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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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eine Bewegung des Nachdenkens in sich selbst (Reflexionen) und schließen ein
beständiges Ueberströmen des Gedankens aus das Gemüth und umgekehrt aus;
wenige Gedanken aber werden eintönig und langweilig und sind, wie die viel¬
fach wiederholten Wehklagen der griechischen Tragödien darthun, wenigstens
die jetzige Empfindung nicht anzuregen imstande. Diese Betrachtungen schei¬
nen uns unwiderleglich zu beweisen, daß die Musik der Zukunft, die angebliche
Verschmelzung der Oper und des Dramas ewig eine Musik der Zukunft blei¬
ben, nämlich ein unmögliches Unding sein wird, und daß ihre Erfinder ebenso
unklar denken wie empfinden. Von unsrem Standpunkte gelangen wir hierin
ganz zu demselben Resultate, wie es früher in diesen Blättern vom ästhetischen
geschehen ist.

Wenn aber auch einzelne psychologische Beobachtungen aus die Gesetze
der Künste sich mögen anwenden lassen und die meisten Künstler darauf ange¬
wiesen sind, eigne Studien über den menschlichen Geist und dessen Verkör¬
perung zu machen, so haben doch bisher die sämmtlichen wissenschaftlichen Dis¬
ciplinen nur einen sehr geringen Einfluß auf die Künste geübt, ja diese haben
ihre höchste Blüte in Zeitaltern erlebt, in welchen von jenen' kaum die Rede
sein konnte. Sehen wir, ob der EinfluD auf die Wissenschaften ein bedeuten¬
derer gewesen ist.

Allerdings haben die Wissenschaften der Natur mit allen übrigen Be¬
rührungspunkte, aber einige, wie die Sprachwissenschaften, werden wenig von
jenen berührt, andere, wie Geschichte und Philosophie, ziehen sie gar mit in
ihren Kreis, noch andere, wie Geographie, praktische Wissenschaften, halten fest
mit ihnen zusammen. Es ist ersichtlich, daß (mit Ausnahme der letzten identi¬
schen Classe) der gegenseitige Einfluß der übrigen Fächer nur ein äußerst kleiner
ist, namentlich da die Naturwissenschaften in der Geschichte eine sehr bescheidene
Rolle spielen und da von einer Naturphilosophie kaum erst die Anfänge vor¬
handen sind. Humboldt, von dem wir schon gewohnt waren, ganz neue Fächer
der Naturwissenschaften zu sehen, hat in seinem Kosmos zuerst eine Gesammt-
anschauung der Natur und ihrer Gesetze, also eine echte Naturphilosophie, zu
geben versucht. Selbst ihm ist freilich die Lösung der Ausgabe nicht genügend
gelungen, offenbar weil sie überhaupt die Kräfte eines einzelnen übersteigt,
aber hoffentlich wird es vereinten Kräften gelingen, auf der einmal gebrochenen.
Bahn fortzuschreiten und die Einheit in der Natur mehr und mehr zur An¬
schauung zu bringen. Dann erst werden wir die Einwirkung der Natur¬
philosophie auf die übrigen Wissenschaften erfahren können.

Am wichtigsten sind für jetzt die Berührungspunkte, welche die Natur-
wissenschaft mit der Jurisprudenz und Theologie hat und zwar ist es hier be¬
sonders die Lehre von der moralischen und juridischen Zurechnung, über welche
gestritten wird. Seitdem einige Physiologen die Existenz der Seele in Abrede


eine Bewegung des Nachdenkens in sich selbst (Reflexionen) und schließen ein
beständiges Ueberströmen des Gedankens aus das Gemüth und umgekehrt aus;
wenige Gedanken aber werden eintönig und langweilig und sind, wie die viel¬
fach wiederholten Wehklagen der griechischen Tragödien darthun, wenigstens
die jetzige Empfindung nicht anzuregen imstande. Diese Betrachtungen schei¬
nen uns unwiderleglich zu beweisen, daß die Musik der Zukunft, die angebliche
Verschmelzung der Oper und des Dramas ewig eine Musik der Zukunft blei¬
ben, nämlich ein unmögliches Unding sein wird, und daß ihre Erfinder ebenso
unklar denken wie empfinden. Von unsrem Standpunkte gelangen wir hierin
ganz zu demselben Resultate, wie es früher in diesen Blättern vom ästhetischen
geschehen ist.

Wenn aber auch einzelne psychologische Beobachtungen aus die Gesetze
der Künste sich mögen anwenden lassen und die meisten Künstler darauf ange¬
wiesen sind, eigne Studien über den menschlichen Geist und dessen Verkör¬
perung zu machen, so haben doch bisher die sämmtlichen wissenschaftlichen Dis¬
ciplinen nur einen sehr geringen Einfluß auf die Künste geübt, ja diese haben
ihre höchste Blüte in Zeitaltern erlebt, in welchen von jenen' kaum die Rede
sein konnte. Sehen wir, ob der EinfluD auf die Wissenschaften ein bedeuten¬
derer gewesen ist.

Allerdings haben die Wissenschaften der Natur mit allen übrigen Be¬
rührungspunkte, aber einige, wie die Sprachwissenschaften, werden wenig von
jenen berührt, andere, wie Geschichte und Philosophie, ziehen sie gar mit in
ihren Kreis, noch andere, wie Geographie, praktische Wissenschaften, halten fest
mit ihnen zusammen. Es ist ersichtlich, daß (mit Ausnahme der letzten identi¬
schen Classe) der gegenseitige Einfluß der übrigen Fächer nur ein äußerst kleiner
ist, namentlich da die Naturwissenschaften in der Geschichte eine sehr bescheidene
Rolle spielen und da von einer Naturphilosophie kaum erst die Anfänge vor¬
handen sind. Humboldt, von dem wir schon gewohnt waren, ganz neue Fächer
der Naturwissenschaften zu sehen, hat in seinem Kosmos zuerst eine Gesammt-
anschauung der Natur und ihrer Gesetze, also eine echte Naturphilosophie, zu
geben versucht. Selbst ihm ist freilich die Lösung der Ausgabe nicht genügend
gelungen, offenbar weil sie überhaupt die Kräfte eines einzelnen übersteigt,
aber hoffentlich wird es vereinten Kräften gelingen, auf der einmal gebrochenen.
Bahn fortzuschreiten und die Einheit in der Natur mehr und mehr zur An¬
schauung zu bringen. Dann erst werden wir die Einwirkung der Natur¬
philosophie auf die übrigen Wissenschaften erfahren können.

Am wichtigsten sind für jetzt die Berührungspunkte, welche die Natur-
wissenschaft mit der Jurisprudenz und Theologie hat und zwar ist es hier be¬
sonders die Lehre von der moralischen und juridischen Zurechnung, über welche
gestritten wird. Seitdem einige Physiologen die Existenz der Seele in Abrede


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/292>, abgerufen am 29.06.2024.