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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Wenn man über die eigenthümlichen Formen dieser Dialektik auch nur
eine oberflächliche Vorstellung bilden will, so muß man folgendes festhalten.
Der Gegenstand der Hegelschen Philosophie war der Geist, d. h. der mensch¬
liche Geist, den er in der ganzen Totalität seiner historischen Erscheinung sich
gewissermaßen als eine Individualität dachte, welche nach bestimmten Ge¬
setzen organisch sich entwickelte und mit einer innern Nothwendigkeit, wie die
Pflanze ihre Keime und Blüten, ihre Logik und ihre Geschichte aus sich selbst
herausarbeitete. Der menschliche Geist war ihm ein Ganzes, seine Geschichte
eine stetige Evolution, deren letztes Product immer die früheren Keime in sich
enthielt. Alle seine Schriften stellen daher Evolutionen dar, gleichviel ob er
die Thätigkeit des Geistes in dem reinen Begriff (Logik), oder im Jdealisiren
(Religion und Kunst), oder in der praktischen Thätigkeit verfolgte, oder ob er
alles dies bunt durcheinandermischte, wie in der Phänomenologie. Den Inhalt
dieser Evolutionen nahm er zwar eigentlich aus der wirklichen Geschichte; da
er aber die verschiedenen Seiten der geistigen Thätigkeit, die ideale und die
reale, stets parallelisirte, so gewann seine historische Darstellung den Anschein
einer Deduction g, priori, was seiner Philosophie so schwere Vorwürfe zuge¬
zogen hat. Für den, welcher sein System nach Anleitung der Encyklopädie
studirt, sieht es so aus, als ob die Begriffsbewegung in seiner Logik den
Mechanismus der Bewegung seiner übrigen Werke enthielte; diese Voraus¬
setzung ist aber falsch, da ja die angebliche Selbstentwicklung des Begriffs in'
der Logik nichts Anderes ist, als eine Rekapitulation des Ganzen in der Ge¬
schichte der Philosophie. Die Geschichte d er Philosophie ist der Schlüssel
zu Hegels sämmtlichen Werken; aus ihr ist die Logik, die Religions-
philosophie, die Aesthetik, die Phänomenologie, endlich die Philosophie der Ge¬
schichte hervorgegangen.

Die Geschichte der Menschheit, wie das Leben der Menschen überhaupt,
ist das Streben nach dem Absoluten. Der Sinn der Hegelschen Philosophie
im Gegensatz gegen den Idealismus der früheren Schulen, ist, daß das Ab¬
solute nicht als ein Jenseitiges, sondern als das Wirkliche aufzufassen sei. Die
Menschen streben nach dem Himmel, und merken nicht, daß sie mitten darin
stehen. Zu dieser Erkenntniß führt bei Hegel das Streben nach dem Absoluten
in allen Formen, in der Philosophie, in der Religion, im praktischen Leben,
aber die Geschichte der Philosophie ist das Kriterium sür alle übrigen, denn
sie stellt das Streben nach dem Absoluten in der Form des reinen Be¬
griffs dar.

Hegel betrachtet also mit Recht die Philosophie der Orientalen und die
der Griechen vor Anaragoras und den Eleaten als blos substantielles Denken,
welches noch nicht die Form des reinen Begriffs hatte. Das frühere Philo¬
sophiren enthielt entweder moralische Maximen oder physikalische Epeculationen;


Wenn man über die eigenthümlichen Formen dieser Dialektik auch nur
eine oberflächliche Vorstellung bilden will, so muß man folgendes festhalten.
Der Gegenstand der Hegelschen Philosophie war der Geist, d. h. der mensch¬
liche Geist, den er in der ganzen Totalität seiner historischen Erscheinung sich
gewissermaßen als eine Individualität dachte, welche nach bestimmten Ge¬
setzen organisch sich entwickelte und mit einer innern Nothwendigkeit, wie die
Pflanze ihre Keime und Blüten, ihre Logik und ihre Geschichte aus sich selbst
herausarbeitete. Der menschliche Geist war ihm ein Ganzes, seine Geschichte
eine stetige Evolution, deren letztes Product immer die früheren Keime in sich
enthielt. Alle seine Schriften stellen daher Evolutionen dar, gleichviel ob er
die Thätigkeit des Geistes in dem reinen Begriff (Logik), oder im Jdealisiren
(Religion und Kunst), oder in der praktischen Thätigkeit verfolgte, oder ob er
alles dies bunt durcheinandermischte, wie in der Phänomenologie. Den Inhalt
dieser Evolutionen nahm er zwar eigentlich aus der wirklichen Geschichte; da
er aber die verschiedenen Seiten der geistigen Thätigkeit, die ideale und die
reale, stets parallelisirte, so gewann seine historische Darstellung den Anschein
einer Deduction g, priori, was seiner Philosophie so schwere Vorwürfe zuge¬
zogen hat. Für den, welcher sein System nach Anleitung der Encyklopädie
studirt, sieht es so aus, als ob die Begriffsbewegung in seiner Logik den
Mechanismus der Bewegung seiner übrigen Werke enthielte; diese Voraus¬
setzung ist aber falsch, da ja die angebliche Selbstentwicklung des Begriffs in'
der Logik nichts Anderes ist, als eine Rekapitulation des Ganzen in der Ge¬
schichte der Philosophie. Die Geschichte d er Philosophie ist der Schlüssel
zu Hegels sämmtlichen Werken; aus ihr ist die Logik, die Religions-
philosophie, die Aesthetik, die Phänomenologie, endlich die Philosophie der Ge¬
schichte hervorgegangen.

Die Geschichte der Menschheit, wie das Leben der Menschen überhaupt,
ist das Streben nach dem Absoluten. Der Sinn der Hegelschen Philosophie
im Gegensatz gegen den Idealismus der früheren Schulen, ist, daß das Ab¬
solute nicht als ein Jenseitiges, sondern als das Wirkliche aufzufassen sei. Die
Menschen streben nach dem Himmel, und merken nicht, daß sie mitten darin
stehen. Zu dieser Erkenntniß führt bei Hegel das Streben nach dem Absoluten
in allen Formen, in der Philosophie, in der Religion, im praktischen Leben,
aber die Geschichte der Philosophie ist das Kriterium sür alle übrigen, denn
sie stellt das Streben nach dem Absoluten in der Form des reinen Be¬
griffs dar.

Hegel betrachtet also mit Recht die Philosophie der Orientalen und die
der Griechen vor Anaragoras und den Eleaten als blos substantielles Denken,
welches noch nicht die Form des reinen Begriffs hatte. Das frühere Philo¬
sophiren enthielt entweder moralische Maximen oder physikalische Epeculationen;


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[0253] Wenn man über die eigenthümlichen Formen dieser Dialektik auch nur eine oberflächliche Vorstellung bilden will, so muß man folgendes festhalten. Der Gegenstand der Hegelschen Philosophie war der Geist, d. h. der mensch¬ liche Geist, den er in der ganzen Totalität seiner historischen Erscheinung sich gewissermaßen als eine Individualität dachte, welche nach bestimmten Ge¬ setzen organisch sich entwickelte und mit einer innern Nothwendigkeit, wie die Pflanze ihre Keime und Blüten, ihre Logik und ihre Geschichte aus sich selbst herausarbeitete. Der menschliche Geist war ihm ein Ganzes, seine Geschichte eine stetige Evolution, deren letztes Product immer die früheren Keime in sich enthielt. Alle seine Schriften stellen daher Evolutionen dar, gleichviel ob er die Thätigkeit des Geistes in dem reinen Begriff (Logik), oder im Jdealisiren (Religion und Kunst), oder in der praktischen Thätigkeit verfolgte, oder ob er alles dies bunt durcheinandermischte, wie in der Phänomenologie. Den Inhalt dieser Evolutionen nahm er zwar eigentlich aus der wirklichen Geschichte; da er aber die verschiedenen Seiten der geistigen Thätigkeit, die ideale und die reale, stets parallelisirte, so gewann seine historische Darstellung den Anschein einer Deduction g, priori, was seiner Philosophie so schwere Vorwürfe zuge¬ zogen hat. Für den, welcher sein System nach Anleitung der Encyklopädie studirt, sieht es so aus, als ob die Begriffsbewegung in seiner Logik den Mechanismus der Bewegung seiner übrigen Werke enthielte; diese Voraus¬ setzung ist aber falsch, da ja die angebliche Selbstentwicklung des Begriffs in' der Logik nichts Anderes ist, als eine Rekapitulation des Ganzen in der Ge¬ schichte der Philosophie. Die Geschichte d er Philosophie ist der Schlüssel zu Hegels sämmtlichen Werken; aus ihr ist die Logik, die Religions- philosophie, die Aesthetik, die Phänomenologie, endlich die Philosophie der Ge¬ schichte hervorgegangen. Die Geschichte der Menschheit, wie das Leben der Menschen überhaupt, ist das Streben nach dem Absoluten. Der Sinn der Hegelschen Philosophie im Gegensatz gegen den Idealismus der früheren Schulen, ist, daß das Ab¬ solute nicht als ein Jenseitiges, sondern als das Wirkliche aufzufassen sei. Die Menschen streben nach dem Himmel, und merken nicht, daß sie mitten darin stehen. Zu dieser Erkenntniß führt bei Hegel das Streben nach dem Absoluten in allen Formen, in der Philosophie, in der Religion, im praktischen Leben, aber die Geschichte der Philosophie ist das Kriterium sür alle übrigen, denn sie stellt das Streben nach dem Absoluten in der Form des reinen Be¬ griffs dar. Hegel betrachtet also mit Recht die Philosophie der Orientalen und die der Griechen vor Anaragoras und den Eleaten als blos substantielles Denken, welches noch nicht die Form des reinen Begriffs hatte. Das frühere Philo¬ sophiren enthielt entweder moralische Maximen oder physikalische Epeculationen;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/253>, abgerufen am 29.06.2024.