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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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frei, resp, die vernünftigsten und klarsten Menschen für absolut unfrei zu er¬
klären. Bekanntlich werden dennoch beide ertreme Ansichten verfochten, aber es
ist ein Irrthum oder eine Nnwahrheir, daß die Naturwissenschaft der einen oder
der andern Gründe Herleihe, beide drehen sich vielmehr im Kreise und dabei können
wir sie umsomehr belassen, als unsre kirchlichen und rechtlichen Begriffe auf
der richtig beobachteten Wahrheit beruhen. Denn wirklich eristirt nicht allein
für alle Gesunde die persönliche Verantwortlichkeit, ohne welche wir als Un¬
würdige unter polizeilicher Vormundschaft zu stehen verdienten, sondern es kann
auch kein Mensch weder vor sich selbst noch vor andern beweisen, daß er jemals
der Verantwortlichkeit ledig gewesen wäre -- wir glauben dem Verbrecher die
gewöhnliche Ausrede, daß es gewesen sei, alö ob er das Verbrechen habe be¬
gehen müssen, deshalb nicht, weil im eignen Bewußtsein nie eine absolute
Nothwendigkeit, so und nicht anders handeln zu können, zum Vorschein kommt.
Von der Verantwortlichkeit entlassen kann den Menschen daher gesetzlich nur
der Richter, moralisch die Kirche, um einen allgemeinen Ausdruck anzuwenden.

Wunderlich ist das Verhalten der äußersten politischen Parteien zu dieser
Lehre. Die "christlich-germanische", richtiger absolutistisch-russische, vertheidigt,
uni den Begriff des Königthums von Gottes Gnaden zu retten, das christliche
Princip der geistigen Freiheit und Verantwortlichkeit um so eifriger, jemehr sie
die bürgerliche zu beschränken sucht; die materialistische oder radicale sucht
mittelst aufgewärmter Hypothesen dem Menschen die persönliche Freiheit ab¬
zusprechen, um ihm politische Zügellosigkeit zu verschaffen. So bemühen sich
die äußersten Parteien und so trägt jede den Widerspruch und den Keim des
Verderbens in sich, jede ist verdammt, die Conseguenzen des Gegners ver¬
theidigen zu müssen und das ist die gerechte Strafe dafür, daß sie die Religion
mißbrauchen oder herabwürdigen, um politische Zwecke zu erreichen.

Wenige Punkte ausgenommen üben also die Naturwissenschaften auf die
geistige Bewegung des Menschengeistes bisher fast gar keinen directen Einfluß
aus und können sich darin nicht den rein geistigen Interessen, der Politik,
Philosophie, Religion vergleichen. Ihre Aufgabe ist vielmehr die Bewältigung
der Materie gewesen und ihre unendliche Wichtigkeit liegt in ihrem Einflüsse
auf das praktische Leben jedes einzelnen und in der Beschleunigung, Anregung
und raschen Verbreitung der gesammten geistigen Thätigkeit aller Menschen.
Diese Wirkungen sind zu bekannt, als daß wir näher auf dieselben eingehen
möchten, zumal da nur eine überflüssige Lobrede auf jene Wissenschaften daraus
hervorgehen würde. Sie sind hier ebenso groß, wie im directen psychischen
Einfluß klein und dies erklärt sich daraus, baß sie bisher wol die Materie,
aber nicht die Seele zu erforschen vermocht haben.

Auffallend ist es, daß sich über diese Thatsachen ein Historiker und zwar
Macaulay gänzlich täuschen konnte. In seiner Biographie des Bacon von Ve-


frei, resp, die vernünftigsten und klarsten Menschen für absolut unfrei zu er¬
klären. Bekanntlich werden dennoch beide ertreme Ansichten verfochten, aber es
ist ein Irrthum oder eine Nnwahrheir, daß die Naturwissenschaft der einen oder
der andern Gründe Herleihe, beide drehen sich vielmehr im Kreise und dabei können
wir sie umsomehr belassen, als unsre kirchlichen und rechtlichen Begriffe auf
der richtig beobachteten Wahrheit beruhen. Denn wirklich eristirt nicht allein
für alle Gesunde die persönliche Verantwortlichkeit, ohne welche wir als Un¬
würdige unter polizeilicher Vormundschaft zu stehen verdienten, sondern es kann
auch kein Mensch weder vor sich selbst noch vor andern beweisen, daß er jemals
der Verantwortlichkeit ledig gewesen wäre — wir glauben dem Verbrecher die
gewöhnliche Ausrede, daß es gewesen sei, alö ob er das Verbrechen habe be¬
gehen müssen, deshalb nicht, weil im eignen Bewußtsein nie eine absolute
Nothwendigkeit, so und nicht anders handeln zu können, zum Vorschein kommt.
Von der Verantwortlichkeit entlassen kann den Menschen daher gesetzlich nur
der Richter, moralisch die Kirche, um einen allgemeinen Ausdruck anzuwenden.

Wunderlich ist das Verhalten der äußersten politischen Parteien zu dieser
Lehre. Die „christlich-germanische", richtiger absolutistisch-russische, vertheidigt,
uni den Begriff des Königthums von Gottes Gnaden zu retten, das christliche
Princip der geistigen Freiheit und Verantwortlichkeit um so eifriger, jemehr sie
die bürgerliche zu beschränken sucht; die materialistische oder radicale sucht
mittelst aufgewärmter Hypothesen dem Menschen die persönliche Freiheit ab¬
zusprechen, um ihm politische Zügellosigkeit zu verschaffen. So bemühen sich
die äußersten Parteien und so trägt jede den Widerspruch und den Keim des
Verderbens in sich, jede ist verdammt, die Conseguenzen des Gegners ver¬
theidigen zu müssen und das ist die gerechte Strafe dafür, daß sie die Religion
mißbrauchen oder herabwürdigen, um politische Zwecke zu erreichen.

Wenige Punkte ausgenommen üben also die Naturwissenschaften auf die
geistige Bewegung des Menschengeistes bisher fast gar keinen directen Einfluß
aus und können sich darin nicht den rein geistigen Interessen, der Politik,
Philosophie, Religion vergleichen. Ihre Aufgabe ist vielmehr die Bewältigung
der Materie gewesen und ihre unendliche Wichtigkeit liegt in ihrem Einflüsse
auf das praktische Leben jedes einzelnen und in der Beschleunigung, Anregung
und raschen Verbreitung der gesammten geistigen Thätigkeit aller Menschen.
Diese Wirkungen sind zu bekannt, als daß wir näher auf dieselben eingehen
möchten, zumal da nur eine überflüssige Lobrede auf jene Wissenschaften daraus
hervorgehen würde. Sie sind hier ebenso groß, wie im directen psychischen
Einfluß klein und dies erklärt sich daraus, baß sie bisher wol die Materie,
aber nicht die Seele zu erforschen vermocht haben.

Auffallend ist es, daß sich über diese Thatsachen ein Historiker und zwar
Macaulay gänzlich täuschen konnte. In seiner Biographie des Bacon von Ve-


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[0294] frei, resp, die vernünftigsten und klarsten Menschen für absolut unfrei zu er¬ klären. Bekanntlich werden dennoch beide ertreme Ansichten verfochten, aber es ist ein Irrthum oder eine Nnwahrheir, daß die Naturwissenschaft der einen oder der andern Gründe Herleihe, beide drehen sich vielmehr im Kreise und dabei können wir sie umsomehr belassen, als unsre kirchlichen und rechtlichen Begriffe auf der richtig beobachteten Wahrheit beruhen. Denn wirklich eristirt nicht allein für alle Gesunde die persönliche Verantwortlichkeit, ohne welche wir als Un¬ würdige unter polizeilicher Vormundschaft zu stehen verdienten, sondern es kann auch kein Mensch weder vor sich selbst noch vor andern beweisen, daß er jemals der Verantwortlichkeit ledig gewesen wäre — wir glauben dem Verbrecher die gewöhnliche Ausrede, daß es gewesen sei, alö ob er das Verbrechen habe be¬ gehen müssen, deshalb nicht, weil im eignen Bewußtsein nie eine absolute Nothwendigkeit, so und nicht anders handeln zu können, zum Vorschein kommt. Von der Verantwortlichkeit entlassen kann den Menschen daher gesetzlich nur der Richter, moralisch die Kirche, um einen allgemeinen Ausdruck anzuwenden. Wunderlich ist das Verhalten der äußersten politischen Parteien zu dieser Lehre. Die „christlich-germanische", richtiger absolutistisch-russische, vertheidigt, uni den Begriff des Königthums von Gottes Gnaden zu retten, das christliche Princip der geistigen Freiheit und Verantwortlichkeit um so eifriger, jemehr sie die bürgerliche zu beschränken sucht; die materialistische oder radicale sucht mittelst aufgewärmter Hypothesen dem Menschen die persönliche Freiheit ab¬ zusprechen, um ihm politische Zügellosigkeit zu verschaffen. So bemühen sich die äußersten Parteien und so trägt jede den Widerspruch und den Keim des Verderbens in sich, jede ist verdammt, die Conseguenzen des Gegners ver¬ theidigen zu müssen und das ist die gerechte Strafe dafür, daß sie die Religion mißbrauchen oder herabwürdigen, um politische Zwecke zu erreichen. Wenige Punkte ausgenommen üben also die Naturwissenschaften auf die geistige Bewegung des Menschengeistes bisher fast gar keinen directen Einfluß aus und können sich darin nicht den rein geistigen Interessen, der Politik, Philosophie, Religion vergleichen. Ihre Aufgabe ist vielmehr die Bewältigung der Materie gewesen und ihre unendliche Wichtigkeit liegt in ihrem Einflüsse auf das praktische Leben jedes einzelnen und in der Beschleunigung, Anregung und raschen Verbreitung der gesammten geistigen Thätigkeit aller Menschen. Diese Wirkungen sind zu bekannt, als daß wir näher auf dieselben eingehen möchten, zumal da nur eine überflüssige Lobrede auf jene Wissenschaften daraus hervorgehen würde. Sie sind hier ebenso groß, wie im directen psychischen Einfluß klein und dies erklärt sich daraus, baß sie bisher wol die Materie, aber nicht die Seele zu erforschen vermocht haben. Auffallend ist es, daß sich über diese Thatsachen ein Historiker und zwar Macaulay gänzlich täuschen konnte. In seiner Biographie des Bacon von Ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/294>, abgerufen am 29.06.2024.