Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

armen Jungen, den er liebgewonnen, pflegte er etwas Süßes mitzugeben, fügte
aber hinzu: "Sag das nicht weiter, es gibt Leute, die mirs verübeln würden."
Andern Kindern befahl er "den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritt
zurückkäme," oder "der Schwester Sophie zu folgen, als wenn sich selbst wäre."
Einem, der fortgehen wollte ohne zu zahlen, rief er mit donnernder Stimme zu:
"Halt Unglücklicher!" und setzte hinzu: "fühle Kerl bei diesen trocknen Worten"
daß man zahlen soll. Hatte ein Knabe nicht genug Münze, so fuhr er ihn
an: "Bester, das ist wol gesagt und bald gesagt," legte aber meistens das
Fehlende zu. Die Kinder belustigte dieser Muthwille, wenn sie ihn auch nicht
verstanden, weil es stets gutmüthig und munter herauskam.

Vor dem Hause gegenüber saßen oft zwei niedliche Mädchen Abends auf
der Bank. Sah er sie, so rief er: "Mein Freund, ich unterliege der Gewalt
der Herrlichkeit dieser Erscheinungen," ging hinaus und schwatzte ihnen tolles
Zeug vor; Schnalle der Gehilfe, wenn er wiederkam, so hieß es: "Ich Habs
nicht überwinden können, ich mußte zu ihnen hinaus; da bin ich wieder, Wil¬
helm" (so hieß jener auch). Auf die Frage, ob die Mädchen ihm etwas Liebes
gesagt, antwortete er: "Mit der liebenswürdigsten Freimüthigkeit von der Welt
versicherten sie mich, daß sie herzlich gern deutsch tanzten."

Waren Leute da, die warten mußten, wandte er sich an seinen Kameraden,
als ob er eine angefangene Erzählung fortsetzen wollte: "Da kommt gegen
Abend eine junge Frau auf die Kinder los" u. f. w. und erzählte, während
er Arzneien bereitete, mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit, daß die Wartenden
in der Meinung, das alles sei ihm begegnet, nur der größten Theilnahme zu¬
hörten. Nahm man ja einmal seine Späße nicht gut auf, sagte er: "Mi߬
verstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem," oder: "Das alles, Wil¬
helm, macht mich stumm, ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt."

Werfen wir noch einen Blick auf die Briefe. Abgesehen von dem Haupt¬
interesse, welches sie für die Geschichte und das Verständniß bed Werther ge¬
währen, bieten sie dem, der aus den Goethescher Schriften ein genaueres Studium
macht, nicht wenig neue, mehr oder minder erhebliche Aufschlüsse. Hierauf näher
einzugehen würde hier nicht der geeignete Ort sein, nur das mag noch erwähnt
werden, daß wir aus Brief 39 erfahren, daß die Nachrede, mit welcher Goethe
und seine Freunde sich mit dem Schluß des Jahres -1772 von den Frankfurter
gelehrten Anzeigen zurückzogen, von Goethe herrührt, der darin Publicum und
Verleger turlupiuirte. "Laßt euch aber nichts merken," schreibt er, "sie mögens
für Balsam nehmen." Da das Journal in wenigen Häuoen ist, wird man
es nicht unpassend finden, wenn an diesem Ort das kleine Goethiannm wieder
abgedruckt wird, wie folgt:

Nachrede statt der versprochenen Vorrede.

Die besondere Aufmerksamkeit, mit der ein geehrtes Publicum bisher diese


Grenzboten. I. i8it!i. 22

armen Jungen, den er liebgewonnen, pflegte er etwas Süßes mitzugeben, fügte
aber hinzu: „Sag das nicht weiter, es gibt Leute, die mirs verübeln würden."
Andern Kindern befahl er „den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritt
zurückkäme," oder „der Schwester Sophie zu folgen, als wenn sich selbst wäre."
Einem, der fortgehen wollte ohne zu zahlen, rief er mit donnernder Stimme zu:
„Halt Unglücklicher!" und setzte hinzu: „fühle Kerl bei diesen trocknen Worten"
daß man zahlen soll. Hatte ein Knabe nicht genug Münze, so fuhr er ihn
an: „Bester, das ist wol gesagt und bald gesagt," legte aber meistens das
Fehlende zu. Die Kinder belustigte dieser Muthwille, wenn sie ihn auch nicht
verstanden, weil es stets gutmüthig und munter herauskam.

Vor dem Hause gegenüber saßen oft zwei niedliche Mädchen Abends auf
der Bank. Sah er sie, so rief er: „Mein Freund, ich unterliege der Gewalt
der Herrlichkeit dieser Erscheinungen," ging hinaus und schwatzte ihnen tolles
Zeug vor; Schnalle der Gehilfe, wenn er wiederkam, so hieß es: „Ich Habs
nicht überwinden können, ich mußte zu ihnen hinaus; da bin ich wieder, Wil¬
helm" (so hieß jener auch). Auf die Frage, ob die Mädchen ihm etwas Liebes
gesagt, antwortete er: „Mit der liebenswürdigsten Freimüthigkeit von der Welt
versicherten sie mich, daß sie herzlich gern deutsch tanzten."

Waren Leute da, die warten mußten, wandte er sich an seinen Kameraden,
als ob er eine angefangene Erzählung fortsetzen wollte: „Da kommt gegen
Abend eine junge Frau auf die Kinder los" u. f. w. und erzählte, während
er Arzneien bereitete, mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit, daß die Wartenden
in der Meinung, das alles sei ihm begegnet, nur der größten Theilnahme zu¬
hörten. Nahm man ja einmal seine Späße nicht gut auf, sagte er: „Mi߬
verstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem," oder: „Das alles, Wil¬
helm, macht mich stumm, ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt."

Werfen wir noch einen Blick auf die Briefe. Abgesehen von dem Haupt¬
interesse, welches sie für die Geschichte und das Verständniß bed Werther ge¬
währen, bieten sie dem, der aus den Goethescher Schriften ein genaueres Studium
macht, nicht wenig neue, mehr oder minder erhebliche Aufschlüsse. Hierauf näher
einzugehen würde hier nicht der geeignete Ort sein, nur das mag noch erwähnt
werden, daß wir aus Brief 39 erfahren, daß die Nachrede, mit welcher Goethe
und seine Freunde sich mit dem Schluß des Jahres -1772 von den Frankfurter
gelehrten Anzeigen zurückzogen, von Goethe herrührt, der darin Publicum und
Verleger turlupiuirte. „Laßt euch aber nichts merken," schreibt er, „sie mögens
für Balsam nehmen." Da das Journal in wenigen Häuoen ist, wird man
es nicht unpassend finden, wenn an diesem Ort das kleine Goethiannm wieder
abgedruckt wird, wie folgt:

Nachrede statt der versprochenen Vorrede.

Die besondere Aufmerksamkeit, mit der ein geehrtes Publicum bisher diese


Grenzboten. I. i8it!i. 22
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0177" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/99029"/>
          <p xml:id="ID_594" prev="#ID_593"> armen Jungen, den er liebgewonnen, pflegte er etwas Süßes mitzugeben, fügte<lb/>
aber hinzu: &#x201E;Sag das nicht weiter, es gibt Leute, die mirs verübeln würden."<lb/>
Andern Kindern befahl er &#x201E;den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritt<lb/>
zurückkäme," oder &#x201E;der Schwester Sophie zu folgen, als wenn sich selbst wäre."<lb/>
Einem, der fortgehen wollte ohne zu zahlen, rief er mit donnernder Stimme zu:<lb/>
&#x201E;Halt Unglücklicher!" und setzte hinzu: &#x201E;fühle Kerl bei diesen trocknen Worten"<lb/>
daß man zahlen soll. Hatte ein Knabe nicht genug Münze, so fuhr er ihn<lb/>
an: &#x201E;Bester, das ist wol gesagt und bald gesagt," legte aber meistens das<lb/>
Fehlende zu. Die Kinder belustigte dieser Muthwille, wenn sie ihn auch nicht<lb/>
verstanden, weil es stets gutmüthig und munter herauskam.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_595"> Vor dem Hause gegenüber saßen oft zwei niedliche Mädchen Abends auf<lb/>
der Bank. Sah er sie, so rief er: &#x201E;Mein Freund, ich unterliege der Gewalt<lb/>
der Herrlichkeit dieser Erscheinungen," ging hinaus und schwatzte ihnen tolles<lb/>
Zeug vor; Schnalle der Gehilfe, wenn er wiederkam, so hieß es: &#x201E;Ich Habs<lb/>
nicht überwinden können, ich mußte zu ihnen hinaus; da bin ich wieder, Wil¬<lb/>
helm" (so hieß jener auch). Auf die Frage, ob die Mädchen ihm etwas Liebes<lb/>
gesagt, antwortete er: &#x201E;Mit der liebenswürdigsten Freimüthigkeit von der Welt<lb/>
versicherten sie mich, daß sie herzlich gern deutsch tanzten."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_596"> Waren Leute da, die warten mußten, wandte er sich an seinen Kameraden,<lb/>
als ob er eine angefangene Erzählung fortsetzen wollte: &#x201E;Da kommt gegen<lb/>
Abend eine junge Frau auf die Kinder los" u. f. w. und erzählte, während<lb/>
er Arzneien bereitete, mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit, daß die Wartenden<lb/>
in der Meinung, das alles sei ihm begegnet, nur der größten Theilnahme zu¬<lb/>
hörten. Nahm man ja einmal seine Späße nicht gut auf, sagte er: &#x201E;Mi߬<lb/>
verstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem," oder: &#x201E;Das alles, Wil¬<lb/>
helm, macht mich stumm, ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_597"> Werfen wir noch einen Blick auf die Briefe. Abgesehen von dem Haupt¬<lb/>
interesse, welches sie für die Geschichte und das Verständniß bed Werther ge¬<lb/>
währen, bieten sie dem, der aus den Goethescher Schriften ein genaueres Studium<lb/>
macht, nicht wenig neue, mehr oder minder erhebliche Aufschlüsse. Hierauf näher<lb/>
einzugehen würde hier nicht der geeignete Ort sein, nur das mag noch erwähnt<lb/>
werden, daß wir aus Brief 39 erfahren, daß die Nachrede, mit welcher Goethe<lb/>
und seine Freunde sich mit dem Schluß des Jahres -1772 von den Frankfurter<lb/>
gelehrten Anzeigen zurückzogen, von Goethe herrührt, der darin Publicum und<lb/>
Verleger turlupiuirte. &#x201E;Laßt euch aber nichts merken," schreibt er, &#x201E;sie mögens<lb/>
für Balsam nehmen." Da das Journal in wenigen Häuoen ist, wird man<lb/>
es nicht unpassend finden, wenn an diesem Ort das kleine Goethiannm wieder<lb/>
abgedruckt wird, wie folgt:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_598"> Nachrede statt der versprochenen Vorrede.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_599" next="#ID_600"> Die besondere Aufmerksamkeit, mit der ein geehrtes Publicum bisher diese</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. I. i8it!i. 22</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0177] armen Jungen, den er liebgewonnen, pflegte er etwas Süßes mitzugeben, fügte aber hinzu: „Sag das nicht weiter, es gibt Leute, die mirs verübeln würden." Andern Kindern befahl er „den Papa zu grüßen, wenn er vom Spazierritt zurückkäme," oder „der Schwester Sophie zu folgen, als wenn sich selbst wäre." Einem, der fortgehen wollte ohne zu zahlen, rief er mit donnernder Stimme zu: „Halt Unglücklicher!" und setzte hinzu: „fühle Kerl bei diesen trocknen Worten" daß man zahlen soll. Hatte ein Knabe nicht genug Münze, so fuhr er ihn an: „Bester, das ist wol gesagt und bald gesagt," legte aber meistens das Fehlende zu. Die Kinder belustigte dieser Muthwille, wenn sie ihn auch nicht verstanden, weil es stets gutmüthig und munter herauskam. Vor dem Hause gegenüber saßen oft zwei niedliche Mädchen Abends auf der Bank. Sah er sie, so rief er: „Mein Freund, ich unterliege der Gewalt der Herrlichkeit dieser Erscheinungen," ging hinaus und schwatzte ihnen tolles Zeug vor; Schnalle der Gehilfe, wenn er wiederkam, so hieß es: „Ich Habs nicht überwinden können, ich mußte zu ihnen hinaus; da bin ich wieder, Wil¬ helm" (so hieß jener auch). Auf die Frage, ob die Mädchen ihm etwas Liebes gesagt, antwortete er: „Mit der liebenswürdigsten Freimüthigkeit von der Welt versicherten sie mich, daß sie herzlich gern deutsch tanzten." Waren Leute da, die warten mußten, wandte er sich an seinen Kameraden, als ob er eine angefangene Erzählung fortsetzen wollte: „Da kommt gegen Abend eine junge Frau auf die Kinder los" u. f. w. und erzählte, während er Arzneien bereitete, mit einer Wahrheit und Lebhaftigkeit, daß die Wartenden in der Meinung, das alles sei ihm begegnet, nur der größten Theilnahme zu¬ hörten. Nahm man ja einmal seine Späße nicht gut auf, sagte er: „Mi߬ verstanden zu werden ist das Schicksal von unsereinem," oder: „Das alles, Wil¬ helm, macht mich stumm, ich kehre in mich selbst zurück und finde eine Welt." Werfen wir noch einen Blick auf die Briefe. Abgesehen von dem Haupt¬ interesse, welches sie für die Geschichte und das Verständniß bed Werther ge¬ währen, bieten sie dem, der aus den Goethescher Schriften ein genaueres Studium macht, nicht wenig neue, mehr oder minder erhebliche Aufschlüsse. Hierauf näher einzugehen würde hier nicht der geeignete Ort sein, nur das mag noch erwähnt werden, daß wir aus Brief 39 erfahren, daß die Nachrede, mit welcher Goethe und seine Freunde sich mit dem Schluß des Jahres -1772 von den Frankfurter gelehrten Anzeigen zurückzogen, von Goethe herrührt, der darin Publicum und Verleger turlupiuirte. „Laßt euch aber nichts merken," schreibt er, „sie mögens für Balsam nehmen." Da das Journal in wenigen Häuoen ist, wird man es nicht unpassend finden, wenn an diesem Ort das kleine Goethiannm wieder abgedruckt wird, wie folgt: Nachrede statt der versprochenen Vorrede. Die besondere Aufmerksamkeit, mit der ein geehrtes Publicum bisher diese Grenzboten. I. i8it!i. 22

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/177
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/177>, abgerufen am 23.07.2024.