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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Alle früheren Religionen, unter den später entstandenen auch die muha-
medanische, sind Bejahungen des natürlichen Lebens; es wird in ihnen als
ideal, als göttlich ausgestellt, was der Mensch mit unmittelbarer natürlicher
Lust umfängt. Im Gegensatz dazu ist das Christenthum die absolute Ver¬
leugnung des natürlichen Lebens, die Zerknirschung der unmittelbaren Wünsche
und Bestrebungen, die tiefste Demüthigung des Geistes, der sich als sündhaft
und unselig erkennt. Hegel ging freilich nicht so abstract zu Werke, daß er
nur diese eine Seite des Christenthums hervorgehoben hätte, aber sie war es,
die er mit Recht für die Zeit seiner Erscheinung in der Welt als die charak¬
teristische bezeichnete.

Von Seiten neuerer Philosophen, wie früher von Seiten unsrer classischen
Dichter, ist nun dieser Gegensatz so aufgefaßt worden, als ob die andern Re¬
ligionen, insofern sie das natürliche Leben bestätigten, dem Christenthum vor¬
zuziehen seien. Hegel hat anders entschieden, und mit Recht. Alle andern
Religionen waren durch ihre Natürlichkeit an die Volksindividualität, der sie
angehörten, gebunden;, sie lebten mit ihr in einseitiger Blüte und gingen mit
ihr unter; das Christenthum allein, weil es das individuelle natürliche Leben
verleugnete, war die Macht, die zur Zucht der gesammten Welt berufen und
befähigt war.

Es war ganz dem tiefen historischen Blick Hegels angemessen, daß er diese
welthistorische Macht nicht aus dem Judenthum herleitete, sondern aus dem
weltbeherrschenden Nömerreich. Das Judenthum lieferte den Stoff, aber erst
indem das Römerthum sich desselben bemächtigte, erhob es diesen Stoff zur
treibenden Kraft der gesaMmten Weltentwicklung. Die römische Welt in ihrer
Rathlosigkeit und in dem Schmerz des von Gott Verlassenseins hat den Bruch
mit der Wirklichkeit und die gemeinsame Sehnsucht nach einer Befriedigung, die
nur im Geist innerlich erreicht werden kann, hervorgetrieben und den Boden für
eine höhere, geistige Welt bereitet. Sie war das Fatum, welches die Götter
und das heitere Leben in ihrem Dienst erdrückte, und die Macht, welche das
menschliche Gemüth von aller Besonderheit reinigte; sie hat die besondern Frei¬
heiten und die beschränkten Volkögeister unterdrückt, so daß die Völker den
Göttern abtrünnig wurden und zum Bewußtsein ihrer Schwäche und Ohnmacht
kamen, indem ihr politisches Leben von der einen allgemeinen Macht vernichtet
wurde. Im römischen Pantheon werden die Götter aller Völker versammelt
.und vernichten einander dadurch gegenseitig, daß sie vereinigt werden. Der
römische Geist hat jenes Glück des schönen Lebens vernichtet, und alle Ge¬
staltungen zur Einheit und Gleichheit herabgedrückt. Diese abstracte Macht
war es, die ungeheures Unglück und einen allgemeinen Schmerz hervorgebracht
hat, einen Schmerz, der die Geburtswehe des Christenthums sein sollte. Die
Unterschiede von freien Menschen und Sklaven verschwinden durch die Allmacht


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Alle früheren Religionen, unter den später entstandenen auch die muha-
medanische, sind Bejahungen des natürlichen Lebens; es wird in ihnen als
ideal, als göttlich ausgestellt, was der Mensch mit unmittelbarer natürlicher
Lust umfängt. Im Gegensatz dazu ist das Christenthum die absolute Ver¬
leugnung des natürlichen Lebens, die Zerknirschung der unmittelbaren Wünsche
und Bestrebungen, die tiefste Demüthigung des Geistes, der sich als sündhaft
und unselig erkennt. Hegel ging freilich nicht so abstract zu Werke, daß er
nur diese eine Seite des Christenthums hervorgehoben hätte, aber sie war es,
die er mit Recht für die Zeit seiner Erscheinung in der Welt als die charak¬
teristische bezeichnete.

Von Seiten neuerer Philosophen, wie früher von Seiten unsrer classischen
Dichter, ist nun dieser Gegensatz so aufgefaßt worden, als ob die andern Re¬
ligionen, insofern sie das natürliche Leben bestätigten, dem Christenthum vor¬
zuziehen seien. Hegel hat anders entschieden, und mit Recht. Alle andern
Religionen waren durch ihre Natürlichkeit an die Volksindividualität, der sie
angehörten, gebunden;, sie lebten mit ihr in einseitiger Blüte und gingen mit
ihr unter; das Christenthum allein, weil es das individuelle natürliche Leben
verleugnete, war die Macht, die zur Zucht der gesammten Welt berufen und
befähigt war.

Es war ganz dem tiefen historischen Blick Hegels angemessen, daß er diese
welthistorische Macht nicht aus dem Judenthum herleitete, sondern aus dem
weltbeherrschenden Nömerreich. Das Judenthum lieferte den Stoff, aber erst
indem das Römerthum sich desselben bemächtigte, erhob es diesen Stoff zur
treibenden Kraft der gesaMmten Weltentwicklung. Die römische Welt in ihrer
Rathlosigkeit und in dem Schmerz des von Gott Verlassenseins hat den Bruch
mit der Wirklichkeit und die gemeinsame Sehnsucht nach einer Befriedigung, die
nur im Geist innerlich erreicht werden kann, hervorgetrieben und den Boden für
eine höhere, geistige Welt bereitet. Sie war das Fatum, welches die Götter
und das heitere Leben in ihrem Dienst erdrückte, und die Macht, welche das
menschliche Gemüth von aller Besonderheit reinigte; sie hat die besondern Frei¬
heiten und die beschränkten Volkögeister unterdrückt, so daß die Völker den
Göttern abtrünnig wurden und zum Bewußtsein ihrer Schwäche und Ohnmacht
kamen, indem ihr politisches Leben von der einen allgemeinen Macht vernichtet
wurde. Im römischen Pantheon werden die Götter aller Völker versammelt
.und vernichten einander dadurch gegenseitig, daß sie vereinigt werden. Der
römische Geist hat jenes Glück des schönen Lebens vernichtet, und alle Ge¬
staltungen zur Einheit und Gleichheit herabgedrückt. Diese abstracte Macht
war es, die ungeheures Unglück und einen allgemeinen Schmerz hervorgebracht
hat, einen Schmerz, der die Geburtswehe des Christenthums sein sollte. Die
Unterschiede von freien Menschen und Sklaven verschwinden durch die Allmacht


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[0259] Alle früheren Religionen, unter den später entstandenen auch die muha- medanische, sind Bejahungen des natürlichen Lebens; es wird in ihnen als ideal, als göttlich ausgestellt, was der Mensch mit unmittelbarer natürlicher Lust umfängt. Im Gegensatz dazu ist das Christenthum die absolute Ver¬ leugnung des natürlichen Lebens, die Zerknirschung der unmittelbaren Wünsche und Bestrebungen, die tiefste Demüthigung des Geistes, der sich als sündhaft und unselig erkennt. Hegel ging freilich nicht so abstract zu Werke, daß er nur diese eine Seite des Christenthums hervorgehoben hätte, aber sie war es, die er mit Recht für die Zeit seiner Erscheinung in der Welt als die charak¬ teristische bezeichnete. Von Seiten neuerer Philosophen, wie früher von Seiten unsrer classischen Dichter, ist nun dieser Gegensatz so aufgefaßt worden, als ob die andern Re¬ ligionen, insofern sie das natürliche Leben bestätigten, dem Christenthum vor¬ zuziehen seien. Hegel hat anders entschieden, und mit Recht. Alle andern Religionen waren durch ihre Natürlichkeit an die Volksindividualität, der sie angehörten, gebunden;, sie lebten mit ihr in einseitiger Blüte und gingen mit ihr unter; das Christenthum allein, weil es das individuelle natürliche Leben verleugnete, war die Macht, die zur Zucht der gesammten Welt berufen und befähigt war. Es war ganz dem tiefen historischen Blick Hegels angemessen, daß er diese welthistorische Macht nicht aus dem Judenthum herleitete, sondern aus dem weltbeherrschenden Nömerreich. Das Judenthum lieferte den Stoff, aber erst indem das Römerthum sich desselben bemächtigte, erhob es diesen Stoff zur treibenden Kraft der gesaMmten Weltentwicklung. Die römische Welt in ihrer Rathlosigkeit und in dem Schmerz des von Gott Verlassenseins hat den Bruch mit der Wirklichkeit und die gemeinsame Sehnsucht nach einer Befriedigung, die nur im Geist innerlich erreicht werden kann, hervorgetrieben und den Boden für eine höhere, geistige Welt bereitet. Sie war das Fatum, welches die Götter und das heitere Leben in ihrem Dienst erdrückte, und die Macht, welche das menschliche Gemüth von aller Besonderheit reinigte; sie hat die besondern Frei¬ heiten und die beschränkten Volkögeister unterdrückt, so daß die Völker den Göttern abtrünnig wurden und zum Bewußtsein ihrer Schwäche und Ohnmacht kamen, indem ihr politisches Leben von der einen allgemeinen Macht vernichtet wurde. Im römischen Pantheon werden die Götter aller Völker versammelt .und vernichten einander dadurch gegenseitig, daß sie vereinigt werden. Der römische Geist hat jenes Glück des schönen Lebens vernichtet, und alle Ge¬ staltungen zur Einheit und Gleichheit herabgedrückt. Diese abstracte Macht war es, die ungeheures Unglück und einen allgemeinen Schmerz hervorgebracht hat, einen Schmerz, der die Geburtswehe des Christenthums sein sollte. Die Unterschiede von freien Menschen und Sklaven verschwinden durch die Allmacht 32*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/259>, abgerufen am 29.06.2024.