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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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ein neuer Band erschienen, den wir von Seiten des Stils bereits besprechen
haben. Derselbe Band enthält auch eine Geschichte der Malerei, nach Hegel-
schen Principien geordnet. Wir ersehen daraus zweierlei: einmal, wie frucht¬
bar die Philosophie durch Ausstellung neuer Gesichtspunkte und Principien für
das Verständniß der Kunst und deren Darstellung geworden ist; sodann aber,
wiewenig sie sich dazu eignet, das, was sie angeregt hat, zum Abschluß zu
bringen. Die Philosophie kann nur den Forscher daraus hinweisen, was seine
Aufmerksamkeit vorzugsweise in Anspruch nehmen soll, das weitere aber muß
sie der eigentlichen Forschung überlassen. In Wischers Darstellung finden sich
wieder sehr geistvolle und eingehende Reflexionen, aber das Ganze macht einen
unbefriedigender, häufig gradezu komischen Eindruck. Denn die Vorstellung, die
Hegel doch immer nur auf die weitumfassenden Genies anwendete, daß sie mit -
innerer Nothwendigkeit in der Welt erschienen, daß sie durch die Zeit, welche
die Bedingung ihres Schaffens enthielt, auch hervorgerufen wären, wendet
Bischer auf alle die größern und kleinern Talente an, die ihm aus der Kunst¬
geschichte geläufig sind, und da ergibt sich sehr bald, daß die Rechnung nicht
stimmt, und daß die philosophischen Kategorien, d. h. die Beziehungen auf die
Entwicklung des Denkens, Glaubens und Empfindens, nicht ausreichen, um
Das concrete künstlerische Schaffen zu begründen. Die Philosophie hat die
eigentliche Wissenschaft auf die segensreichste Weise befruchtet, mittelbar und
unmittelbar, aber sie zu ersetzen, dazu reicht ihre Kraft nicht "us.

Gehen wir nun zu der Frage über, wie das gegenwärtige Princip der
Kunstgeschichte, das vorzugsweise durch philosophische Einflüsse hervorgerufen
ist, sich von dem frühern naiven unterscheidet.

In früherer Zeit hatte die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Kunst
zweierlei Zwecke. Einerseits war es die einfache unbefangene Neugier, die im
Grunde bei aller Geschichtschreibung vorausgesetzt werden muß, sodann das
Bestreben einer nicht vorwiegend productiven Zeit, in frühern Leistungen Vor¬
bilder und Regeln zu suchen. Dieser letztere Idealismus war das Kennzeichen
derjenigen Literaturperiode, die durch unsre Classiker und Romantiker ausgefüllt
wird. Wir stellen beide zusammen, denn obgleich sich ihr Idealismus aus ver¬
schiedene Perioden der Vergangenheit bezog, bei den einen auf das griechische
Alterthum, bei den andern auf das christliche Mittelalter, so war doch der
Grund dieses Idealismus bei beiden im wesentlichen übereinstimmend.

Vergleichen w.ir zwei Bücher miteinander, die nur durch einen Zwischen¬
raum von zehn Jahren getrennt sind, den "Ardinghello" und die "Herzens-
ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", so glauben wir uns in zwei
ganz entgegengesetzten Welten z" bewegen. Heinse sieht die Möglichkeit eines
Wiederauflebens der Kunst nur in der freien Entwicklung der Sinnlichkeit;
erst wenn wir nach Art der Griechen auch im praktischen Leben der Aphrodite


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ein neuer Band erschienen, den wir von Seiten des Stils bereits besprechen
haben. Derselbe Band enthält auch eine Geschichte der Malerei, nach Hegel-
schen Principien geordnet. Wir ersehen daraus zweierlei: einmal, wie frucht¬
bar die Philosophie durch Ausstellung neuer Gesichtspunkte und Principien für
das Verständniß der Kunst und deren Darstellung geworden ist; sodann aber,
wiewenig sie sich dazu eignet, das, was sie angeregt hat, zum Abschluß zu
bringen. Die Philosophie kann nur den Forscher daraus hinweisen, was seine
Aufmerksamkeit vorzugsweise in Anspruch nehmen soll, das weitere aber muß
sie der eigentlichen Forschung überlassen. In Wischers Darstellung finden sich
wieder sehr geistvolle und eingehende Reflexionen, aber das Ganze macht einen
unbefriedigender, häufig gradezu komischen Eindruck. Denn die Vorstellung, die
Hegel doch immer nur auf die weitumfassenden Genies anwendete, daß sie mit -
innerer Nothwendigkeit in der Welt erschienen, daß sie durch die Zeit, welche
die Bedingung ihres Schaffens enthielt, auch hervorgerufen wären, wendet
Bischer auf alle die größern und kleinern Talente an, die ihm aus der Kunst¬
geschichte geläufig sind, und da ergibt sich sehr bald, daß die Rechnung nicht
stimmt, und daß die philosophischen Kategorien, d. h. die Beziehungen auf die
Entwicklung des Denkens, Glaubens und Empfindens, nicht ausreichen, um
Das concrete künstlerische Schaffen zu begründen. Die Philosophie hat die
eigentliche Wissenschaft auf die segensreichste Weise befruchtet, mittelbar und
unmittelbar, aber sie zu ersetzen, dazu reicht ihre Kraft nicht «us.

Gehen wir nun zu der Frage über, wie das gegenwärtige Princip der
Kunstgeschichte, das vorzugsweise durch philosophische Einflüsse hervorgerufen
ist, sich von dem frühern naiven unterscheidet.

In früherer Zeit hatte die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Kunst
zweierlei Zwecke. Einerseits war es die einfache unbefangene Neugier, die im
Grunde bei aller Geschichtschreibung vorausgesetzt werden muß, sodann das
Bestreben einer nicht vorwiegend productiven Zeit, in frühern Leistungen Vor¬
bilder und Regeln zu suchen. Dieser letztere Idealismus war das Kennzeichen
derjenigen Literaturperiode, die durch unsre Classiker und Romantiker ausgefüllt
wird. Wir stellen beide zusammen, denn obgleich sich ihr Idealismus aus ver¬
schiedene Perioden der Vergangenheit bezog, bei den einen auf das griechische
Alterthum, bei den andern auf das christliche Mittelalter, so war doch der
Grund dieses Idealismus bei beiden im wesentlichen übereinstimmend.

Vergleichen w.ir zwei Bücher miteinander, die nur durch einen Zwischen¬
raum von zehn Jahren getrennt sind, den „Ardinghello" und die „Herzens-
ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", so glauben wir uns in zwei
ganz entgegengesetzten Welten z» bewegen. Heinse sieht die Möglichkeit eines
Wiederauflebens der Kunst nur in der freien Entwicklung der Sinnlichkeit;
erst wenn wir nach Art der Griechen auch im praktischen Leben der Aphrodite


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[0299] ein neuer Band erschienen, den wir von Seiten des Stils bereits besprechen haben. Derselbe Band enthält auch eine Geschichte der Malerei, nach Hegel- schen Principien geordnet. Wir ersehen daraus zweierlei: einmal, wie frucht¬ bar die Philosophie durch Ausstellung neuer Gesichtspunkte und Principien für das Verständniß der Kunst und deren Darstellung geworden ist; sodann aber, wiewenig sie sich dazu eignet, das, was sie angeregt hat, zum Abschluß zu bringen. Die Philosophie kann nur den Forscher daraus hinweisen, was seine Aufmerksamkeit vorzugsweise in Anspruch nehmen soll, das weitere aber muß sie der eigentlichen Forschung überlassen. In Wischers Darstellung finden sich wieder sehr geistvolle und eingehende Reflexionen, aber das Ganze macht einen unbefriedigender, häufig gradezu komischen Eindruck. Denn die Vorstellung, die Hegel doch immer nur auf die weitumfassenden Genies anwendete, daß sie mit - innerer Nothwendigkeit in der Welt erschienen, daß sie durch die Zeit, welche die Bedingung ihres Schaffens enthielt, auch hervorgerufen wären, wendet Bischer auf alle die größern und kleinern Talente an, die ihm aus der Kunst¬ geschichte geläufig sind, und da ergibt sich sehr bald, daß die Rechnung nicht stimmt, und daß die philosophischen Kategorien, d. h. die Beziehungen auf die Entwicklung des Denkens, Glaubens und Empfindens, nicht ausreichen, um Das concrete künstlerische Schaffen zu begründen. Die Philosophie hat die eigentliche Wissenschaft auf die segensreichste Weise befruchtet, mittelbar und unmittelbar, aber sie zu ersetzen, dazu reicht ihre Kraft nicht «us. Gehen wir nun zu der Frage über, wie das gegenwärtige Princip der Kunstgeschichte, das vorzugsweise durch philosophische Einflüsse hervorgerufen ist, sich von dem frühern naiven unterscheidet. In früherer Zeit hatte die Beschäftigung mit der Vergangenheit der Kunst zweierlei Zwecke. Einerseits war es die einfache unbefangene Neugier, die im Grunde bei aller Geschichtschreibung vorausgesetzt werden muß, sodann das Bestreben einer nicht vorwiegend productiven Zeit, in frühern Leistungen Vor¬ bilder und Regeln zu suchen. Dieser letztere Idealismus war das Kennzeichen derjenigen Literaturperiode, die durch unsre Classiker und Romantiker ausgefüllt wird. Wir stellen beide zusammen, denn obgleich sich ihr Idealismus aus ver¬ schiedene Perioden der Vergangenheit bezog, bei den einen auf das griechische Alterthum, bei den andern auf das christliche Mittelalter, so war doch der Grund dieses Idealismus bei beiden im wesentlichen übereinstimmend. Vergleichen w.ir zwei Bücher miteinander, die nur durch einen Zwischen¬ raum von zehn Jahren getrennt sind, den „Ardinghello" und die „Herzens- ergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders", so glauben wir uns in zwei ganz entgegengesetzten Welten z» bewegen. Heinse sieht die Möglichkeit eines Wiederauflebens der Kunst nur in der freien Entwicklung der Sinnlichkeit; erst wenn wir nach Art der Griechen auch im praktischen Leben der Aphrodite 37*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/299>, abgerufen am 28.09.2024.