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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Es war im Jahre 1842, als die Befestigungen von Königsberg in An¬
griff genommen wurden; nächst diesen hätte man mit denen von Breslau be¬
ginnen sollen, aber man vergriff sich soweit in den Mitteln sür diesen großen
Zweck, daß man statt dessen einen Punkt ohne strategische und politische Be¬
deutung und der tief in Masuren und von jeder frequenten Straße weit abge¬
legen ist, nämlich Lötzen zwischen dem Kisain- und Löwentinersee zu sortificiren
begann. Für Rußland lag ein nicht mißzuverstehender Wink in solchen Ma߬
nahmen; aber diese Macht, welche die Emplacements für ihre drei neuen
Festungen (Modlitt, Sierock und Jwaugorod) in Polen trefflich zu wählen ver¬
standen, sah sich einigermaßen durch den auf preußischer Seite begangenen
Fehler entschädigt und im Herzen triumphirte sie sicherlich darüber.

Seit jener Zeit sind die Bauten in der ostpreußischen Hauptstadt und zwi¬
schen den masurischen Seen fortgesetzt worden, zwar nicht mit Aufwendung der
gesammten, anfangs in Bewegung gesetzten Mittel, aber dennoch ohne Unter¬
brechung; doch hat von der Inangriffnahme der Breslauer'Befestigung seitdem
nichts verlautet, und wiewol es außer Zweifel steht, daß die Pläne und Vor¬
entwürfe bereits beendet sind, kann diese großartige Unternehmung, deren
Nothwendigkeit unerläßlich erscheint, wenn man die herrliche Provinz Schlesien
nicht einem russischen militärischen Schachzuge, einem kurzen Marsche von
Kalisz (Kalisch) nach der mittleren Oder, preisgeben will, für auf lange Zeit
hinausgeschoben erachtet werden.

Bei dem allen ist Preußen in diesem Augenblick gleichwol derjenige Staat,
welcher für einen energischen Offensivkrieg gegen Rußland am besten einge¬
richtet ist. Frankreich liegt zu weit ab, um, selbst wenn alle Hindernisse eines
Durchmarsches französischer Truppen durch Deutschland hinweggeräumt wären,
mit mehr als halbirter Kraft auf dem russischen Territorium erscheinen zu kön¬
nen. Oestreich wird immer den Kern seiner Armee dazu verwenden müssen, um
Italien, und Ungarn zu hüten; tausend Hintergedanken und Bedenken knüpfen
sich an seinen Vorgang gegen den Zaren, und im günstigsten Falle vermag
es ihm,300,000 Mann entgegenzustellen. Preußen allein vermöchte zu solchem
großen und nationalen Zweck seine ganze Macht ungeschwächt zu ent¬
falten. Wir kennen die Wucht zur Genüge, die in dem Ausdruck eine halbe
Million Krieger liegt; aber Preußen darf kühn behaupten, daß die Anstren¬
gungen der Aufstellung und Unterhaltung eines solchen Heeres nicht zu groß
für seine Kräfte seien. In andern Zeiten allerdings würde auch solche Armee,
nämlich im Einzelkampf gegen den Zaren, eben nur ausreichen, um eine
feste Defensive innezuhalten; heute indeß, wo Nußland sich mit Frankreich
und England engagirt findet, und wo Oestreich nur auf Preußens Einwilli¬
gung und Mithilfe zu warten scheint, um ebenfalls auf den gemeinsamen
Feind loszuschlagen, heute wird sie mehr wie hinreichend sein, um seine Macht
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Es war im Jahre 1842, als die Befestigungen von Königsberg in An¬
griff genommen wurden; nächst diesen hätte man mit denen von Breslau be¬
ginnen sollen, aber man vergriff sich soweit in den Mitteln sür diesen großen
Zweck, daß man statt dessen einen Punkt ohne strategische und politische Be¬
deutung und der tief in Masuren und von jeder frequenten Straße weit abge¬
legen ist, nämlich Lötzen zwischen dem Kisain- und Löwentinersee zu sortificiren
begann. Für Rußland lag ein nicht mißzuverstehender Wink in solchen Ma߬
nahmen; aber diese Macht, welche die Emplacements für ihre drei neuen
Festungen (Modlitt, Sierock und Jwaugorod) in Polen trefflich zu wählen ver¬
standen, sah sich einigermaßen durch den auf preußischer Seite begangenen
Fehler entschädigt und im Herzen triumphirte sie sicherlich darüber.

Seit jener Zeit sind die Bauten in der ostpreußischen Hauptstadt und zwi¬
schen den masurischen Seen fortgesetzt worden, zwar nicht mit Aufwendung der
gesammten, anfangs in Bewegung gesetzten Mittel, aber dennoch ohne Unter¬
brechung; doch hat von der Inangriffnahme der Breslauer'Befestigung seitdem
nichts verlautet, und wiewol es außer Zweifel steht, daß die Pläne und Vor¬
entwürfe bereits beendet sind, kann diese großartige Unternehmung, deren
Nothwendigkeit unerläßlich erscheint, wenn man die herrliche Provinz Schlesien
nicht einem russischen militärischen Schachzuge, einem kurzen Marsche von
Kalisz (Kalisch) nach der mittleren Oder, preisgeben will, für auf lange Zeit
hinausgeschoben erachtet werden.

Bei dem allen ist Preußen in diesem Augenblick gleichwol derjenige Staat,
welcher für einen energischen Offensivkrieg gegen Rußland am besten einge¬
richtet ist. Frankreich liegt zu weit ab, um, selbst wenn alle Hindernisse eines
Durchmarsches französischer Truppen durch Deutschland hinweggeräumt wären,
mit mehr als halbirter Kraft auf dem russischen Territorium erscheinen zu kön¬
nen. Oestreich wird immer den Kern seiner Armee dazu verwenden müssen, um
Italien, und Ungarn zu hüten; tausend Hintergedanken und Bedenken knüpfen
sich an seinen Vorgang gegen den Zaren, und im günstigsten Falle vermag
es ihm,300,000 Mann entgegenzustellen. Preußen allein vermöchte zu solchem
großen und nationalen Zweck seine ganze Macht ungeschwächt zu ent¬
falten. Wir kennen die Wucht zur Genüge, die in dem Ausdruck eine halbe
Million Krieger liegt; aber Preußen darf kühn behaupten, daß die Anstren¬
gungen der Aufstellung und Unterhaltung eines solchen Heeres nicht zu groß
für seine Kräfte seien. In andern Zeiten allerdings würde auch solche Armee,
nämlich im Einzelkampf gegen den Zaren, eben nur ausreichen, um eine
feste Defensive innezuhalten; heute indeß, wo Nußland sich mit Frankreich
und England engagirt findet, und wo Oestreich nur auf Preußens Einwilli¬
gung und Mithilfe zu warten scheint, um ebenfalls auf den gemeinsamen
Feind loszuschlagen, heute wird sie mehr wie hinreichend sein, um seine Macht
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/19>, abgerufen am 29.06.2024.