Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Romane.
Der Cardinal von Richelieu. Roman von Aline von Schlichtkrull.
4 Bde. Görlitz, Heyn. --

Das Talent, welches die Verfasserin in ihren beiden früheren Romanen:
"Eine verlorene Seele" und "Morton Varney" entwickelt hat, läßt sich auch
in dem neuen nicht verkennen; doch möchten wir sie in ihrem eignen Interesse
warnen, nicht gar zu schnell zu produciren. Die Gabe der Erfindung ist eine
glückliche; aber der Dichter, der aufrichtig gegen die Kunst >se und nicht blos
den Wunsch hegt, das Tagesbedürfniß zu befriedigen, muß zugleich eine strenge
Kritik gegen sich ausüben, namentlich in unsrer Zeit, wo nicht blos die
natürliche Unfertigkeit des Talents und der Bildung einer fortgesetzten Ver¬
besserung bedarf, sondern wo man zugleich mit dem ganzen Wust der Re¬
flexionen zu kämpfen hat, die sich aus der frühern Literatur herschreiben, und
die das unbefangene Produciren verwirren. Abgesehen von den Einwendungen,
die man gegen das Princip und die Haltung des Ganzen machen kann, hätte
im einzelnen vieles besser gemacht sein können, wenn die Verfasserin sich einer
strengeren Feile bedient hätte.

Die Wahl des Gegenstandes ist keine glückliche; wir möchten überhaupt
bezweifeln, ob die historische Novelle eine Gattung ist, auf welcher die Damen
Lorbeeren einernten könnten. Eine Dame mag noch soviel Geist haben und
noch so ernste Studien machen, sie kann dadurch niemals die unmittelbare
Anschauung ersetzen, die der Mann dadurch vom geschichtlichen Leben erhält,
daß er sich selbst darin vertieft. Die Feinheiten und die Wärme des innern
Seelenlebens wird das Weib, wenn sie gesund organisirt ist, ebenso lebhaft
empfinden, als der Mann, vielleicht noch lebhafter, und wenn sie zugleich die
Gabe der Darstellung besitzt, so wird sie diese Seite der Wirklichkeit mit
glücklichem Erfolg poetisch verarbeiten; was aber Arbeit ist, ernste, unver-
drossene, rücksichtslose, auf einen bestimmten Zweck gerichtete Arbeit, davon
kann sich eine Dame nie eine eindringende Vorstellung machen, weil man nur
das vollständig begreift, was man selbst durchmachen kann. Es gibt viele
einzelne Seiten der Geschichte, die einen vorwiegend romantischen Charakter
haben, in denen die individuellen Beziehungen hervortreten, die Beziehungen
des innern Lebens: solche Seiten trifft unsre Bemerkung nicht, aber man wird
die Darstellung einer solchen Zeit auch kaum einen historischen Roman im
eigentlichen Sinn nennen können. Nun wendet sich aber in unsrer vorwiegend
reflectirenden Zeit das Interesse vorzugsweise auf solche Zeiten und Charaktere,
welche der entschlossene, unbeugsame Verstand beherrscht. Man bewundert nicht
mehr die unbefangenen, gemüthvollen Naturen, die den Verwicklungen der


Neue Romane.
Der Cardinal von Richelieu. Roman von Aline von Schlichtkrull.
4 Bde. Görlitz, Heyn. —

Das Talent, welches die Verfasserin in ihren beiden früheren Romanen:
„Eine verlorene Seele" und „Morton Varney" entwickelt hat, läßt sich auch
in dem neuen nicht verkennen; doch möchten wir sie in ihrem eignen Interesse
warnen, nicht gar zu schnell zu produciren. Die Gabe der Erfindung ist eine
glückliche; aber der Dichter, der aufrichtig gegen die Kunst >se und nicht blos
den Wunsch hegt, das Tagesbedürfniß zu befriedigen, muß zugleich eine strenge
Kritik gegen sich ausüben, namentlich in unsrer Zeit, wo nicht blos die
natürliche Unfertigkeit des Talents und der Bildung einer fortgesetzten Ver¬
besserung bedarf, sondern wo man zugleich mit dem ganzen Wust der Re¬
flexionen zu kämpfen hat, die sich aus der frühern Literatur herschreiben, und
die das unbefangene Produciren verwirren. Abgesehen von den Einwendungen,
die man gegen das Princip und die Haltung des Ganzen machen kann, hätte
im einzelnen vieles besser gemacht sein können, wenn die Verfasserin sich einer
strengeren Feile bedient hätte.

Die Wahl des Gegenstandes ist keine glückliche; wir möchten überhaupt
bezweifeln, ob die historische Novelle eine Gattung ist, auf welcher die Damen
Lorbeeren einernten könnten. Eine Dame mag noch soviel Geist haben und
noch so ernste Studien machen, sie kann dadurch niemals die unmittelbare
Anschauung ersetzen, die der Mann dadurch vom geschichtlichen Leben erhält,
daß er sich selbst darin vertieft. Die Feinheiten und die Wärme des innern
Seelenlebens wird das Weib, wenn sie gesund organisirt ist, ebenso lebhaft
empfinden, als der Mann, vielleicht noch lebhafter, und wenn sie zugleich die
Gabe der Darstellung besitzt, so wird sie diese Seite der Wirklichkeit mit
glücklichem Erfolg poetisch verarbeiten; was aber Arbeit ist, ernste, unver-
drossene, rücksichtslose, auf einen bestimmten Zweck gerichtete Arbeit, davon
kann sich eine Dame nie eine eindringende Vorstellung machen, weil man nur
das vollständig begreift, was man selbst durchmachen kann. Es gibt viele
einzelne Seiten der Geschichte, die einen vorwiegend romantischen Charakter
haben, in denen die individuellen Beziehungen hervortreten, die Beziehungen
des innern Lebens: solche Seiten trifft unsre Bemerkung nicht, aber man wird
die Darstellung einer solchen Zeit auch kaum einen historischen Roman im
eigentlichen Sinn nennen können. Nun wendet sich aber in unsrer vorwiegend
reflectirenden Zeit das Interesse vorzugsweise auf solche Zeiten und Charaktere,
welche der entschlossene, unbeugsame Verstand beherrscht. Man bewundert nicht
mehr die unbefangenen, gemüthvollen Naturen, die den Verwicklungen der


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0415" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99267"/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Neue Romane.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Der Cardinal von Richelieu.   Roman von Aline von Schlichtkrull.<lb/>
4 Bde.  Görlitz, Heyn. &#x2014;</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1469"> Das Talent, welches die Verfasserin in ihren beiden früheren Romanen:<lb/>
&#x201E;Eine verlorene Seele" und &#x201E;Morton Varney" entwickelt hat, läßt sich auch<lb/>
in dem neuen nicht verkennen; doch möchten wir sie in ihrem eignen Interesse<lb/>
warnen, nicht gar zu schnell zu produciren. Die Gabe der Erfindung ist eine<lb/>
glückliche; aber der Dichter, der aufrichtig gegen die Kunst &gt;se und nicht blos<lb/>
den Wunsch hegt, das Tagesbedürfniß zu befriedigen, muß zugleich eine strenge<lb/>
Kritik gegen sich ausüben, namentlich in unsrer Zeit, wo nicht blos die<lb/>
natürliche Unfertigkeit des Talents und der Bildung einer fortgesetzten Ver¬<lb/>
besserung bedarf, sondern wo man zugleich mit dem ganzen Wust der Re¬<lb/>
flexionen zu kämpfen hat, die sich aus der frühern Literatur herschreiben, und<lb/>
die das unbefangene Produciren verwirren. Abgesehen von den Einwendungen,<lb/>
die man gegen das Princip und die Haltung des Ganzen machen kann, hätte<lb/>
im einzelnen vieles besser gemacht sein können, wenn die Verfasserin sich einer<lb/>
strengeren Feile bedient hätte.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1470" next="#ID_1471"> Die Wahl des Gegenstandes ist keine glückliche; wir möchten überhaupt<lb/>
bezweifeln, ob die historische Novelle eine Gattung ist, auf welcher die Damen<lb/>
Lorbeeren einernten könnten. Eine Dame mag noch soviel Geist haben und<lb/>
noch so ernste Studien machen, sie kann dadurch niemals die unmittelbare<lb/>
Anschauung ersetzen, die der Mann dadurch vom geschichtlichen Leben erhält,<lb/>
daß er sich selbst darin vertieft. Die Feinheiten und die Wärme des innern<lb/>
Seelenlebens wird das Weib, wenn sie gesund organisirt ist, ebenso lebhaft<lb/>
empfinden, als der Mann, vielleicht noch lebhafter, und wenn sie zugleich die<lb/>
Gabe der Darstellung besitzt, so wird sie diese Seite der Wirklichkeit mit<lb/>
glücklichem Erfolg poetisch verarbeiten; was aber Arbeit ist, ernste, unver-<lb/>
drossene, rücksichtslose, auf einen bestimmten Zweck gerichtete Arbeit, davon<lb/>
kann sich eine Dame nie eine eindringende Vorstellung machen, weil man nur<lb/>
das vollständig begreift, was man selbst durchmachen kann. Es gibt viele<lb/>
einzelne Seiten der Geschichte, die einen vorwiegend romantischen Charakter<lb/>
haben, in denen die individuellen Beziehungen hervortreten, die Beziehungen<lb/>
des innern Lebens: solche Seiten trifft unsre Bemerkung nicht, aber man wird<lb/>
die Darstellung einer solchen Zeit auch kaum einen historischen Roman im<lb/>
eigentlichen Sinn nennen können. Nun wendet sich aber in unsrer vorwiegend<lb/>
reflectirenden Zeit das Interesse vorzugsweise auf solche Zeiten und Charaktere,<lb/>
welche der entschlossene, unbeugsame Verstand beherrscht. Man bewundert nicht<lb/>
mehr die unbefangenen, gemüthvollen Naturen, die den Verwicklungen der</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0415] Neue Romane. Der Cardinal von Richelieu. Roman von Aline von Schlichtkrull. 4 Bde. Görlitz, Heyn. — Das Talent, welches die Verfasserin in ihren beiden früheren Romanen: „Eine verlorene Seele" und „Morton Varney" entwickelt hat, läßt sich auch in dem neuen nicht verkennen; doch möchten wir sie in ihrem eignen Interesse warnen, nicht gar zu schnell zu produciren. Die Gabe der Erfindung ist eine glückliche; aber der Dichter, der aufrichtig gegen die Kunst >se und nicht blos den Wunsch hegt, das Tagesbedürfniß zu befriedigen, muß zugleich eine strenge Kritik gegen sich ausüben, namentlich in unsrer Zeit, wo nicht blos die natürliche Unfertigkeit des Talents und der Bildung einer fortgesetzten Ver¬ besserung bedarf, sondern wo man zugleich mit dem ganzen Wust der Re¬ flexionen zu kämpfen hat, die sich aus der frühern Literatur herschreiben, und die das unbefangene Produciren verwirren. Abgesehen von den Einwendungen, die man gegen das Princip und die Haltung des Ganzen machen kann, hätte im einzelnen vieles besser gemacht sein können, wenn die Verfasserin sich einer strengeren Feile bedient hätte. Die Wahl des Gegenstandes ist keine glückliche; wir möchten überhaupt bezweifeln, ob die historische Novelle eine Gattung ist, auf welcher die Damen Lorbeeren einernten könnten. Eine Dame mag noch soviel Geist haben und noch so ernste Studien machen, sie kann dadurch niemals die unmittelbare Anschauung ersetzen, die der Mann dadurch vom geschichtlichen Leben erhält, daß er sich selbst darin vertieft. Die Feinheiten und die Wärme des innern Seelenlebens wird das Weib, wenn sie gesund organisirt ist, ebenso lebhaft empfinden, als der Mann, vielleicht noch lebhafter, und wenn sie zugleich die Gabe der Darstellung besitzt, so wird sie diese Seite der Wirklichkeit mit glücklichem Erfolg poetisch verarbeiten; was aber Arbeit ist, ernste, unver- drossene, rücksichtslose, auf einen bestimmten Zweck gerichtete Arbeit, davon kann sich eine Dame nie eine eindringende Vorstellung machen, weil man nur das vollständig begreift, was man selbst durchmachen kann. Es gibt viele einzelne Seiten der Geschichte, die einen vorwiegend romantischen Charakter haben, in denen die individuellen Beziehungen hervortreten, die Beziehungen des innern Lebens: solche Seiten trifft unsre Bemerkung nicht, aber man wird die Darstellung einer solchen Zeit auch kaum einen historischen Roman im eigentlichen Sinn nennen können. Nun wendet sich aber in unsrer vorwiegend reflectirenden Zeit das Interesse vorzugsweise auf solche Zeiten und Charaktere, welche der entschlossene, unbeugsame Verstand beherrscht. Man bewundert nicht mehr die unbefangenen, gemüthvollen Naturen, die den Verwicklungen der

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/415
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/415>, abgerufen am 26.06.2024.