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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Wer die Geschichte der betreffenden Periode kennt, dem wird nicht ent¬
gangen sein, wie alle Umstände es wahrscheinlich machen, daß am baltischen
Meere es noch ganz andere Dinge waren, als die Eroberung von Esthland,
Liefland und Ingermanland (Upstädter Frieden 1721), welche Peter I. sich
vorgesetzt hatte. Das Auftreten seiner Truppen vor Danzig, in Mecklenburg
und den nordalbingischen Ländern, seine Kreuzfahrt nach Kopenhagen u. in. a.
geben die Belege hierfür. Als er starb (Septemb. ^1723), geschah es'wol in
der Ueberzeugung, von seinen nächsten Nachfolgern das ausgeführt zu sehen,
wofür es ihm an Gelegenheit und Zeit gemangelt hatte. Aber durch eine
glückliche Fügung des Geschicks, wie sich Deutschland solcher nur wenige rüh¬
men kann, gewannen die damals von Rußland bedrohten Lande alsbald einen
festen Kern und inneren politischen Halt durch die sich eben damals aus staat¬
licher Bedeutungslosigkeit mehr und mehr emporraffende preußische Monarchie,
die dem Zarenreiche schon gewachsen war, noch ehe Friedrich II. bei Mollwitz
zum ersten Mal den Degen gezogen hatte.

Es ist von unberechenbar segensreichen Folgen gewesen, daß
in der Periode, wo der größte Herrschergeist, welcher jemals den
russischen Geschicken leitend vorstand, über^ die Mittel des Zar-
thums gebot, Katharina II., die fünfte europäische Großmacht,
und zwar grade auf dem bedrohten Punkte, wo der Einbruch
russischerseits in das westeuropäische Staatensystem erfolgt sein
würde, fertig dastand; mehr noch aber ist es bedeutungsvoll zu nennen,
daß es dem Gründer des preußischen GroßstaatS vergönnt war, während der
Periode, in welcher die Kraft seiner gefürchteten Gegnerin noch vom Alter
ungebrochen war (bis 1786) mit eigner Hand das Steuer des Reiches zu
führen.

Preußens Politik von damals steht, mit Ausnahme eines einzigen Fehl¬
tritts, tadelfrei da. Es wäre vom Standpunkt Friedrichs des Großen aus
richtiger gewesen, Polen zu kräftigen und es in ähnlicher Weise zu stützen,
wie heutzutage die Westmächte der Türkei aufzuhelfen bemüht sind, anstatt
es zu zerstückeln. Wenn es eine Entschuldigung für den großen König gibt,
so kann sie nur in seiner etwaigen Ueberzeugung gesucht werden, daß Polen
unrettbar der Anarchie verfallen war und auf die Dauer seine Unabhängigkeit
nicht bewahren konnte. Soviel ist gewiß, daß mit Friedrich, die preußische
Großmachtspolitik zu Grabe getragen worden ist. Was dieser Macht seitdem
besonders gemangelt hat, ist ein bestimmtes System. Eine Regierung zweiten
Ranges kann ein solches entbehren; ein Großstaat verzichtet auf seine Stel¬
lung, sowol wenn er aufhört, in den Angelegenheiten des Welttheils seine
Stimme geltcndzumachen, als auch wenn er dabei der Consequenz ermangelt,
die eben nur ein System der Politik zu verleihen vermag. Der einzige Staats-


Wer die Geschichte der betreffenden Periode kennt, dem wird nicht ent¬
gangen sein, wie alle Umstände es wahrscheinlich machen, daß am baltischen
Meere es noch ganz andere Dinge waren, als die Eroberung von Esthland,
Liefland und Ingermanland (Upstädter Frieden 1721), welche Peter I. sich
vorgesetzt hatte. Das Auftreten seiner Truppen vor Danzig, in Mecklenburg
und den nordalbingischen Ländern, seine Kreuzfahrt nach Kopenhagen u. in. a.
geben die Belege hierfür. Als er starb (Septemb. ^1723), geschah es'wol in
der Ueberzeugung, von seinen nächsten Nachfolgern das ausgeführt zu sehen,
wofür es ihm an Gelegenheit und Zeit gemangelt hatte. Aber durch eine
glückliche Fügung des Geschicks, wie sich Deutschland solcher nur wenige rüh¬
men kann, gewannen die damals von Rußland bedrohten Lande alsbald einen
festen Kern und inneren politischen Halt durch die sich eben damals aus staat¬
licher Bedeutungslosigkeit mehr und mehr emporraffende preußische Monarchie,
die dem Zarenreiche schon gewachsen war, noch ehe Friedrich II. bei Mollwitz
zum ersten Mal den Degen gezogen hatte.

Es ist von unberechenbar segensreichen Folgen gewesen, daß
in der Periode, wo der größte Herrschergeist, welcher jemals den
russischen Geschicken leitend vorstand, über^ die Mittel des Zar-
thums gebot, Katharina II., die fünfte europäische Großmacht,
und zwar grade auf dem bedrohten Punkte, wo der Einbruch
russischerseits in das westeuropäische Staatensystem erfolgt sein
würde, fertig dastand; mehr noch aber ist es bedeutungsvoll zu nennen,
daß es dem Gründer des preußischen GroßstaatS vergönnt war, während der
Periode, in welcher die Kraft seiner gefürchteten Gegnerin noch vom Alter
ungebrochen war (bis 1786) mit eigner Hand das Steuer des Reiches zu
führen.

Preußens Politik von damals steht, mit Ausnahme eines einzigen Fehl¬
tritts, tadelfrei da. Es wäre vom Standpunkt Friedrichs des Großen aus
richtiger gewesen, Polen zu kräftigen und es in ähnlicher Weise zu stützen,
wie heutzutage die Westmächte der Türkei aufzuhelfen bemüht sind, anstatt
es zu zerstückeln. Wenn es eine Entschuldigung für den großen König gibt,
so kann sie nur in seiner etwaigen Ueberzeugung gesucht werden, daß Polen
unrettbar der Anarchie verfallen war und auf die Dauer seine Unabhängigkeit
nicht bewahren konnte. Soviel ist gewiß, daß mit Friedrich, die preußische
Großmachtspolitik zu Grabe getragen worden ist. Was dieser Macht seitdem
besonders gemangelt hat, ist ein bestimmtes System. Eine Regierung zweiten
Ranges kann ein solches entbehren; ein Großstaat verzichtet auf seine Stel¬
lung, sowol wenn er aufhört, in den Angelegenheiten des Welttheils seine
Stimme geltcndzumachen, als auch wenn er dabei der Consequenz ermangelt,
die eben nur ein System der Politik zu verleihen vermag. Der einzige Staats-


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[0038] Wer die Geschichte der betreffenden Periode kennt, dem wird nicht ent¬ gangen sein, wie alle Umstände es wahrscheinlich machen, daß am baltischen Meere es noch ganz andere Dinge waren, als die Eroberung von Esthland, Liefland und Ingermanland (Upstädter Frieden 1721), welche Peter I. sich vorgesetzt hatte. Das Auftreten seiner Truppen vor Danzig, in Mecklenburg und den nordalbingischen Ländern, seine Kreuzfahrt nach Kopenhagen u. in. a. geben die Belege hierfür. Als er starb (Septemb. ^1723), geschah es'wol in der Ueberzeugung, von seinen nächsten Nachfolgern das ausgeführt zu sehen, wofür es ihm an Gelegenheit und Zeit gemangelt hatte. Aber durch eine glückliche Fügung des Geschicks, wie sich Deutschland solcher nur wenige rüh¬ men kann, gewannen die damals von Rußland bedrohten Lande alsbald einen festen Kern und inneren politischen Halt durch die sich eben damals aus staat¬ licher Bedeutungslosigkeit mehr und mehr emporraffende preußische Monarchie, die dem Zarenreiche schon gewachsen war, noch ehe Friedrich II. bei Mollwitz zum ersten Mal den Degen gezogen hatte. Es ist von unberechenbar segensreichen Folgen gewesen, daß in der Periode, wo der größte Herrschergeist, welcher jemals den russischen Geschicken leitend vorstand, über^ die Mittel des Zar- thums gebot, Katharina II., die fünfte europäische Großmacht, und zwar grade auf dem bedrohten Punkte, wo der Einbruch russischerseits in das westeuropäische Staatensystem erfolgt sein würde, fertig dastand; mehr noch aber ist es bedeutungsvoll zu nennen, daß es dem Gründer des preußischen GroßstaatS vergönnt war, während der Periode, in welcher die Kraft seiner gefürchteten Gegnerin noch vom Alter ungebrochen war (bis 1786) mit eigner Hand das Steuer des Reiches zu führen. Preußens Politik von damals steht, mit Ausnahme eines einzigen Fehl¬ tritts, tadelfrei da. Es wäre vom Standpunkt Friedrichs des Großen aus richtiger gewesen, Polen zu kräftigen und es in ähnlicher Weise zu stützen, wie heutzutage die Westmächte der Türkei aufzuhelfen bemüht sind, anstatt es zu zerstückeln. Wenn es eine Entschuldigung für den großen König gibt, so kann sie nur in seiner etwaigen Ueberzeugung gesucht werden, daß Polen unrettbar der Anarchie verfallen war und auf die Dauer seine Unabhängigkeit nicht bewahren konnte. Soviel ist gewiß, daß mit Friedrich, die preußische Großmachtspolitik zu Grabe getragen worden ist. Was dieser Macht seitdem besonders gemangelt hat, ist ein bestimmtes System. Eine Regierung zweiten Ranges kann ein solches entbehren; ein Großstaat verzichtet auf seine Stel¬ lung, sowol wenn er aufhört, in den Angelegenheiten des Welttheils seine Stimme geltcndzumachen, als auch wenn er dabei der Consequenz ermangelt, die eben nur ein System der Politik zu verleihen vermag. Der einzige Staats-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/38>, abgerufen am 29.06.2024.