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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Das Schloß von Nohaut ist den Arbeitern von La ClMre und den
Bauern der Umgebung geöffnet. Sie empfängt diese demokratische Welt an
ihrem Tische, sie bespricht sich mit ihnen, sie tröstet sie, steht ihnen bei in
jeder Noth, in jeder Verlegenheit.

Ihr Leben in Nohaut ist einfach, ihre Zeit ist zwischen den schriftstelleri¬
schen Arbeiten, den Pflichten gegen das Unglück und dem Umgange mit ihren
beiden Kindern und einigen Freunden, die nie fehlen, getheilt. Madame Sand
liebt ihre Tochter Solange und ihren Sohn Moritz über alles. Seit jene
ihren Mann, den Bildhauer Clesinger, der seine Schwiegermutter aus die bru¬
talste Weise behandelt hatte, verlassen, lebt sie bei ihrer Mutter. Die durch
den Schwiegersohn veranlaßten Zwistigkeiten sind vergessen, Madame Sand
wird angebetet von allem, was in ihre Nähe zu kommen das Glück hat. ES
läßt sich denken, welche Gefühle ihre eignen Kinder für sie hegen.

Ein Tag auf dem Schlosse von Nohaut gleicht dem andern. Um elf
Uhr Morgens ruft die Glocke die Hausgenossen zum Morgenimbiß. Madame
Sand erscheint gewöhnlich etwas später, weil sie bis zum Anbruche des Tages
zu arbeiten pflegt. Sie ißt und spricht wenig, aber sie liebt es, wenn um
sie her Späße und geistreiche Plaudereien gemacht werden. Sie ist das dank¬
barste Publicum und freut sich wie ein Kind über jeden Scherz. Sie kann
über eine komische Ungeschicklichkeit, über einen Calembourg, über eine drollige
Aeußerung in herzliches Lachen ausbrechen, und einmal im Zuge hätt sie nicht
leicht inne. Sie war von jeher und bleibt eine Natur wie die meisten großen
Künstler und wie wenige große Dichter. Nach dem Frühstücke geht Madame
Sand ein wenig in ihrem Parke herum. Sie kehrt dann in ihre Stube zurück
und' beschäftigt sich mit ihrer Korrespondenz und nur in den seltensten Fällen
mit ihren schriftstellerischen Arbeiten.

Diesen ist die Nacht gewidmet, wenn alles um sie her in tiefster Ruhe
ist. Sie improvisirt von Mitternacht bis zum Morgen, denn so muß diese
Arbeit genannt werden, welche nur flüchtig überdacht aufs Papier hingeworfen
wird, ohne daß auch nur ein einziges weggestrichenes Wort das Zaudern
während eines Augenblicks verräth. Improvisation ist umsomehr die einzige
Bezeichnung für diese Meisterwerke, als die Dichterin häufig nicht weiß, wo¬
hin' ihre Einbildungskraft sie führen werde. Der Stoff schwebt ihr zwar deut¬
lich vor, aber Verwicklung, Entwicklung und Ausgang kommen erst unter
ihrer Feder zur Geltung. Wenn diese Improvisationen das Gepräge der
reiflichster Ueberlegung und tiefer Ueberdachtheit an sich tragen, so muß be¬
dacht werden, daß die Dichterin gewisse Gestalten, Empfindungen und Betrach¬
tungen vielleicht seit Jahren in irgendeinem verborgenen Fache ihres Geistes
aufbewahrt hat. Diese Schöpfungen fallen der Dichterin Als über Nacht ge¬
reifte Früchte in. den Schoß, weil sie unbewußt in ihrem Geiste wuchsen.


Das Schloß von Nohaut ist den Arbeitern von La ClMre und den
Bauern der Umgebung geöffnet. Sie empfängt diese demokratische Welt an
ihrem Tische, sie bespricht sich mit ihnen, sie tröstet sie, steht ihnen bei in
jeder Noth, in jeder Verlegenheit.

Ihr Leben in Nohaut ist einfach, ihre Zeit ist zwischen den schriftstelleri¬
schen Arbeiten, den Pflichten gegen das Unglück und dem Umgange mit ihren
beiden Kindern und einigen Freunden, die nie fehlen, getheilt. Madame Sand
liebt ihre Tochter Solange und ihren Sohn Moritz über alles. Seit jene
ihren Mann, den Bildhauer Clesinger, der seine Schwiegermutter aus die bru¬
talste Weise behandelt hatte, verlassen, lebt sie bei ihrer Mutter. Die durch
den Schwiegersohn veranlaßten Zwistigkeiten sind vergessen, Madame Sand
wird angebetet von allem, was in ihre Nähe zu kommen das Glück hat. ES
läßt sich denken, welche Gefühle ihre eignen Kinder für sie hegen.

Ein Tag auf dem Schlosse von Nohaut gleicht dem andern. Um elf
Uhr Morgens ruft die Glocke die Hausgenossen zum Morgenimbiß. Madame
Sand erscheint gewöhnlich etwas später, weil sie bis zum Anbruche des Tages
zu arbeiten pflegt. Sie ißt und spricht wenig, aber sie liebt es, wenn um
sie her Späße und geistreiche Plaudereien gemacht werden. Sie ist das dank¬
barste Publicum und freut sich wie ein Kind über jeden Scherz. Sie kann
über eine komische Ungeschicklichkeit, über einen Calembourg, über eine drollige
Aeußerung in herzliches Lachen ausbrechen, und einmal im Zuge hätt sie nicht
leicht inne. Sie war von jeher und bleibt eine Natur wie die meisten großen
Künstler und wie wenige große Dichter. Nach dem Frühstücke geht Madame
Sand ein wenig in ihrem Parke herum. Sie kehrt dann in ihre Stube zurück
und' beschäftigt sich mit ihrer Korrespondenz und nur in den seltensten Fällen
mit ihren schriftstellerischen Arbeiten.

Diesen ist die Nacht gewidmet, wenn alles um sie her in tiefster Ruhe
ist. Sie improvisirt von Mitternacht bis zum Morgen, denn so muß diese
Arbeit genannt werden, welche nur flüchtig überdacht aufs Papier hingeworfen
wird, ohne daß auch nur ein einziges weggestrichenes Wort das Zaudern
während eines Augenblicks verräth. Improvisation ist umsomehr die einzige
Bezeichnung für diese Meisterwerke, als die Dichterin häufig nicht weiß, wo¬
hin' ihre Einbildungskraft sie führen werde. Der Stoff schwebt ihr zwar deut¬
lich vor, aber Verwicklung, Entwicklung und Ausgang kommen erst unter
ihrer Feder zur Geltung. Wenn diese Improvisationen das Gepräge der
reiflichster Ueberlegung und tiefer Ueberdachtheit an sich tragen, so muß be¬
dacht werden, daß die Dichterin gewisse Gestalten, Empfindungen und Betrach¬
tungen vielleicht seit Jahren in irgendeinem verborgenen Fache ihres Geistes
aufbewahrt hat. Diese Schöpfungen fallen der Dichterin Als über Nacht ge¬
reifte Früchte in. den Schoß, weil sie unbewußt in ihrem Geiste wuchsen.


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[0267] Das Schloß von Nohaut ist den Arbeitern von La ClMre und den Bauern der Umgebung geöffnet. Sie empfängt diese demokratische Welt an ihrem Tische, sie bespricht sich mit ihnen, sie tröstet sie, steht ihnen bei in jeder Noth, in jeder Verlegenheit. Ihr Leben in Nohaut ist einfach, ihre Zeit ist zwischen den schriftstelleri¬ schen Arbeiten, den Pflichten gegen das Unglück und dem Umgange mit ihren beiden Kindern und einigen Freunden, die nie fehlen, getheilt. Madame Sand liebt ihre Tochter Solange und ihren Sohn Moritz über alles. Seit jene ihren Mann, den Bildhauer Clesinger, der seine Schwiegermutter aus die bru¬ talste Weise behandelt hatte, verlassen, lebt sie bei ihrer Mutter. Die durch den Schwiegersohn veranlaßten Zwistigkeiten sind vergessen, Madame Sand wird angebetet von allem, was in ihre Nähe zu kommen das Glück hat. ES läßt sich denken, welche Gefühle ihre eignen Kinder für sie hegen. Ein Tag auf dem Schlosse von Nohaut gleicht dem andern. Um elf Uhr Morgens ruft die Glocke die Hausgenossen zum Morgenimbiß. Madame Sand erscheint gewöhnlich etwas später, weil sie bis zum Anbruche des Tages zu arbeiten pflegt. Sie ißt und spricht wenig, aber sie liebt es, wenn um sie her Späße und geistreiche Plaudereien gemacht werden. Sie ist das dank¬ barste Publicum und freut sich wie ein Kind über jeden Scherz. Sie kann über eine komische Ungeschicklichkeit, über einen Calembourg, über eine drollige Aeußerung in herzliches Lachen ausbrechen, und einmal im Zuge hätt sie nicht leicht inne. Sie war von jeher und bleibt eine Natur wie die meisten großen Künstler und wie wenige große Dichter. Nach dem Frühstücke geht Madame Sand ein wenig in ihrem Parke herum. Sie kehrt dann in ihre Stube zurück und' beschäftigt sich mit ihrer Korrespondenz und nur in den seltensten Fällen mit ihren schriftstellerischen Arbeiten. Diesen ist die Nacht gewidmet, wenn alles um sie her in tiefster Ruhe ist. Sie improvisirt von Mitternacht bis zum Morgen, denn so muß diese Arbeit genannt werden, welche nur flüchtig überdacht aufs Papier hingeworfen wird, ohne daß auch nur ein einziges weggestrichenes Wort das Zaudern während eines Augenblicks verräth. Improvisation ist umsomehr die einzige Bezeichnung für diese Meisterwerke, als die Dichterin häufig nicht weiß, wo¬ hin' ihre Einbildungskraft sie führen werde. Der Stoff schwebt ihr zwar deut¬ lich vor, aber Verwicklung, Entwicklung und Ausgang kommen erst unter ihrer Feder zur Geltung. Wenn diese Improvisationen das Gepräge der reiflichster Ueberlegung und tiefer Ueberdachtheit an sich tragen, so muß be¬ dacht werden, daß die Dichterin gewisse Gestalten, Empfindungen und Betrach¬ tungen vielleicht seit Jahren in irgendeinem verborgenen Fache ihres Geistes aufbewahrt hat. Diese Schöpfungen fallen der Dichterin Als über Nacht ge¬ reifte Früchte in. den Schoß, weil sie unbewußt in ihrem Geiste wuchsen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/267>, abgerufen am 29.06.2024.