Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.gestellt haben, weil dieselbe physiologisch nicht nachzuweisen ist, hat man den In Wahrheit lehrt die Naturwissenschaft über jenen Punkt noch nichts gestellt haben, weil dieselbe physiologisch nicht nachzuweisen ist, hat man den In Wahrheit lehrt die Naturwissenschaft über jenen Punkt noch nichts <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0293" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99145"/> <p xml:id="ID_1031" prev="#ID_1030"> gestellt haben, weil dieselbe physiologisch nicht nachzuweisen ist, hat man den<lb/> alten Unsinn wieder aufgerührt, daß es keine moralische Freiheit gebe, sondern,<lb/> weil alle unsre Handlungen mit Naturnotwendigkeit erfolgten, von einer Ver¬<lb/> schuldung nicht die Rede sein könne. Grade diese Behauptung hat den Natur¬<lb/> wissenschaften viele und nicht die schlechtesten Gegner erweckt, denn es ist nicht<lb/> ganz leicht zu erkennen, worin die Unwahrheit jenes Trugschlusses liegt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1032" next="#ID_1033"> In Wahrheit lehrt die Naturwissenschaft über jenen Punkt noch nichts<lb/> und es rühren solche Hypothesen nicht aus Beobachtungen, sondern aus Vor¬<lb/> urtheilen her. Der Erfahrung gemäß, welche jeder hinlänglich an sich selbst<lb/> machen kann, besitzt der gesunde Mensch im leidenschaftlosen Zustande eine ihm<lb/> selbst absolut frei erscheinende Selbstbestimmungsfähigkeit, er wird durch nichts<lb/> gehindert, nach Belieben diese oder jene Handlung vorzunehmen, welche ihm<lb/> Zweck und Interesse bietet — wodurch aber in ihm grade dieser Zweck und<lb/> dieses Interesse, wodurch überhaupt'die ihm eigne Beschaffenheit seines Geistes<lb/> bedingt wird, darüber haben wir nur unbestimmte Vermuthungen. Wir wissen<lb/> freilich, daß eine gewisse unbekannte Beschaffenheit, sogenannte Integrität, des<lb/> Gehirns nothwendig ist für den Fortbestand der als normal angesehenen<lb/> Seelcnbeschaffenheit, weil körperliche Störungen (z. B. Trunkenheit, Kopf¬<lb/> verletzungen) die letztere auffallend verändern können, aber wir können durch<lb/> nichts einen bündigen Beweis liefern? daß diese Veränderungen die freie Selbst-<lb/> bestimmungsfähigkeit wirklich aufheben. Es gibt nämlich eine so große Mannig¬<lb/> faltigkeit und eine solche Menge von Abstufungen in den Störungen, welche<lb/> körperliche Krankheiten auf den Geist ausüben, daß wir an keiner Stelle eine<lb/> Grenze ziehen und behaupten könnten, diesseits derselben seien alle Handlungen<lb/> verschuldet, jenseits unverschuldet. Betrachten wir z. B. den gewöhnlichen<lb/> Fall, daß sich bei jemandem ganz allmälig eine Geisteskrankheit entwickelt, die<lb/> zuletzt zur Raserei sich steigert, so haben wir als Ausgangspunkt scheinbar<lb/> absolute geistige Freiheit, als Endpunkt scheinbar absolute geistige Unfreiheit,<lb/> aber den Uebergangspunkt anzugeben sind wir durchaus nicht imstande.<lb/> Daraus ergibt sich also unwiderleglich, daß der menschliche Geist niemals<lb/> absolut frei oder unfrei ist, sondern beides nur relativ und daß er in den<lb/> beiden Extremen dem Absoluten nach unsren Begriffen sehr nahekommen muß.<lb/> Diese Beobachtung beruht nicht auf irgendeiner Hypothese über das Wesen<lb/> des menschlichen.Geistes, sie muß sich unter allen Voraussetzungen bewähren<lb/> und selbst angenommen, es sei der Geist Elektricität, so müßte der Wille in<lb/> solcher Weise elektrisch beschaffen sein, daß er andern elektrischen Kräften (z. B.<lb/> den bösen Antrieben) zu widerstehen vermöchte. Will man dagegen mit dem<lb/> Vorurtheil an die Sache gehen, daß der menschliche Geist absolut frei, resp,<lb/> absolut unfrei sei, so wird man durch den Mangel jeder Grenze zu der Ab¬<lb/> surdität gezwungen, die Rasenden und im Fieber Phamasirenden für absolut</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0293]
gestellt haben, weil dieselbe physiologisch nicht nachzuweisen ist, hat man den
alten Unsinn wieder aufgerührt, daß es keine moralische Freiheit gebe, sondern,
weil alle unsre Handlungen mit Naturnotwendigkeit erfolgten, von einer Ver¬
schuldung nicht die Rede sein könne. Grade diese Behauptung hat den Natur¬
wissenschaften viele und nicht die schlechtesten Gegner erweckt, denn es ist nicht
ganz leicht zu erkennen, worin die Unwahrheit jenes Trugschlusses liegt.
In Wahrheit lehrt die Naturwissenschaft über jenen Punkt noch nichts
und es rühren solche Hypothesen nicht aus Beobachtungen, sondern aus Vor¬
urtheilen her. Der Erfahrung gemäß, welche jeder hinlänglich an sich selbst
machen kann, besitzt der gesunde Mensch im leidenschaftlosen Zustande eine ihm
selbst absolut frei erscheinende Selbstbestimmungsfähigkeit, er wird durch nichts
gehindert, nach Belieben diese oder jene Handlung vorzunehmen, welche ihm
Zweck und Interesse bietet — wodurch aber in ihm grade dieser Zweck und
dieses Interesse, wodurch überhaupt'die ihm eigne Beschaffenheit seines Geistes
bedingt wird, darüber haben wir nur unbestimmte Vermuthungen. Wir wissen
freilich, daß eine gewisse unbekannte Beschaffenheit, sogenannte Integrität, des
Gehirns nothwendig ist für den Fortbestand der als normal angesehenen
Seelcnbeschaffenheit, weil körperliche Störungen (z. B. Trunkenheit, Kopf¬
verletzungen) die letztere auffallend verändern können, aber wir können durch
nichts einen bündigen Beweis liefern? daß diese Veränderungen die freie Selbst-
bestimmungsfähigkeit wirklich aufheben. Es gibt nämlich eine so große Mannig¬
faltigkeit und eine solche Menge von Abstufungen in den Störungen, welche
körperliche Krankheiten auf den Geist ausüben, daß wir an keiner Stelle eine
Grenze ziehen und behaupten könnten, diesseits derselben seien alle Handlungen
verschuldet, jenseits unverschuldet. Betrachten wir z. B. den gewöhnlichen
Fall, daß sich bei jemandem ganz allmälig eine Geisteskrankheit entwickelt, die
zuletzt zur Raserei sich steigert, so haben wir als Ausgangspunkt scheinbar
absolute geistige Freiheit, als Endpunkt scheinbar absolute geistige Unfreiheit,
aber den Uebergangspunkt anzugeben sind wir durchaus nicht imstande.
Daraus ergibt sich also unwiderleglich, daß der menschliche Geist niemals
absolut frei oder unfrei ist, sondern beides nur relativ und daß er in den
beiden Extremen dem Absoluten nach unsren Begriffen sehr nahekommen muß.
Diese Beobachtung beruht nicht auf irgendeiner Hypothese über das Wesen
des menschlichen.Geistes, sie muß sich unter allen Voraussetzungen bewähren
und selbst angenommen, es sei der Geist Elektricität, so müßte der Wille in
solcher Weise elektrisch beschaffen sein, daß er andern elektrischen Kräften (z. B.
den bösen Antrieben) zu widerstehen vermöchte. Will man dagegen mit dem
Vorurtheil an die Sache gehen, daß der menschliche Geist absolut frei, resp,
absolut unfrei sei, so wird man durch den Mangel jeder Grenze zu der Ab¬
surdität gezwungen, die Rasenden und im Fieber Phamasirenden für absolut
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |