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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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der Poet. Dieser Enthusiasmus schließt den hellsten und kältesten Verstand
nicht aus. In den Mitteln hat der Kaiser stets die kaltblütigste Prüfung ein¬
treten lassen, aber seinen Zweck hat er sich nicht gesetzt: das Reich, zu dessen
Herrscher er berufen war, war auch sein Schicksal.

In jeder Nation finden wir in der Reihe ihrer Fürsten irgendeine Persön¬
lichkeit, in der wir ihren reinsten Typus wiederfinde". Wir meinen damit
nicht, jene großen schöpferischen Menschen, welche ihr Volk gleichsam mit
souveräner Gewalt in das Feld der Geschichte einführen, wie Peter der Große,
Friedrich der Große u. f. w. Ein schöpferischer Geist war Nikolaus nicht;
aber er war die Persönlichkeit, welche, wenn man uns den bildlichen Ausdruck
verstatten will, der Geist der Geschichte sich vorgestellt hatte, als er das
russische Reich entstehen ließ. Kaiser Alexander war diese Persönlichkeit nicht.
Obgleich wir uns durch seine poetische Erscheinung, durch seine Rhetorik, durch
den Schimmer seiner Menschenliebe und seines Idealismus nicht darüber
täuschen lassen, daß im wesentlichen seine Politik genau die Richtschnur ver¬
folgte, die Peter und Katharina vorgezeichnet, daß nicht das Heil des Menschen¬
geschlechtes, sondern das Gedeihen Rußlands sein innerstes Motiv war, so hatte
sich dieses Motiv 'seines Geistes doch nicht so vollständig bemächtigt, um
eine innere Einheit in ihm herzustellen. Er hatte wirklich eine schwärmerische
Anlage und wußte in seinem Gemüth sein Interesse für die Freiheit des
Menschen, für die Unabhängigkeit der Nationen u. f. w. mit seinen Verstandes¬
überzeugungen nicht in Einklang zu bringen. Aus dieser innern Dissonanz
erklären wir uns die Schwermuth seiner letzten Jahre. Kaiser Nikolaus da¬
gegen war von der ersten Zeit an mit sich selbst einig. Sein starker Geist
ging ganz in sein Lebensprincip auf; er war Russe seinem Glauben wie seinem
Verstände nach. Wol konnte er sich den Namen des Rechtgläubigen beilegen,
denn wenn wir auch nicht der Ansicht sind, daß er mit seinem feinen und
scharfen Verstände alle Einzelheiten der orientalischen Kirche gebilligt haben
wird, so war doch sein Glaube fest, daß an diese Kirche der Stern Rußlands
geknüpft sei und daß vor dem Gedanken der Größe Rußlands alle andern politischen
Gedanken verschwinden Mußten. Die russische Nation -- und eine solche gibt es in
der That trotz der bunten Zusammensetzung des russischen Reichs -- hat diese Ueber¬
einstimmung ihres Herrschers mit ihrem eignen idealen Willen auch mit sicherem
Jnstinct herausgefühlt und ihn abgöttisch verehrt. Der Wille ihres Kaisers
war ihr in der That der Gottes Wille. Die Reisenden, die uns vom Gegen¬
theil erzählen, sind in die Kernschicht des russischen Volks nicht eingedrungen.

Dieser Zauber ist nun geschwunden. Der Kaiser, dessen Wille mit der
Bestimmung Rußlands durchaus identisch war und der persönlich mit einer
Entschlossenheit und Ausdauer, die uns in Erstaunen setzen muß, selbst
ausführte, was er beschlossen, der jede Kraft seines Reichs willig oder un-


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der Poet. Dieser Enthusiasmus schließt den hellsten und kältesten Verstand
nicht aus. In den Mitteln hat der Kaiser stets die kaltblütigste Prüfung ein¬
treten lassen, aber seinen Zweck hat er sich nicht gesetzt: das Reich, zu dessen
Herrscher er berufen war, war auch sein Schicksal.

In jeder Nation finden wir in der Reihe ihrer Fürsten irgendeine Persön¬
lichkeit, in der wir ihren reinsten Typus wiederfinde». Wir meinen damit
nicht, jene großen schöpferischen Menschen, welche ihr Volk gleichsam mit
souveräner Gewalt in das Feld der Geschichte einführen, wie Peter der Große,
Friedrich der Große u. f. w. Ein schöpferischer Geist war Nikolaus nicht;
aber er war die Persönlichkeit, welche, wenn man uns den bildlichen Ausdruck
verstatten will, der Geist der Geschichte sich vorgestellt hatte, als er das
russische Reich entstehen ließ. Kaiser Alexander war diese Persönlichkeit nicht.
Obgleich wir uns durch seine poetische Erscheinung, durch seine Rhetorik, durch
den Schimmer seiner Menschenliebe und seines Idealismus nicht darüber
täuschen lassen, daß im wesentlichen seine Politik genau die Richtschnur ver¬
folgte, die Peter und Katharina vorgezeichnet, daß nicht das Heil des Menschen¬
geschlechtes, sondern das Gedeihen Rußlands sein innerstes Motiv war, so hatte
sich dieses Motiv 'seines Geistes doch nicht so vollständig bemächtigt, um
eine innere Einheit in ihm herzustellen. Er hatte wirklich eine schwärmerische
Anlage und wußte in seinem Gemüth sein Interesse für die Freiheit des
Menschen, für die Unabhängigkeit der Nationen u. f. w. mit seinen Verstandes¬
überzeugungen nicht in Einklang zu bringen. Aus dieser innern Dissonanz
erklären wir uns die Schwermuth seiner letzten Jahre. Kaiser Nikolaus da¬
gegen war von der ersten Zeit an mit sich selbst einig. Sein starker Geist
ging ganz in sein Lebensprincip auf; er war Russe seinem Glauben wie seinem
Verstände nach. Wol konnte er sich den Namen des Rechtgläubigen beilegen,
denn wenn wir auch nicht der Ansicht sind, daß er mit seinem feinen und
scharfen Verstände alle Einzelheiten der orientalischen Kirche gebilligt haben
wird, so war doch sein Glaube fest, daß an diese Kirche der Stern Rußlands
geknüpft sei und daß vor dem Gedanken der Größe Rußlands alle andern politischen
Gedanken verschwinden Mußten. Die russische Nation — und eine solche gibt es in
der That trotz der bunten Zusammensetzung des russischen Reichs — hat diese Ueber¬
einstimmung ihres Herrschers mit ihrem eignen idealen Willen auch mit sicherem
Jnstinct herausgefühlt und ihn abgöttisch verehrt. Der Wille ihres Kaisers
war ihr in der That der Gottes Wille. Die Reisenden, die uns vom Gegen¬
theil erzählen, sind in die Kernschicht des russischen Volks nicht eingedrungen.

Dieser Zauber ist nun geschwunden. Der Kaiser, dessen Wille mit der
Bestimmung Rußlands durchaus identisch war und der persönlich mit einer
Entschlossenheit und Ausdauer, die uns in Erstaunen setzen muß, selbst
ausführte, was er beschlossen, der jede Kraft seines Reichs willig oder un-


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[0411] der Poet. Dieser Enthusiasmus schließt den hellsten und kältesten Verstand nicht aus. In den Mitteln hat der Kaiser stets die kaltblütigste Prüfung ein¬ treten lassen, aber seinen Zweck hat er sich nicht gesetzt: das Reich, zu dessen Herrscher er berufen war, war auch sein Schicksal. In jeder Nation finden wir in der Reihe ihrer Fürsten irgendeine Persön¬ lichkeit, in der wir ihren reinsten Typus wiederfinde». Wir meinen damit nicht, jene großen schöpferischen Menschen, welche ihr Volk gleichsam mit souveräner Gewalt in das Feld der Geschichte einführen, wie Peter der Große, Friedrich der Große u. f. w. Ein schöpferischer Geist war Nikolaus nicht; aber er war die Persönlichkeit, welche, wenn man uns den bildlichen Ausdruck verstatten will, der Geist der Geschichte sich vorgestellt hatte, als er das russische Reich entstehen ließ. Kaiser Alexander war diese Persönlichkeit nicht. Obgleich wir uns durch seine poetische Erscheinung, durch seine Rhetorik, durch den Schimmer seiner Menschenliebe und seines Idealismus nicht darüber täuschen lassen, daß im wesentlichen seine Politik genau die Richtschnur ver¬ folgte, die Peter und Katharina vorgezeichnet, daß nicht das Heil des Menschen¬ geschlechtes, sondern das Gedeihen Rußlands sein innerstes Motiv war, so hatte sich dieses Motiv 'seines Geistes doch nicht so vollständig bemächtigt, um eine innere Einheit in ihm herzustellen. Er hatte wirklich eine schwärmerische Anlage und wußte in seinem Gemüth sein Interesse für die Freiheit des Menschen, für die Unabhängigkeit der Nationen u. f. w. mit seinen Verstandes¬ überzeugungen nicht in Einklang zu bringen. Aus dieser innern Dissonanz erklären wir uns die Schwermuth seiner letzten Jahre. Kaiser Nikolaus da¬ gegen war von der ersten Zeit an mit sich selbst einig. Sein starker Geist ging ganz in sein Lebensprincip auf; er war Russe seinem Glauben wie seinem Verstände nach. Wol konnte er sich den Namen des Rechtgläubigen beilegen, denn wenn wir auch nicht der Ansicht sind, daß er mit seinem feinen und scharfen Verstände alle Einzelheiten der orientalischen Kirche gebilligt haben wird, so war doch sein Glaube fest, daß an diese Kirche der Stern Rußlands geknüpft sei und daß vor dem Gedanken der Größe Rußlands alle andern politischen Gedanken verschwinden Mußten. Die russische Nation — und eine solche gibt es in der That trotz der bunten Zusammensetzung des russischen Reichs — hat diese Ueber¬ einstimmung ihres Herrschers mit ihrem eignen idealen Willen auch mit sicherem Jnstinct herausgefühlt und ihn abgöttisch verehrt. Der Wille ihres Kaisers war ihr in der That der Gottes Wille. Die Reisenden, die uns vom Gegen¬ theil erzählen, sind in die Kernschicht des russischen Volks nicht eingedrungen. Dieser Zauber ist nun geschwunden. Der Kaiser, dessen Wille mit der Bestimmung Rußlands durchaus identisch war und der persönlich mit einer Entschlossenheit und Ausdauer, die uns in Erstaunen setzen muß, selbst ausführte, was er beschlossen, der jede Kraft seines Reichs willig oder un- 5-1 *

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/411>, abgerufen am 26.06.2024.