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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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wendigkeit wieder zurück auf die sichere, richtige Bahn. Der Wissenschaft selbst
bringt daher dieses Jagen wenig Gefahr, denn es geschieht auf fester, geord¬
neter Grundlage und wird stets von neuem wieder durch bestimmte, schon ge-^
wonnene Gesetze geregelt. Die Gefahr liegt auf andrer Seite. Die Natur-
forschung ist keine selbstische Autokratie, sie steht im Dienste der gesammten
Menschheitsthätigkeit, der Landwirthschaft, des Bergbaues, der Industrie und
des Handels. Keine Entdeckung wird auf ihrem unermeßlichen Gebiete ge¬
macht, die nicht alsbald einem dieser ! Zweige zugutkäme. Kein Wunder
daher, daß die Nothwendigkeit allgemeinerer Verbreitung naturwissenschaftlicher
Kenntnisse von den Lehrenden ebensogut wie von den Lehrbcdürftigen ein¬
gesehen worden ist, daß die neuere Zeit von einem in ihrem Schoße auf¬
gewachsenen Menschen ein bestimmtes Maß davon als Bedingung der Bildung
verlangt.

Seit Liebig seine organische Chemie in Beziehung auf Agricultur und
Pflanzenvhystologie, die Thierchemie und die chemischen Briefe, Schleiden
sein Leben der Pflanze und vor allen andern Humboldt das umfassende
Sammelwerk Kosmos geschrieben hat -- ist recht ersichtlich geworden, daß der
Schillersche Spruch "wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun" --
eine Wahrheit ist. Aber Kärrner sind sehr nothwendige Arbeitsleute bei einem
großen Bau. Und deshalb ist das Verdienst derjenigen nicht zu schmälern,
welche von den reichen Tafeln jener Wissensfürsten stattliche Schüsseln abho¬
ben, um sie in kleinen mundgerechter Portionen wieder an den großen Haufen
des Volks zu vertheilen. Wir wollen die Streitfrage hier nicht erörtern, ob
die Wissenschaft an und für sich populär gemacht werden könne und dürfe,
und nur bemerken, daß noch kein Begriff so vielsinnig gedeutet worden ist
wie derjenige der Popularität. Je nach seiner Auslegung ist viel unter dieser
Firma erdicht, mehr aber noch gesündigt worden. Die Flut der sogenannten
volkstümlichen Literatur, welche sich die Aufgabe stellt, die Wissenschaft dem
minder Gebildeten zugänglich zu machen, wird um so bedenklicher, als dadurch
einmal der gefährlichen Krankheit unsrer Zeit, der Halbheit, Vorschub geleistet,
auf anderer Seite aber wahrhaft unverantwortlicher Mischmasch von Unver¬
standenem und Unverdautem in die Welt gesetzt wird. Besonders auffallend
treten diese Uebelstände in der periodischen Literatur zutage, welche es sich
neuerdings angelegen sein läßt, auch naturwissenschaftliche Äufklärungsversuche
zu machen. Neben manchem Guten und Gediegenen tauchen hier soviele Ver¬
kehrtheiten aus, daß sich der Mann von Fach mit Widerwillen und Bedauern
davon abwendet, wenn ihm sein böser Stern einmal ein solches Blatt vor
die Augen führt. In dergleichen Ercursionen ersetzt die Phrase den Sinn und
der nach Belehrung dürstende Leser erhält ein unreines Getränk eingeschenkt,
das ihm die Lust zu Weiterem benimmt. Es ist nicht leicht, im guten Sinne


wendigkeit wieder zurück auf die sichere, richtige Bahn. Der Wissenschaft selbst
bringt daher dieses Jagen wenig Gefahr, denn es geschieht auf fester, geord¬
neter Grundlage und wird stets von neuem wieder durch bestimmte, schon ge-^
wonnene Gesetze geregelt. Die Gefahr liegt auf andrer Seite. Die Natur-
forschung ist keine selbstische Autokratie, sie steht im Dienste der gesammten
Menschheitsthätigkeit, der Landwirthschaft, des Bergbaues, der Industrie und
des Handels. Keine Entdeckung wird auf ihrem unermeßlichen Gebiete ge¬
macht, die nicht alsbald einem dieser ! Zweige zugutkäme. Kein Wunder
daher, daß die Nothwendigkeit allgemeinerer Verbreitung naturwissenschaftlicher
Kenntnisse von den Lehrenden ebensogut wie von den Lehrbcdürftigen ein¬
gesehen worden ist, daß die neuere Zeit von einem in ihrem Schoße auf¬
gewachsenen Menschen ein bestimmtes Maß davon als Bedingung der Bildung
verlangt.

Seit Liebig seine organische Chemie in Beziehung auf Agricultur und
Pflanzenvhystologie, die Thierchemie und die chemischen Briefe, Schleiden
sein Leben der Pflanze und vor allen andern Humboldt das umfassende
Sammelwerk Kosmos geschrieben hat — ist recht ersichtlich geworden, daß der
Schillersche Spruch „wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun" —
eine Wahrheit ist. Aber Kärrner sind sehr nothwendige Arbeitsleute bei einem
großen Bau. Und deshalb ist das Verdienst derjenigen nicht zu schmälern,
welche von den reichen Tafeln jener Wissensfürsten stattliche Schüsseln abho¬
ben, um sie in kleinen mundgerechter Portionen wieder an den großen Haufen
des Volks zu vertheilen. Wir wollen die Streitfrage hier nicht erörtern, ob
die Wissenschaft an und für sich populär gemacht werden könne und dürfe,
und nur bemerken, daß noch kein Begriff so vielsinnig gedeutet worden ist
wie derjenige der Popularität. Je nach seiner Auslegung ist viel unter dieser
Firma erdicht, mehr aber noch gesündigt worden. Die Flut der sogenannten
volkstümlichen Literatur, welche sich die Aufgabe stellt, die Wissenschaft dem
minder Gebildeten zugänglich zu machen, wird um so bedenklicher, als dadurch
einmal der gefährlichen Krankheit unsrer Zeit, der Halbheit, Vorschub geleistet,
auf anderer Seite aber wahrhaft unverantwortlicher Mischmasch von Unver¬
standenem und Unverdautem in die Welt gesetzt wird. Besonders auffallend
treten diese Uebelstände in der periodischen Literatur zutage, welche es sich
neuerdings angelegen sein läßt, auch naturwissenschaftliche Äufklärungsversuche
zu machen. Neben manchem Guten und Gediegenen tauchen hier soviele Ver¬
kehrtheiten aus, daß sich der Mann von Fach mit Widerwillen und Bedauern
davon abwendet, wenn ihm sein böser Stern einmal ein solches Blatt vor
die Augen führt. In dergleichen Ercursionen ersetzt die Phrase den Sinn und
der nach Belehrung dürstende Leser erhält ein unreines Getränk eingeschenkt,
das ihm die Lust zu Weiterem benimmt. Es ist nicht leicht, im guten Sinne


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[0388] wendigkeit wieder zurück auf die sichere, richtige Bahn. Der Wissenschaft selbst bringt daher dieses Jagen wenig Gefahr, denn es geschieht auf fester, geord¬ neter Grundlage und wird stets von neuem wieder durch bestimmte, schon ge-^ wonnene Gesetze geregelt. Die Gefahr liegt auf andrer Seite. Die Natur- forschung ist keine selbstische Autokratie, sie steht im Dienste der gesammten Menschheitsthätigkeit, der Landwirthschaft, des Bergbaues, der Industrie und des Handels. Keine Entdeckung wird auf ihrem unermeßlichen Gebiete ge¬ macht, die nicht alsbald einem dieser ! Zweige zugutkäme. Kein Wunder daher, daß die Nothwendigkeit allgemeinerer Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse von den Lehrenden ebensogut wie von den Lehrbcdürftigen ein¬ gesehen worden ist, daß die neuere Zeit von einem in ihrem Schoße auf¬ gewachsenen Menschen ein bestimmtes Maß davon als Bedingung der Bildung verlangt. Seit Liebig seine organische Chemie in Beziehung auf Agricultur und Pflanzenvhystologie, die Thierchemie und die chemischen Briefe, Schleiden sein Leben der Pflanze und vor allen andern Humboldt das umfassende Sammelwerk Kosmos geschrieben hat — ist recht ersichtlich geworden, daß der Schillersche Spruch „wenn die Könige baun, haben die Kärrner zu thun" — eine Wahrheit ist. Aber Kärrner sind sehr nothwendige Arbeitsleute bei einem großen Bau. Und deshalb ist das Verdienst derjenigen nicht zu schmälern, welche von den reichen Tafeln jener Wissensfürsten stattliche Schüsseln abho¬ ben, um sie in kleinen mundgerechter Portionen wieder an den großen Haufen des Volks zu vertheilen. Wir wollen die Streitfrage hier nicht erörtern, ob die Wissenschaft an und für sich populär gemacht werden könne und dürfe, und nur bemerken, daß noch kein Begriff so vielsinnig gedeutet worden ist wie derjenige der Popularität. Je nach seiner Auslegung ist viel unter dieser Firma erdicht, mehr aber noch gesündigt worden. Die Flut der sogenannten volkstümlichen Literatur, welche sich die Aufgabe stellt, die Wissenschaft dem minder Gebildeten zugänglich zu machen, wird um so bedenklicher, als dadurch einmal der gefährlichen Krankheit unsrer Zeit, der Halbheit, Vorschub geleistet, auf anderer Seite aber wahrhaft unverantwortlicher Mischmasch von Unver¬ standenem und Unverdautem in die Welt gesetzt wird. Besonders auffallend treten diese Uebelstände in der periodischen Literatur zutage, welche es sich neuerdings angelegen sein läßt, auch naturwissenschaftliche Äufklärungsversuche zu machen. Neben manchem Guten und Gediegenen tauchen hier soviele Ver¬ kehrtheiten aus, daß sich der Mann von Fach mit Widerwillen und Bedauern davon abwendet, wenn ihm sein böser Stern einmal ein solches Blatt vor die Augen führt. In dergleichen Ercursionen ersetzt die Phrase den Sinn und der nach Belehrung dürstende Leser erhält ein unreines Getränk eingeschenkt, das ihm die Lust zu Weiterem benimmt. Es ist nicht leicht, im guten Sinne

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/388>, abgerufen am 26.06.2024.