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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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welcher mächtigen Hebel die katholische Hierarchie sich bedient, um "das
Volk" der Kirche Roms nicht abtrünnig werden zu lassen; in einer folgenden
Abhandlung sollen die übrigen hierarchischen Bestrebungen und der zur Macht-
erwcitcrung der Mutterkirche zur Anwendung gebrachten Mittel aufgezählt
I. W. werden. '




Deutsches Wörterbuch von I. Grimm und W. Grimm.
2. Band. 1. und 2. Lieferung. --

Das große Nationalwerk schreitet regelmäßig vorwärts. Beim Beginn
desselben sprach dieses Blatt die Hoffnung aus, daß wir Deutsche ein Werk
erhalten würden, welches bis jetzt in der Geschichte aller Sprachen einzig da¬
steht, ein Wörterbuch, in welchem daS flüssige Leben unsrer Sprache, wie es
seit drei Jahrhunderten in riesigem Strome fortgeflutet hat, in der Geschichte
der einzelnen Wörter dargestellt werden würde. Schon jetzt vermögen wir zu
verstehen, wie groß Jacob Grimm die ungeheuerste Aufgabe gelöst, welche
sich je der Fleiß eines deutschen Gelehrten gestellt hat. Die bis jetzt erschie¬
nenen zwölf Lieferungen enthalten einen Schatz von tiefer Gelehrsamkeit, von
seinen Bemerkungen und in knapper Darstellung eine reiche Fülle der merk¬
würdigsten Erscheinungen in dem Gebiet der Sprache. Allerdings ist die
lerikographische Darstellung einer lebenden Sprache, welche etwas Anderes sein
will, als ein erklärendes Verzeichnis! der in irgendeiner Zeit grade giltigen
Wörter, eine Aufgabe, bei deren Lösung von einer absoluten Vollständigkeit
überhaupt nicht die Rede sein kann. Denn die Seele eines lebenden Volkes
läßt sich einer Wasserfläche vergleichen, deren Grenzen kaum vollständig be¬
kannt, deren Tiefe nur an wenigen Stellen erforscht ist. Die Anschauungen,
Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken eines solchen Volkes sind wie
der Wasserdunst, der aus der weiten Fläche unaufhörlich aufsteigt und sich endlos
in den Tropfen der Worte krystallisirt. Sowenig es möglich ist, die Tropfen zu
zählen, welche rauschend aus der Lust herabfallen und blitzend an den Gräsern
des Ufers hängen, sowenig ist es auch möglich, den ganzen Vorrat!) der ein¬
zelnen Wortbildungen, welche über der ewig bewegten Volksseele allstündlich
neu zusammenfließen, vollständig zu zählen. Selbst was von ihnen Dauer erhal¬
ten hat in irgendeinem gedruckten Buche, selbst dessen ist so ungeheuer viel, das;
eine lückenlose Auszeichnung fast unmöglich wird. Namentlich die deutsche Sprache
hat soviel Bildungskraft bis in die neueste Zeit bewahrt, daß ihr, gegenüber
den romanischen Sprachen, das Formen neuer Zusammensetzungen noch jetzt
ein leichtes Spiel ist, was jeder von uns wol täglich übt, ohne es zu wissen-


welcher mächtigen Hebel die katholische Hierarchie sich bedient, um „das
Volk" der Kirche Roms nicht abtrünnig werden zu lassen; in einer folgenden
Abhandlung sollen die übrigen hierarchischen Bestrebungen und der zur Macht-
erwcitcrung der Mutterkirche zur Anwendung gebrachten Mittel aufgezählt
I. W. werden. '




Deutsches Wörterbuch von I. Grimm und W. Grimm.
2. Band. 1. und 2. Lieferung. —

Das große Nationalwerk schreitet regelmäßig vorwärts. Beim Beginn
desselben sprach dieses Blatt die Hoffnung aus, daß wir Deutsche ein Werk
erhalten würden, welches bis jetzt in der Geschichte aller Sprachen einzig da¬
steht, ein Wörterbuch, in welchem daS flüssige Leben unsrer Sprache, wie es
seit drei Jahrhunderten in riesigem Strome fortgeflutet hat, in der Geschichte
der einzelnen Wörter dargestellt werden würde. Schon jetzt vermögen wir zu
verstehen, wie groß Jacob Grimm die ungeheuerste Aufgabe gelöst, welche
sich je der Fleiß eines deutschen Gelehrten gestellt hat. Die bis jetzt erschie¬
nenen zwölf Lieferungen enthalten einen Schatz von tiefer Gelehrsamkeit, von
seinen Bemerkungen und in knapper Darstellung eine reiche Fülle der merk¬
würdigsten Erscheinungen in dem Gebiet der Sprache. Allerdings ist die
lerikographische Darstellung einer lebenden Sprache, welche etwas Anderes sein
will, als ein erklärendes Verzeichnis! der in irgendeiner Zeit grade giltigen
Wörter, eine Aufgabe, bei deren Lösung von einer absoluten Vollständigkeit
überhaupt nicht die Rede sein kann. Denn die Seele eines lebenden Volkes
läßt sich einer Wasserfläche vergleichen, deren Grenzen kaum vollständig be¬
kannt, deren Tiefe nur an wenigen Stellen erforscht ist. Die Anschauungen,
Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken eines solchen Volkes sind wie
der Wasserdunst, der aus der weiten Fläche unaufhörlich aufsteigt und sich endlos
in den Tropfen der Worte krystallisirt. Sowenig es möglich ist, die Tropfen zu
zählen, welche rauschend aus der Lust herabfallen und blitzend an den Gräsern
des Ufers hängen, sowenig ist es auch möglich, den ganzen Vorrat!) der ein¬
zelnen Wortbildungen, welche über der ewig bewegten Volksseele allstündlich
neu zusammenfließen, vollständig zu zählen. Selbst was von ihnen Dauer erhal¬
ten hat in irgendeinem gedruckten Buche, selbst dessen ist so ungeheuer viel, das;
eine lückenlose Auszeichnung fast unmöglich wird. Namentlich die deutsche Sprache
hat soviel Bildungskraft bis in die neueste Zeit bewahrt, daß ihr, gegenüber
den romanischen Sprachen, das Formen neuer Zusammensetzungen noch jetzt
ein leichtes Spiel ist, was jeder von uns wol täglich übt, ohne es zu wissen-


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[0312] welcher mächtigen Hebel die katholische Hierarchie sich bedient, um „das Volk" der Kirche Roms nicht abtrünnig werden zu lassen; in einer folgenden Abhandlung sollen die übrigen hierarchischen Bestrebungen und der zur Macht- erwcitcrung der Mutterkirche zur Anwendung gebrachten Mittel aufgezählt I. W. werden. ' Deutsches Wörterbuch von I. Grimm und W. Grimm. 2. Band. 1. und 2. Lieferung. — Das große Nationalwerk schreitet regelmäßig vorwärts. Beim Beginn desselben sprach dieses Blatt die Hoffnung aus, daß wir Deutsche ein Werk erhalten würden, welches bis jetzt in der Geschichte aller Sprachen einzig da¬ steht, ein Wörterbuch, in welchem daS flüssige Leben unsrer Sprache, wie es seit drei Jahrhunderten in riesigem Strome fortgeflutet hat, in der Geschichte der einzelnen Wörter dargestellt werden würde. Schon jetzt vermögen wir zu verstehen, wie groß Jacob Grimm die ungeheuerste Aufgabe gelöst, welche sich je der Fleiß eines deutschen Gelehrten gestellt hat. Die bis jetzt erschie¬ nenen zwölf Lieferungen enthalten einen Schatz von tiefer Gelehrsamkeit, von seinen Bemerkungen und in knapper Darstellung eine reiche Fülle der merk¬ würdigsten Erscheinungen in dem Gebiet der Sprache. Allerdings ist die lerikographische Darstellung einer lebenden Sprache, welche etwas Anderes sein will, als ein erklärendes Verzeichnis! der in irgendeiner Zeit grade giltigen Wörter, eine Aufgabe, bei deren Lösung von einer absoluten Vollständigkeit überhaupt nicht die Rede sein kann. Denn die Seele eines lebenden Volkes läßt sich einer Wasserfläche vergleichen, deren Grenzen kaum vollständig be¬ kannt, deren Tiefe nur an wenigen Stellen erforscht ist. Die Anschauungen, Empfindungen, Vorstellungen und Gedanken eines solchen Volkes sind wie der Wasserdunst, der aus der weiten Fläche unaufhörlich aufsteigt und sich endlos in den Tropfen der Worte krystallisirt. Sowenig es möglich ist, die Tropfen zu zählen, welche rauschend aus der Lust herabfallen und blitzend an den Gräsern des Ufers hängen, sowenig ist es auch möglich, den ganzen Vorrat!) der ein¬ zelnen Wortbildungen, welche über der ewig bewegten Volksseele allstündlich neu zusammenfließen, vollständig zu zählen. Selbst was von ihnen Dauer erhal¬ ten hat in irgendeinem gedruckten Buche, selbst dessen ist so ungeheuer viel, das; eine lückenlose Auszeichnung fast unmöglich wird. Namentlich die deutsche Sprache hat soviel Bildungskraft bis in die neueste Zeit bewahrt, daß ihr, gegenüber den romanischen Sprachen, das Formen neuer Zusammensetzungen noch jetzt ein leichtes Spiel ist, was jeder von uns wol täglich übt, ohne es zu wissen-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/312>, abgerufen am 29.06.2024.