Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

besten photographischen Abbildungen lassen an Naturtreue das Werk der Hände
bereits hinter sich, die schlechten Porträts sind schon sast ganz ausgerottet und
dem Porträtmaler also handgreiflich zu erkennen gegeben, daß nicht zu copiren,
sondern das menschliche Antlitz in seinen ausdruckvollsten Momenten darzustellen
oder zu idealisiren die Aufgabe des Künstlers sei. Diese Einwirkung der Natur¬
wissenschaft auf die bildenden Künste wird mit der weiteren Ausbildung der Photo¬
graphie, Galvanoplastik u. s. w. gewiß rasch zunehmen, auf die übrigen Künste
aber, namentlich auf Musik und Poesie, ist eine ähnliche wol noch nicht sobald
zu erwarten, weil diese Künste einen rein gemüthlichen und geistigen Stoff ver¬
arbeite". Hier stellt sich wiederum der Mangel einer auf Beobachtung beruhenden
Seelenlehre hemmend in den Weg, die Möglichkeit aber, von letzterer aus auf
die weitere Entwicklung jener Künste einzuwirken, läßt sich an beliebigen Bei¬
spielen schon jetzt nachweisen.

Es ist z. B. beobachtet, daß jede Idee an Stärke (überzeugender Kraft,
Erinnertwerden) desto mehr zunimmt, je häufiger sie im Bewußtsein reproducirt
wird und ferner, daß jede bedeutende Gemüthsbewegung immer dieselbe Idee zu
reproduciren strebt oder zwingt. Da nun wiederum die Idee das Gemüth erregt
und diese Erregung ebenfalls durch die vermehrte Reproduction an Stärke wächst,
so ergibt sich diese Wechselwirkung als der den heftigen Leidenschaften zugrunde¬
liegende physische Proceß. Soll eine solche also künstlerisch dargestellt werden,
so sind dazu nur wenige Ideen, aber die Zeichen einer beständigen Steigerung
Der Gemüthsthätigkeit erforderlich. Aus diesen Thatsachen beruht in der
Musik, welche sich vor allen Künsten durch die wunderbare Eigenschaft aus.
zeichnet, unmittelbar und direct auf daS Gemüth zu wirken, die Berechtigung
der Arie und verwandter Formen; je leidenschaftlicher die musikalische oder ge¬
müthliche Bewegung ist, desto weniger Gedanken darf sie ausdrücken, desto
mehr aber muß das musikalische Thema inhaltsschwer und geeignet sein, in der
Einheit mannigfaltig, sich den verschiedenen Stufen und Phasen der Leiden¬
schaft anzupassen. Nehmen wir eure willkürliche Situation an, z. B. den
Helden in dringender Todesgefahr und seine Geliebte in dem Moment, wo
sie Kunde davon erhält, so werden sich in ihr nur wenige Gedanken erzeu¬
gen, nicht viel mehr, als etwa das Bewußtsein ihrer Angst und die Vor¬
stellung der Unrettbarkeit ihres Geliebten und diese werden sich gegenseitig im-,
mer wieder anregen und verstärken. Aus wenigen dies bezeichnenden Wor¬
ten und den Ausrufen des Schreckens, der Angst und Verzweiflung müßte
also der Tert bestehen, wie es denn auch häufig genug der Fall ist, z. B.
in Donna Annas vielberühmter Scene, die durch den wiederholten Ruf nach
dem Vater das eigenthümlich Ergreifende erhält. Unendlich schwer, ja un¬
möglich erscheint es dagegen im Monologe des Dramas, bedeutende Leiden¬
schaften auszudrücken, denn viele Gedanken bei einer Sache erfordern physisch


36 *

besten photographischen Abbildungen lassen an Naturtreue das Werk der Hände
bereits hinter sich, die schlechten Porträts sind schon sast ganz ausgerottet und
dem Porträtmaler also handgreiflich zu erkennen gegeben, daß nicht zu copiren,
sondern das menschliche Antlitz in seinen ausdruckvollsten Momenten darzustellen
oder zu idealisiren die Aufgabe des Künstlers sei. Diese Einwirkung der Natur¬
wissenschaft auf die bildenden Künste wird mit der weiteren Ausbildung der Photo¬
graphie, Galvanoplastik u. s. w. gewiß rasch zunehmen, auf die übrigen Künste
aber, namentlich auf Musik und Poesie, ist eine ähnliche wol noch nicht sobald
zu erwarten, weil diese Künste einen rein gemüthlichen und geistigen Stoff ver¬
arbeite». Hier stellt sich wiederum der Mangel einer auf Beobachtung beruhenden
Seelenlehre hemmend in den Weg, die Möglichkeit aber, von letzterer aus auf
die weitere Entwicklung jener Künste einzuwirken, läßt sich an beliebigen Bei¬
spielen schon jetzt nachweisen.

Es ist z. B. beobachtet, daß jede Idee an Stärke (überzeugender Kraft,
Erinnertwerden) desto mehr zunimmt, je häufiger sie im Bewußtsein reproducirt
wird und ferner, daß jede bedeutende Gemüthsbewegung immer dieselbe Idee zu
reproduciren strebt oder zwingt. Da nun wiederum die Idee das Gemüth erregt
und diese Erregung ebenfalls durch die vermehrte Reproduction an Stärke wächst,
so ergibt sich diese Wechselwirkung als der den heftigen Leidenschaften zugrunde¬
liegende physische Proceß. Soll eine solche also künstlerisch dargestellt werden,
so sind dazu nur wenige Ideen, aber die Zeichen einer beständigen Steigerung
Der Gemüthsthätigkeit erforderlich. Aus diesen Thatsachen beruht in der
Musik, welche sich vor allen Künsten durch die wunderbare Eigenschaft aus.
zeichnet, unmittelbar und direct auf daS Gemüth zu wirken, die Berechtigung
der Arie und verwandter Formen; je leidenschaftlicher die musikalische oder ge¬
müthliche Bewegung ist, desto weniger Gedanken darf sie ausdrücken, desto
mehr aber muß das musikalische Thema inhaltsschwer und geeignet sein, in der
Einheit mannigfaltig, sich den verschiedenen Stufen und Phasen der Leiden¬
schaft anzupassen. Nehmen wir eure willkürliche Situation an, z. B. den
Helden in dringender Todesgefahr und seine Geliebte in dem Moment, wo
sie Kunde davon erhält, so werden sich in ihr nur wenige Gedanken erzeu¬
gen, nicht viel mehr, als etwa das Bewußtsein ihrer Angst und die Vor¬
stellung der Unrettbarkeit ihres Geliebten und diese werden sich gegenseitig im-,
mer wieder anregen und verstärken. Aus wenigen dies bezeichnenden Wor¬
ten und den Ausrufen des Schreckens, der Angst und Verzweiflung müßte
also der Tert bestehen, wie es denn auch häufig genug der Fall ist, z. B.
in Donna Annas vielberühmter Scene, die durch den wiederholten Ruf nach
dem Vater das eigenthümlich Ergreifende erhält. Unendlich schwer, ja un¬
möglich erscheint es dagegen im Monologe des Dramas, bedeutende Leiden¬
schaften auszudrücken, denn viele Gedanken bei einer Sache erfordern physisch


36 *
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0291" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99143"/>
          <p xml:id="ID_1025" prev="#ID_1024"> besten photographischen Abbildungen lassen an Naturtreue das Werk der Hände<lb/>
bereits hinter sich, die schlechten Porträts sind schon sast ganz ausgerottet und<lb/>
dem Porträtmaler also handgreiflich zu erkennen gegeben, daß nicht zu copiren,<lb/>
sondern das menschliche Antlitz in seinen ausdruckvollsten Momenten darzustellen<lb/>
oder zu idealisiren die Aufgabe des Künstlers sei. Diese Einwirkung der Natur¬<lb/>
wissenschaft auf die bildenden Künste wird mit der weiteren Ausbildung der Photo¬<lb/>
graphie, Galvanoplastik u. s. w. gewiß rasch zunehmen, auf die übrigen Künste<lb/>
aber, namentlich auf Musik und Poesie, ist eine ähnliche wol noch nicht sobald<lb/>
zu erwarten, weil diese Künste einen rein gemüthlichen und geistigen Stoff ver¬<lb/>
arbeite». Hier stellt sich wiederum der Mangel einer auf Beobachtung beruhenden<lb/>
Seelenlehre hemmend in den Weg, die Möglichkeit aber, von letzterer aus auf<lb/>
die weitere Entwicklung jener Künste einzuwirken, läßt sich an beliebigen Bei¬<lb/>
spielen schon jetzt nachweisen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1026" next="#ID_1027"> Es ist z. B. beobachtet, daß jede Idee an Stärke (überzeugender Kraft,<lb/>
Erinnertwerden) desto mehr zunimmt, je häufiger sie im Bewußtsein reproducirt<lb/>
wird und ferner, daß jede bedeutende Gemüthsbewegung immer dieselbe Idee zu<lb/>
reproduciren strebt oder zwingt. Da nun wiederum die Idee das Gemüth erregt<lb/>
und diese Erregung ebenfalls durch die vermehrte Reproduction an Stärke wächst,<lb/>
so ergibt sich diese Wechselwirkung als der den heftigen Leidenschaften zugrunde¬<lb/>
liegende physische Proceß. Soll eine solche also künstlerisch dargestellt werden,<lb/>
so sind dazu nur wenige Ideen, aber die Zeichen einer beständigen Steigerung<lb/>
Der Gemüthsthätigkeit erforderlich. Aus diesen Thatsachen beruht in der<lb/>
Musik, welche sich vor allen Künsten durch die wunderbare Eigenschaft aus.<lb/>
zeichnet, unmittelbar und direct auf daS Gemüth zu wirken, die Berechtigung<lb/>
der Arie und verwandter Formen; je leidenschaftlicher die musikalische oder ge¬<lb/>
müthliche Bewegung ist, desto weniger Gedanken darf sie ausdrücken, desto<lb/>
mehr aber muß das musikalische Thema inhaltsschwer und geeignet sein, in der<lb/>
Einheit mannigfaltig, sich den verschiedenen Stufen und Phasen der Leiden¬<lb/>
schaft anzupassen. Nehmen wir eure willkürliche Situation an, z. B. den<lb/>
Helden in dringender Todesgefahr und seine Geliebte in dem Moment, wo<lb/>
sie Kunde davon erhält, so werden sich in ihr nur wenige Gedanken erzeu¬<lb/>
gen, nicht viel mehr, als etwa das Bewußtsein ihrer Angst und die Vor¬<lb/>
stellung der Unrettbarkeit ihres Geliebten und diese werden sich gegenseitig im-,<lb/>
mer wieder anregen und verstärken. Aus wenigen dies bezeichnenden Wor¬<lb/>
ten und den Ausrufen des Schreckens, der Angst und Verzweiflung müßte<lb/>
also der Tert bestehen, wie es denn auch häufig genug der Fall ist, z. B.<lb/>
in Donna Annas vielberühmter Scene, die durch den wiederholten Ruf nach<lb/>
dem Vater das eigenthümlich Ergreifende erhält. Unendlich schwer, ja un¬<lb/>
möglich erscheint es dagegen im Monologe des Dramas, bedeutende Leiden¬<lb/>
schaften auszudrücken, denn viele Gedanken bei einer Sache erfordern physisch</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 36 *</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0291] besten photographischen Abbildungen lassen an Naturtreue das Werk der Hände bereits hinter sich, die schlechten Porträts sind schon sast ganz ausgerottet und dem Porträtmaler also handgreiflich zu erkennen gegeben, daß nicht zu copiren, sondern das menschliche Antlitz in seinen ausdruckvollsten Momenten darzustellen oder zu idealisiren die Aufgabe des Künstlers sei. Diese Einwirkung der Natur¬ wissenschaft auf die bildenden Künste wird mit der weiteren Ausbildung der Photo¬ graphie, Galvanoplastik u. s. w. gewiß rasch zunehmen, auf die übrigen Künste aber, namentlich auf Musik und Poesie, ist eine ähnliche wol noch nicht sobald zu erwarten, weil diese Künste einen rein gemüthlichen und geistigen Stoff ver¬ arbeite». Hier stellt sich wiederum der Mangel einer auf Beobachtung beruhenden Seelenlehre hemmend in den Weg, die Möglichkeit aber, von letzterer aus auf die weitere Entwicklung jener Künste einzuwirken, läßt sich an beliebigen Bei¬ spielen schon jetzt nachweisen. Es ist z. B. beobachtet, daß jede Idee an Stärke (überzeugender Kraft, Erinnertwerden) desto mehr zunimmt, je häufiger sie im Bewußtsein reproducirt wird und ferner, daß jede bedeutende Gemüthsbewegung immer dieselbe Idee zu reproduciren strebt oder zwingt. Da nun wiederum die Idee das Gemüth erregt und diese Erregung ebenfalls durch die vermehrte Reproduction an Stärke wächst, so ergibt sich diese Wechselwirkung als der den heftigen Leidenschaften zugrunde¬ liegende physische Proceß. Soll eine solche also künstlerisch dargestellt werden, so sind dazu nur wenige Ideen, aber die Zeichen einer beständigen Steigerung Der Gemüthsthätigkeit erforderlich. Aus diesen Thatsachen beruht in der Musik, welche sich vor allen Künsten durch die wunderbare Eigenschaft aus. zeichnet, unmittelbar und direct auf daS Gemüth zu wirken, die Berechtigung der Arie und verwandter Formen; je leidenschaftlicher die musikalische oder ge¬ müthliche Bewegung ist, desto weniger Gedanken darf sie ausdrücken, desto mehr aber muß das musikalische Thema inhaltsschwer und geeignet sein, in der Einheit mannigfaltig, sich den verschiedenen Stufen und Phasen der Leiden¬ schaft anzupassen. Nehmen wir eure willkürliche Situation an, z. B. den Helden in dringender Todesgefahr und seine Geliebte in dem Moment, wo sie Kunde davon erhält, so werden sich in ihr nur wenige Gedanken erzeu¬ gen, nicht viel mehr, als etwa das Bewußtsein ihrer Angst und die Vor¬ stellung der Unrettbarkeit ihres Geliebten und diese werden sich gegenseitig im-, mer wieder anregen und verstärken. Aus wenigen dies bezeichnenden Wor¬ ten und den Ausrufen des Schreckens, der Angst und Verzweiflung müßte also der Tert bestehen, wie es denn auch häufig genug der Fall ist, z. B. in Donna Annas vielberühmter Scene, die durch den wiederholten Ruf nach dem Vater das eigenthümlich Ergreifende erhält. Unendlich schwer, ja un¬ möglich erscheint es dagegen im Monologe des Dramas, bedeutende Leiden¬ schaften auszudrücken, denn viele Gedanken bei einer Sache erfordern physisch 36 *

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/291
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/291>, abgerufen am 28.09.2024.