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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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entscheidenden Einfluß; in beiden Richtungen ist die Macht seiner Persönlichkeit
nicht zu ersetzen. Im Innern Rußlands war er absoluter Selbstherrscher in
einem Maße, wie es selten in der Geschichte vorgekommen sein mag. Den
Selbstherrscher macht nicht allein die unbeschränkte Verfassung; nur dem An¬
schein nach ist in einem despotischen Staat die Gewalt dem freien Belieben
der Laune des Herrschers übergeben, das Ende Peters Hi. und Pauls hat ge¬
zeigt, daß auch ohne geschriebene Verfassung die innere Natur und Beschaffen¬
heit eines Staats gegen die Zwecklosigkeit des Einzelnen reagirt. Nikolaus
war dadurch Selbstherrscher, daß er seine Persönlichkeit vollständig mit dem
Princip und mit dem Geschick seines Reiches verwebte, und daß er geistig seinen
Umgebungen ebenso überlegen war, als an unmittelbarer Macht. DaS Schicksal,
auf den Höhen des Lebens geboren zu sein, ist kein beneidenswerthes. Es sind
von dem verstorbenen Kaiser soviel menschlich schöne Züge bekannt, sein Privat-
und Familienleben war so rein und unsträflich und seine Persönlichkeit machte
auf jeden, der ihr unbefangen gegeuübertrat, einen so wohlthuenden, bezaubern¬
den Eindruck, daß nicht grade die servile Furcht vor der Gewalt nöthig war,
um ihm das Gefühl der Verehrung entgegenzubringen; und doch wenn wir
auf die Handlungen seiner langen Regierung Hinsehen, wer wollte sich eines
inneren Schauders erwehren? Mit eisernem Fuß hat der Kaiser, der persönlich
jede Aeußerung freier Manneskraft zu würdigen wußte, in seinem Reiche alles
niedergetreten, was nur eine Spur von Selbstsucht zeigte; während er selbst
mit ungewöhnlicher Tiefe in die europäische Bildung eingetreten war, hat er
zwischen die Bildung Europas und sein weites Reich eine Scheidemauer auf¬
gerichtet, durch welche kaum ein Lichtfunken hindurchdrang; ausgerüstet mit allen
Mitteln, die höchsten und feinsten Regungen des Religionsgefühls, die nur
aus der freien Entwicklung der Individualität hervorgehen können, nachzufühlen,
hat er sich mit der engherzigsten und geistlosesten aller Religionsformen iden-
tificirt und mit Gewalt oder.List alles zerstört, was sich dieser in den Weg
stellte; mit einem ernsten Rechts- und Ehrgefühl begabt, hat er das Gewebe
des Betrugs, das in der Verwaltung seines Reiches herrschte, zwar nicht ge¬
flissentlich genährt, er hat es aber geduldet als eines der Elemente, auf denen
der Koloß seines Thrones aufgerichtet stand; und man glaube nicht, daß er
etwa wie der Intriguant in einem Theaterstück einem kalten, mit dem Verstände
angelegten Zweck seine besseren Gefühle zum Opfer gebracht: es war vielmehr
eine dämonische Kraft, die ihn an seine Bestimmung band, und seine mensch¬
liche Natur erlag gewissermaßen der Größe seines Berufs. Nur wer ganz in
den kleinlichen Sorgen des gewöhnlichen Lebens verkümmert ist, wird bei der
Beurtheilung ungewöhnlicher Erscheinungen jenem nüchternen Pragmatismus
huldigen: der Mann des Schicksals ist ebenso von einer aus Verstandesmotiven
nicht herzuleitenden Wärme durchdrungen, als der Schwärmer, der Visionär,


entscheidenden Einfluß; in beiden Richtungen ist die Macht seiner Persönlichkeit
nicht zu ersetzen. Im Innern Rußlands war er absoluter Selbstherrscher in
einem Maße, wie es selten in der Geschichte vorgekommen sein mag. Den
Selbstherrscher macht nicht allein die unbeschränkte Verfassung; nur dem An¬
schein nach ist in einem despotischen Staat die Gewalt dem freien Belieben
der Laune des Herrschers übergeben, das Ende Peters Hi. und Pauls hat ge¬
zeigt, daß auch ohne geschriebene Verfassung die innere Natur und Beschaffen¬
heit eines Staats gegen die Zwecklosigkeit des Einzelnen reagirt. Nikolaus
war dadurch Selbstherrscher, daß er seine Persönlichkeit vollständig mit dem
Princip und mit dem Geschick seines Reiches verwebte, und daß er geistig seinen
Umgebungen ebenso überlegen war, als an unmittelbarer Macht. DaS Schicksal,
auf den Höhen des Lebens geboren zu sein, ist kein beneidenswerthes. Es sind
von dem verstorbenen Kaiser soviel menschlich schöne Züge bekannt, sein Privat-
und Familienleben war so rein und unsträflich und seine Persönlichkeit machte
auf jeden, der ihr unbefangen gegeuübertrat, einen so wohlthuenden, bezaubern¬
den Eindruck, daß nicht grade die servile Furcht vor der Gewalt nöthig war,
um ihm das Gefühl der Verehrung entgegenzubringen; und doch wenn wir
auf die Handlungen seiner langen Regierung Hinsehen, wer wollte sich eines
inneren Schauders erwehren? Mit eisernem Fuß hat der Kaiser, der persönlich
jede Aeußerung freier Manneskraft zu würdigen wußte, in seinem Reiche alles
niedergetreten, was nur eine Spur von Selbstsucht zeigte; während er selbst
mit ungewöhnlicher Tiefe in die europäische Bildung eingetreten war, hat er
zwischen die Bildung Europas und sein weites Reich eine Scheidemauer auf¬
gerichtet, durch welche kaum ein Lichtfunken hindurchdrang; ausgerüstet mit allen
Mitteln, die höchsten und feinsten Regungen des Religionsgefühls, die nur
aus der freien Entwicklung der Individualität hervorgehen können, nachzufühlen,
hat er sich mit der engherzigsten und geistlosesten aller Religionsformen iden-
tificirt und mit Gewalt oder.List alles zerstört, was sich dieser in den Weg
stellte; mit einem ernsten Rechts- und Ehrgefühl begabt, hat er das Gewebe
des Betrugs, das in der Verwaltung seines Reiches herrschte, zwar nicht ge¬
flissentlich genährt, er hat es aber geduldet als eines der Elemente, auf denen
der Koloß seines Thrones aufgerichtet stand; und man glaube nicht, daß er
etwa wie der Intriguant in einem Theaterstück einem kalten, mit dem Verstände
angelegten Zweck seine besseren Gefühle zum Opfer gebracht: es war vielmehr
eine dämonische Kraft, die ihn an seine Bestimmung band, und seine mensch¬
liche Natur erlag gewissermaßen der Größe seines Berufs. Nur wer ganz in
den kleinlichen Sorgen des gewöhnlichen Lebens verkümmert ist, wird bei der
Beurtheilung ungewöhnlicher Erscheinungen jenem nüchternen Pragmatismus
huldigen: der Mann des Schicksals ist ebenso von einer aus Verstandesmotiven
nicht herzuleitenden Wärme durchdrungen, als der Schwärmer, der Visionär,


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[0410] entscheidenden Einfluß; in beiden Richtungen ist die Macht seiner Persönlichkeit nicht zu ersetzen. Im Innern Rußlands war er absoluter Selbstherrscher in einem Maße, wie es selten in der Geschichte vorgekommen sein mag. Den Selbstherrscher macht nicht allein die unbeschränkte Verfassung; nur dem An¬ schein nach ist in einem despotischen Staat die Gewalt dem freien Belieben der Laune des Herrschers übergeben, das Ende Peters Hi. und Pauls hat ge¬ zeigt, daß auch ohne geschriebene Verfassung die innere Natur und Beschaffen¬ heit eines Staats gegen die Zwecklosigkeit des Einzelnen reagirt. Nikolaus war dadurch Selbstherrscher, daß er seine Persönlichkeit vollständig mit dem Princip und mit dem Geschick seines Reiches verwebte, und daß er geistig seinen Umgebungen ebenso überlegen war, als an unmittelbarer Macht. DaS Schicksal, auf den Höhen des Lebens geboren zu sein, ist kein beneidenswerthes. Es sind von dem verstorbenen Kaiser soviel menschlich schöne Züge bekannt, sein Privat- und Familienleben war so rein und unsträflich und seine Persönlichkeit machte auf jeden, der ihr unbefangen gegeuübertrat, einen so wohlthuenden, bezaubern¬ den Eindruck, daß nicht grade die servile Furcht vor der Gewalt nöthig war, um ihm das Gefühl der Verehrung entgegenzubringen; und doch wenn wir auf die Handlungen seiner langen Regierung Hinsehen, wer wollte sich eines inneren Schauders erwehren? Mit eisernem Fuß hat der Kaiser, der persönlich jede Aeußerung freier Manneskraft zu würdigen wußte, in seinem Reiche alles niedergetreten, was nur eine Spur von Selbstsucht zeigte; während er selbst mit ungewöhnlicher Tiefe in die europäische Bildung eingetreten war, hat er zwischen die Bildung Europas und sein weites Reich eine Scheidemauer auf¬ gerichtet, durch welche kaum ein Lichtfunken hindurchdrang; ausgerüstet mit allen Mitteln, die höchsten und feinsten Regungen des Religionsgefühls, die nur aus der freien Entwicklung der Individualität hervorgehen können, nachzufühlen, hat er sich mit der engherzigsten und geistlosesten aller Religionsformen iden- tificirt und mit Gewalt oder.List alles zerstört, was sich dieser in den Weg stellte; mit einem ernsten Rechts- und Ehrgefühl begabt, hat er das Gewebe des Betrugs, das in der Verwaltung seines Reiches herrschte, zwar nicht ge¬ flissentlich genährt, er hat es aber geduldet als eines der Elemente, auf denen der Koloß seines Thrones aufgerichtet stand; und man glaube nicht, daß er etwa wie der Intriguant in einem Theaterstück einem kalten, mit dem Verstände angelegten Zweck seine besseren Gefühle zum Opfer gebracht: es war vielmehr eine dämonische Kraft, die ihn an seine Bestimmung band, und seine mensch¬ liche Natur erlag gewissermaßen der Größe seines Berufs. Nur wer ganz in den kleinlichen Sorgen des gewöhnlichen Lebens verkümmert ist, wird bei der Beurtheilung ungewöhnlicher Erscheinungen jenem nüchternen Pragmatismus huldigen: der Mann des Schicksals ist ebenso von einer aus Verstandesmotiven nicht herzuleitenden Wärme durchdrungen, als der Schwärmer, der Visionär,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/410>, abgerufen am 26.06.2024.