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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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wichts. Seitdem ein europäisches Staatensystem besteht, ist dieses Gleichge¬
wicht zu dreien Malen ernstlich bedroht gewesen. Zuerst durch die Uebermacht
des Hauses Habsburg: sie zu brechen war Richelieus großer Beruf. Aber
nicht sobald war den universalmonarchistischen Bestrebungen Oestreichs ein
Ziel gesetzt, als Frankreich denselben Weg betrat, und zum ersten Mal unter
Ludwig X>V. die Unabhängigkeit der Staatenwelt, in deren Mitte es ein
ihm günstiger Zufall gestellt hatte / zu bedrohen begann. Da wird Wilhelm
von Oranien die Seele der Bündnisse, welche bestrebt sind, den Uebergriffen
und Anmaßungen einer durch eine wunderbare Centralisation gestärkten Monar¬
chie Schranken entgegenzusetzen. Der zweite Versuch Frankreichs, sich die
Borherrschaft in Europa anzueignen, war noch bedrohlicher für den Welttheil,
weil unübertroffene materielle Mittel in der Hand Napoleons mit einer un¬
vergleichlichen Verwendungskunst sich einem. Man hat fälschlich behauptet,
daß Rußland den europäischen Continent von der französischen Universalmonar¬
chie zu jener Zeit errettet habe. Die wahren Retter waren England und
Deutschland', im besondern das preußische Volk.

Der große Corse war kaum besiegt, als sich drohend im Osten eine neue
Gefahr zu zeigen begann. Napoleon selbst signalisirte dieselbe zuerst von
Se. Helena her durch einen in aller Munde lebenden Ausspruch. Deßunge-
achtet dauerte es eine geraume Zeit, bevor den Staatsmännern, geschweige
denn den Massen, die Gefahr der Lage einleuchtete. Auf dem Wiener Kongreß
scheint niemand den ganzen Umfang der Drohniß erkannt zu haben.

Langsam hatte Rußland, seit hundert Jahren ziemlich nahe an den Grenzen
des civilisirten Europas lagernd, sich entwickelt. Als ihm, unter Peter l.,
zuerst der Gedanke kam, in diesem Welttheil eine große Rolle zu überneh¬
men, fand es sich als eine Nation von zwanzig Millionen Menschen, die aber
noch ziemlich abgeschieden lag von dem eigentlichen Theater der politischen
Actionen. Was es vor allen Dingen zu gewinnen bemüht sein mußte, das
war eine unmittelbare Berührung mit dem Meere und mit dem westeuropäi¬
schen Staatensystem. Aus diesem Streben ergaben sich sür seine Politik zwei
Fronten, von denen die eine gegen Schweden, welches die Länder zwischen
Rußland und dem baltischen Meere, und die ändere gegen Polen gezogen
war, welches diejenigen umfaßte, welche sich zwischen ihm und den beiden
deutschen Großstaaten, Oestreich und Preußen, einschoben. So stark indeß
war schon damals die Macht des Dranges, welcher Rußland gegen den Bos¬
porus zieht, daß eine dritte Fronte gegen das türkische Reich sich wie von
selbst fand. Die Rückwerfung Schwedens und die Vernichtung seines 'Ein¬
flusses im Norden führte noch Peter l. selbst aus. Er erlebte den Triumph
seiner Zlotten auf der Ostsee. Die Zerstörung Polens, und zwar von Grund
aus, war aber das Werk der "großen" Katharina it.


wichts. Seitdem ein europäisches Staatensystem besteht, ist dieses Gleichge¬
wicht zu dreien Malen ernstlich bedroht gewesen. Zuerst durch die Uebermacht
des Hauses Habsburg: sie zu brechen war Richelieus großer Beruf. Aber
nicht sobald war den universalmonarchistischen Bestrebungen Oestreichs ein
Ziel gesetzt, als Frankreich denselben Weg betrat, und zum ersten Mal unter
Ludwig X>V. die Unabhängigkeit der Staatenwelt, in deren Mitte es ein
ihm günstiger Zufall gestellt hatte / zu bedrohen begann. Da wird Wilhelm
von Oranien die Seele der Bündnisse, welche bestrebt sind, den Uebergriffen
und Anmaßungen einer durch eine wunderbare Centralisation gestärkten Monar¬
chie Schranken entgegenzusetzen. Der zweite Versuch Frankreichs, sich die
Borherrschaft in Europa anzueignen, war noch bedrohlicher für den Welttheil,
weil unübertroffene materielle Mittel in der Hand Napoleons mit einer un¬
vergleichlichen Verwendungskunst sich einem. Man hat fälschlich behauptet,
daß Rußland den europäischen Continent von der französischen Universalmonar¬
chie zu jener Zeit errettet habe. Die wahren Retter waren England und
Deutschland', im besondern das preußische Volk.

Der große Corse war kaum besiegt, als sich drohend im Osten eine neue
Gefahr zu zeigen begann. Napoleon selbst signalisirte dieselbe zuerst von
Se. Helena her durch einen in aller Munde lebenden Ausspruch. Deßunge-
achtet dauerte es eine geraume Zeit, bevor den Staatsmännern, geschweige
denn den Massen, die Gefahr der Lage einleuchtete. Auf dem Wiener Kongreß
scheint niemand den ganzen Umfang der Drohniß erkannt zu haben.

Langsam hatte Rußland, seit hundert Jahren ziemlich nahe an den Grenzen
des civilisirten Europas lagernd, sich entwickelt. Als ihm, unter Peter l.,
zuerst der Gedanke kam, in diesem Welttheil eine große Rolle zu überneh¬
men, fand es sich als eine Nation von zwanzig Millionen Menschen, die aber
noch ziemlich abgeschieden lag von dem eigentlichen Theater der politischen
Actionen. Was es vor allen Dingen zu gewinnen bemüht sein mußte, das
war eine unmittelbare Berührung mit dem Meere und mit dem westeuropäi¬
schen Staatensystem. Aus diesem Streben ergaben sich sür seine Politik zwei
Fronten, von denen die eine gegen Schweden, welches die Länder zwischen
Rußland und dem baltischen Meere, und die ändere gegen Polen gezogen
war, welches diejenigen umfaßte, welche sich zwischen ihm und den beiden
deutschen Großstaaten, Oestreich und Preußen, einschoben. So stark indeß
war schon damals die Macht des Dranges, welcher Rußland gegen den Bos¬
porus zieht, daß eine dritte Fronte gegen das türkische Reich sich wie von
selbst fand. Die Rückwerfung Schwedens und die Vernichtung seines 'Ein¬
flusses im Norden führte noch Peter l. selbst aus. Er erlebte den Triumph
seiner Zlotten auf der Ostsee. Die Zerstörung Polens, und zwar von Grund
aus, war aber das Werk der „großen" Katharina it.


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[0037] wichts. Seitdem ein europäisches Staatensystem besteht, ist dieses Gleichge¬ wicht zu dreien Malen ernstlich bedroht gewesen. Zuerst durch die Uebermacht des Hauses Habsburg: sie zu brechen war Richelieus großer Beruf. Aber nicht sobald war den universalmonarchistischen Bestrebungen Oestreichs ein Ziel gesetzt, als Frankreich denselben Weg betrat, und zum ersten Mal unter Ludwig X>V. die Unabhängigkeit der Staatenwelt, in deren Mitte es ein ihm günstiger Zufall gestellt hatte / zu bedrohen begann. Da wird Wilhelm von Oranien die Seele der Bündnisse, welche bestrebt sind, den Uebergriffen und Anmaßungen einer durch eine wunderbare Centralisation gestärkten Monar¬ chie Schranken entgegenzusetzen. Der zweite Versuch Frankreichs, sich die Borherrschaft in Europa anzueignen, war noch bedrohlicher für den Welttheil, weil unübertroffene materielle Mittel in der Hand Napoleons mit einer un¬ vergleichlichen Verwendungskunst sich einem. Man hat fälschlich behauptet, daß Rußland den europäischen Continent von der französischen Universalmonar¬ chie zu jener Zeit errettet habe. Die wahren Retter waren England und Deutschland', im besondern das preußische Volk. Der große Corse war kaum besiegt, als sich drohend im Osten eine neue Gefahr zu zeigen begann. Napoleon selbst signalisirte dieselbe zuerst von Se. Helena her durch einen in aller Munde lebenden Ausspruch. Deßunge- achtet dauerte es eine geraume Zeit, bevor den Staatsmännern, geschweige denn den Massen, die Gefahr der Lage einleuchtete. Auf dem Wiener Kongreß scheint niemand den ganzen Umfang der Drohniß erkannt zu haben. Langsam hatte Rußland, seit hundert Jahren ziemlich nahe an den Grenzen des civilisirten Europas lagernd, sich entwickelt. Als ihm, unter Peter l., zuerst der Gedanke kam, in diesem Welttheil eine große Rolle zu überneh¬ men, fand es sich als eine Nation von zwanzig Millionen Menschen, die aber noch ziemlich abgeschieden lag von dem eigentlichen Theater der politischen Actionen. Was es vor allen Dingen zu gewinnen bemüht sein mußte, das war eine unmittelbare Berührung mit dem Meere und mit dem westeuropäi¬ schen Staatensystem. Aus diesem Streben ergaben sich sür seine Politik zwei Fronten, von denen die eine gegen Schweden, welches die Länder zwischen Rußland und dem baltischen Meere, und die ändere gegen Polen gezogen war, welches diejenigen umfaßte, welche sich zwischen ihm und den beiden deutschen Großstaaten, Oestreich und Preußen, einschoben. So stark indeß war schon damals die Macht des Dranges, welcher Rußland gegen den Bos¬ porus zieht, daß eine dritte Fronte gegen das türkische Reich sich wie von selbst fand. Die Rückwerfung Schwedens und die Vernichtung seines 'Ein¬ flusses im Norden führte noch Peter l. selbst aus. Er erlebte den Triumph seiner Zlotten auf der Ostsee. Die Zerstörung Polens, und zwar von Grund aus, war aber das Werk der „großen" Katharina it.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/37>, abgerufen am 26.06.2024.