. Sie
erkannten wohl heraus, daß für Frankreich, sowie die Cultur im allgemeinen
es viel zweckmäßiger war, wenn ein verständiger Despot das Ruder führte,
als wenn die liebenswürdigen Kavaliere, die heute dies wollten und morgen
jenes, sich an die Spitze gedrängt hätten. Beide hatten in ihrer Art recht
und wenn wir auch keineswegs dem romantischen Princip huldigen, welches
die ideale Anschauungsweise von der praktischen trennt, so sind wir doch keines¬
wegs gemeint, die Ideale der praktischen ohne weiteres aufzuopfern. Ein Mann
mit dem unbefangenen reinen Seherauge, wie W. Scott, hätte eS wol ver¬
standen, Richelieu in der ganzen Nacktheit seines kolossalen Egoismus dar¬
zustellen und doch in dem Leser das Gefühl von der Berechtigung und Noth¬
wendigkeit seiner Stellung hervorzubringen. Er hat es bereits in seinem "Crom-
well" und "Ludwig Xe," mit größtem Erfolg gethan. Eine Dame vermag das
nicht; weil bei ihr immer der ästhetische Gesichtspunkt überwiegt, so wird sie
den Helden, den sie die Reflexionen zu bewundern gelehrt, auf eine unhistorische
Weise idealistren, um den Eindruck des Gefühls mit dem Eindruck des Ver¬
standes in Uebereinstimmung zu setzen. So ist es auch Fräulein v. schlicht
truii ergangen. Trotz der ernsthaften Studien, die sie gemacht, ist ihr Porträt


Geschichte zum Opfer fallen, sondern die eisernen Naturen, die sie beherrschen,
und die um dieser Herrschaft willen ihr eignes natürliches Gefühl unterdrücken.
Man bewundert sie umsomehr, jeweiliger man sich ihnen ebenbürtig fühlt.
Denn unsre reflectirende Zeit, soweit sie sich in der Literatur geltendmacht,
zeichnet sich keineswegs durch Härte und Entschlossenheit aus, vielmehr durch eine
weiche, haltlose Bestimmbarkeit und Unschlüssigkeit. Daß ein gesunder Cha¬
rakter auf eignen Füßen steht und daß die sogenannten großen Persönlichkeiten
in der Geschichte nur dadurch groß werden, baß ihr Eigenwille mit den tiefern
Bedürfnissen der Zeit übereinstimmt, davon haben sie keine Vorstellung. Da
sie in sich selbst keinen Halt fühlen, so meinen sie, daß auch die großen
Männer ihren Halt nur darin finden, daß sie sich an eine Idee verpfänden.
Aber das ist gar nicht die Art und Weise großer Männer. Sie leben, um
sich selbst zu bethätigen, und weil ihre Natur von Gott so glücklich begabt ist,
daß ihre Individualität mit dem Allgemeinen zusammenhängt, so führen sie
damit zugleich nebenbei eine Idee durch, das heißt einen Fortschritt der Mensch¬
heit, den die nachgebornen dann herausfinden und analysiren mögen; der
Held selbst, der Genius, ist sich dieser Idee nicht bewußt; er handelt, wie er
muß und seine kluge Berechnung bezieht sich nur auf die endlichen Mittel.

Von diesem reflectirten Standpunkt unsrer Zeit hat Fräulein v. Schlicht-
krull auch den Cardinal Richelieu aufgefaßt. Die frühern Romanschreiber
verabscheuten diesen Despoten und nahmen für die liebenswürdigen Männer
Partei, die ihm zum Opfer fielen, gleichviel ob in ihrem Charakter historische
Berechtigung lag oder nicht. Die Geschichtschreiber urtheilten anders. Sie
erkannten wohl heraus, daß für Frankreich, sowie die Cultur im allgemeinen
es viel zweckmäßiger war, wenn ein verständiger Despot das Ruder führte,
als wenn die liebenswürdigen Kavaliere, die heute dies wollten und morgen
jenes, sich an die Spitze gedrängt hätten. Beide hatten in ihrer Art recht
und wenn wir auch keineswegs dem romantischen Princip huldigen, welches
die ideale Anschauungsweise von der praktischen trennt, so sind wir doch keines¬
wegs gemeint, die Ideale der praktischen ohne weiteres aufzuopfern. Ein Mann
mit dem unbefangenen reinen Seherauge, wie W. Scott, hätte eS wol ver¬
standen, Richelieu in der ganzen Nacktheit seines kolossalen Egoismus dar¬
zustellen und doch in dem Leser das Gefühl von der Berechtigung und Noth¬
wendigkeit seiner Stellung hervorzubringen. Er hat es bereits in seinem „Crom-
well" und „Ludwig Xe," mit größtem Erfolg gethan. Eine Dame vermag das
nicht; weil bei ihr immer der ästhetische Gesichtspunkt überwiegt, so wird sie
den Helden, den sie die Reflexionen zu bewundern gelehrt, auf eine unhistorische
Weise idealistren, um den Eindruck des Gefühls mit dem Eindruck des Ver¬
standes in Uebereinstimmung zu setzen. So ist es auch Fräulein v. schlicht
truii ergangen. Trotz der ernsthaften Studien, die sie gemacht, ist ihr Porträt


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[0416] Geschichte zum Opfer fallen, sondern die eisernen Naturen, die sie beherrschen, und die um dieser Herrschaft willen ihr eignes natürliches Gefühl unterdrücken. Man bewundert sie umsomehr, jeweiliger man sich ihnen ebenbürtig fühlt. Denn unsre reflectirende Zeit, soweit sie sich in der Literatur geltendmacht, zeichnet sich keineswegs durch Härte und Entschlossenheit aus, vielmehr durch eine weiche, haltlose Bestimmbarkeit und Unschlüssigkeit. Daß ein gesunder Cha¬ rakter auf eignen Füßen steht und daß die sogenannten großen Persönlichkeiten in der Geschichte nur dadurch groß werden, baß ihr Eigenwille mit den tiefern Bedürfnissen der Zeit übereinstimmt, davon haben sie keine Vorstellung. Da sie in sich selbst keinen Halt fühlen, so meinen sie, daß auch die großen Männer ihren Halt nur darin finden, daß sie sich an eine Idee verpfänden. Aber das ist gar nicht die Art und Weise großer Männer. Sie leben, um sich selbst zu bethätigen, und weil ihre Natur von Gott so glücklich begabt ist, daß ihre Individualität mit dem Allgemeinen zusammenhängt, so führen sie damit zugleich nebenbei eine Idee durch, das heißt einen Fortschritt der Mensch¬ heit, den die nachgebornen dann herausfinden und analysiren mögen; der Held selbst, der Genius, ist sich dieser Idee nicht bewußt; er handelt, wie er muß und seine kluge Berechnung bezieht sich nur auf die endlichen Mittel. Von diesem reflectirten Standpunkt unsrer Zeit hat Fräulein v. Schlicht- krull auch den Cardinal Richelieu aufgefaßt. Die frühern Romanschreiber verabscheuten diesen Despoten und nahmen für die liebenswürdigen Männer Partei, die ihm zum Opfer fielen, gleichviel ob in ihrem Charakter historische Berechtigung lag oder nicht. Die Geschichtschreiber urtheilten anders. Sie erkannten wohl heraus, daß für Frankreich, sowie die Cultur im allgemeinen es viel zweckmäßiger war, wenn ein verständiger Despot das Ruder führte, als wenn die liebenswürdigen Kavaliere, die heute dies wollten und morgen jenes, sich an die Spitze gedrängt hätten. Beide hatten in ihrer Art recht und wenn wir auch keineswegs dem romantischen Princip huldigen, welches die ideale Anschauungsweise von der praktischen trennt, so sind wir doch keines¬ wegs gemeint, die Ideale der praktischen ohne weiteres aufzuopfern. Ein Mann mit dem unbefangenen reinen Seherauge, wie W. Scott, hätte eS wol ver¬ standen, Richelieu in der ganzen Nacktheit seines kolossalen Egoismus dar¬ zustellen und doch in dem Leser das Gefühl von der Berechtigung und Noth¬ wendigkeit seiner Stellung hervorzubringen. Er hat es bereits in seinem „Crom- well" und „Ludwig Xe," mit größtem Erfolg gethan. Eine Dame vermag das nicht; weil bei ihr immer der ästhetische Gesichtspunkt überwiegt, so wird sie den Helden, den sie die Reflexionen zu bewundern gelehrt, auf eine unhistorische Weise idealistren, um den Eindruck des Gefühls mit dem Eindruck des Ver¬ standes in Uebereinstimmung zu setzen. So ist es auch Fräulein v. schlicht truii ergangen. Trotz der ernsthaften Studien, die sie gemacht, ist ihr Porträt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/416>, abgerufen am 26.06.2024.