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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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menschlichen Geistes aufzufassen, wie jede andere Geschichte. Der Historiker wird
jetzt nachweisen müssen, wie Stoff und Form der Kunst mit innerer Nothwendigkeit
sich aus der jedesmaligen Bildungsstufe der Menschheit in Religion und Sitte
entwickelt, und die Vorliebe für die eine oder für die andere glänzende Leistung
wird ihn nicht mehr abhalten, auch den entgegengesetzten Richtungen ihr Recht
widerfahren zu lassen; er wird den modernen Freunden der Kunst nicht mehr
empfehlen, sich das beliebige Kunstideal einer vergangenen Zeit anzueignen,
sondern er wird sie auffordern, sich in das eigne Leben ihrer Zeit zu vertiefen,
demselben seine poetischen Seiten abzugewinnen und es in das Reich des Ideals
zu erheben; er wird sich auch gegen den reinen Realismus nicht sträuben, in¬
sofern er denselben als Uebergang zu einer höheren Idealität auffaßt.

Und hier kehren wir zu unsrem Ausgang zurück. Die zweite Ausgabe
der Kuglerschen Kunstgeschichte ist das Resultat des weitläufigen Processes,
den wir beschrieben haben. Daß auch in ihr noch vieles mangelhaft ist, wer¬
den die Verfasser am besten wissen; aber als kräftiger Ausdruck des richtigen
historischen Princips wird sie einen ehrenvollen Platz in unsrer Literatur be¬
haupten.




lliM 8wie Vini8.

Ein anonymer Roman, 3 Bde. Hamburg, Agentur des Rauben Hauses. --

Es ist ein Zufall, daß wir dieses Buch, welches in der Literatur einen
ungewöhnlichen Skandal erregt hat, bisher nicht besprochen haben; umgehen
dürfen wir aber die Besprechung nicht. Zwar ist die künstlerische Bedeutung
des Werks gering anzuschlagen, aber es handelt sich hier um die öffentliche
Moral.

Unsre Leser werden sich noch an die Besprechung von Mar Waldau er¬
innern. Kurze Zeit nach derselben starb der junge talentvolle Dichter, vielleicht
infolge der organischen Krankheit, die er in einem'seiner Romane mit so hef¬
tiger Beredtsamkeit geschildert hat. Was wir damals über die Komposition sei¬
ner Romane gesagt haben, läßt sich fast durchaus auf das gegenwärtige Werk
anwenden. Zwar kommen in demselben eine Menge Begebenheiten vor, zum
Theil sehr schauerlicher und Abscheu erregender Art, allein diese werden nur
nebenher erzählt; die Hauptsache sind die Reflexionen, die in verschiedenen
Formen austreten, als Tagebuchblätter, als Gespräche, als Reden u. s. w.
Da nun die verschiedenen Reflexionen zueinander in keinem dialektischen Ver¬
hältniß stehen, vielmehr in der buntesten Mannigfaltigkeit ganz beliebig durch-
nnandergewvrfen werden, da sie nur sehr wenig dazu helfen, die Charaktere


menschlichen Geistes aufzufassen, wie jede andere Geschichte. Der Historiker wird
jetzt nachweisen müssen, wie Stoff und Form der Kunst mit innerer Nothwendigkeit
sich aus der jedesmaligen Bildungsstufe der Menschheit in Religion und Sitte
entwickelt, und die Vorliebe für die eine oder für die andere glänzende Leistung
wird ihn nicht mehr abhalten, auch den entgegengesetzten Richtungen ihr Recht
widerfahren zu lassen; er wird den modernen Freunden der Kunst nicht mehr
empfehlen, sich das beliebige Kunstideal einer vergangenen Zeit anzueignen,
sondern er wird sie auffordern, sich in das eigne Leben ihrer Zeit zu vertiefen,
demselben seine poetischen Seiten abzugewinnen und es in das Reich des Ideals
zu erheben; er wird sich auch gegen den reinen Realismus nicht sträuben, in¬
sofern er denselben als Uebergang zu einer höheren Idealität auffaßt.

Und hier kehren wir zu unsrem Ausgang zurück. Die zweite Ausgabe
der Kuglerschen Kunstgeschichte ist das Resultat des weitläufigen Processes,
den wir beschrieben haben. Daß auch in ihr noch vieles mangelhaft ist, wer¬
den die Verfasser am besten wissen; aber als kräftiger Ausdruck des richtigen
historischen Princips wird sie einen ehrenvollen Platz in unsrer Literatur be¬
haupten.




lliM 8wie Vini8.

Ein anonymer Roman, 3 Bde. Hamburg, Agentur des Rauben Hauses. —

Es ist ein Zufall, daß wir dieses Buch, welches in der Literatur einen
ungewöhnlichen Skandal erregt hat, bisher nicht besprochen haben; umgehen
dürfen wir aber die Besprechung nicht. Zwar ist die künstlerische Bedeutung
des Werks gering anzuschlagen, aber es handelt sich hier um die öffentliche
Moral.

Unsre Leser werden sich noch an die Besprechung von Mar Waldau er¬
innern. Kurze Zeit nach derselben starb der junge talentvolle Dichter, vielleicht
infolge der organischen Krankheit, die er in einem'seiner Romane mit so hef¬
tiger Beredtsamkeit geschildert hat. Was wir damals über die Komposition sei¬
ner Romane gesagt haben, läßt sich fast durchaus auf das gegenwärtige Werk
anwenden. Zwar kommen in demselben eine Menge Begebenheiten vor, zum
Theil sehr schauerlicher und Abscheu erregender Art, allein diese werden nur
nebenher erzählt; die Hauptsache sind die Reflexionen, die in verschiedenen
Formen austreten, als Tagebuchblätter, als Gespräche, als Reden u. s. w.
Da nun die verschiedenen Reflexionen zueinander in keinem dialektischen Ver¬
hältniß stehen, vielmehr in der buntesten Mannigfaltigkeit ganz beliebig durch-
nnandergewvrfen werden, da sie nur sehr wenig dazu helfen, die Charaktere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/303>, abgerufen am 29.06.2024.