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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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als mit Ausnahme des ersten Acts nur diejenigen Momente deS Verhältnisses
hervorgehoben sind, die einen Fortschritt der Entwicklung bezeichnen.

Die Charakteristik der männlichen Hauptfiguren ist gelungen. Herzog
Ernst erscheint, mit Ausnahme des letzten Acts, als eine kräftige, würdige
Fürstengestalt, soweit Tyrann, als es nöthig ist, einen unauflösbaren Conflict
herbeizuführen, aber nicht soweit, um uns das Gefühl eines widerwärtigen
Unrechts einzuflößen. Die beiden Gegensätze sind in ihrer Art berechtigt, wenn
sie auch, wie es nicht anders thunlich ist, nur die Uebertreibung eines sittlichen
Moments ausdrücken. -- Der jüngere Herzog erinnert etwas zu stark an
Golo; er hat mehr verzehrendes Feuer, als jugendliche Wärme und Frische,
doch hat auch er einige glückliche Momente. Die Nebenfiguren, der Kanzler,
die Ritter und die einzelnen Bürger sind in kurzen, kräftigen Zügen soweit
charakterisirt, als es nöthig ist. Am unbedeutendsten ist der Charakter der
Agnes, für die es freilich auch am schwersten war, die Theilnahme des
Publicums hervorzurufen.

Als mißlungen müssen wir den ersten Act und die zweite Hälfte des letzten
bezeichnen, die ErPosition und die Katastrophe. In der ErPosition hat der
Dichter wahrscheinlich zweierlei zeigen wollen: einmal den Eindruck, den die
Schönheit der Agnes auf alle Welt macht, um die plötzliche Liebe des Herzogs
begreiflich zu machen; sodann die Beschränktheit der bürgerlichen Zustände, um
das Unangemessene dieser Verbindung auch sinnlich hervorzuheben. Er ist aber
in der Virtuosität seiner Detailmalerei viel weiter gegangen, als es nöthig
war, und da außerdem grade dieser Act am meisten in der springenden, zer¬
hackten Manier seiner frühern Werke geschrieben ist, so ist das für die Phan¬
tasie, die für den Ernst der folgenden Handlung gestimmt werden soll, eine
sehr unpassende Einleitung. Der Act müßte um die, Hälfte gekürzt werden,
wenn er aus der Bühne die richtige Wirkung machen soll.

Schwerer zu beseitigen ist die Fehlerhaftigkeit der Katastrophe. Herzog
Ernst hat im vermeintlichen Drang der innern Nothwendigkeit die Gemahlin
seines Sohnes unter rechtlichen Formen umbringen lassen, infolgedessen pflanzt
Albrecht die Fahne der Empörung gegen seinen Vater auf. Wie sott rinn
dieser Conflict, gelöst werden? Getöse mußte er werden, denn bei diesem Stoff
dürfte man der Geschichte nicht soweit untreu werden, einen einseitigen Aus-
gang eintreten zu lassen. Die Lösung war aber sehr schwer, denn bei der
Härte der beiden einander gegenüberstehenden Naturen war an eine innerliche
Vermittlung nicht zu denken, und die natürliche Lösung des praktischen Lebens,
die durch eine Menge hintereinander eintretender Umstände, ja durch den Ein¬
fluß der Zeit erfolgt, war für das Drama nicht zu gebrauchen. Hebbel ist es
nicht gelungen, diese verschiedenen Momente in einem springenden Punkt zu
vereinigen, und er hat dabei das größere Unrecht begangen, in die beiden


als mit Ausnahme des ersten Acts nur diejenigen Momente deS Verhältnisses
hervorgehoben sind, die einen Fortschritt der Entwicklung bezeichnen.

Die Charakteristik der männlichen Hauptfiguren ist gelungen. Herzog
Ernst erscheint, mit Ausnahme des letzten Acts, als eine kräftige, würdige
Fürstengestalt, soweit Tyrann, als es nöthig ist, einen unauflösbaren Conflict
herbeizuführen, aber nicht soweit, um uns das Gefühl eines widerwärtigen
Unrechts einzuflößen. Die beiden Gegensätze sind in ihrer Art berechtigt, wenn
sie auch, wie es nicht anders thunlich ist, nur die Uebertreibung eines sittlichen
Moments ausdrücken. — Der jüngere Herzog erinnert etwas zu stark an
Golo; er hat mehr verzehrendes Feuer, als jugendliche Wärme und Frische,
doch hat auch er einige glückliche Momente. Die Nebenfiguren, der Kanzler,
die Ritter und die einzelnen Bürger sind in kurzen, kräftigen Zügen soweit
charakterisirt, als es nöthig ist. Am unbedeutendsten ist der Charakter der
Agnes, für die es freilich auch am schwersten war, die Theilnahme des
Publicums hervorzurufen.

Als mißlungen müssen wir den ersten Act und die zweite Hälfte des letzten
bezeichnen, die ErPosition und die Katastrophe. In der ErPosition hat der
Dichter wahrscheinlich zweierlei zeigen wollen: einmal den Eindruck, den die
Schönheit der Agnes auf alle Welt macht, um die plötzliche Liebe des Herzogs
begreiflich zu machen; sodann die Beschränktheit der bürgerlichen Zustände, um
das Unangemessene dieser Verbindung auch sinnlich hervorzuheben. Er ist aber
in der Virtuosität seiner Detailmalerei viel weiter gegangen, als es nöthig
war, und da außerdem grade dieser Act am meisten in der springenden, zer¬
hackten Manier seiner frühern Werke geschrieben ist, so ist das für die Phan¬
tasie, die für den Ernst der folgenden Handlung gestimmt werden soll, eine
sehr unpassende Einleitung. Der Act müßte um die, Hälfte gekürzt werden,
wenn er aus der Bühne die richtige Wirkung machen soll.

Schwerer zu beseitigen ist die Fehlerhaftigkeit der Katastrophe. Herzog
Ernst hat im vermeintlichen Drang der innern Nothwendigkeit die Gemahlin
seines Sohnes unter rechtlichen Formen umbringen lassen, infolgedessen pflanzt
Albrecht die Fahne der Empörung gegen seinen Vater auf. Wie sott rinn
dieser Conflict, gelöst werden? Getöse mußte er werden, denn bei diesem Stoff
dürfte man der Geschichte nicht soweit untreu werden, einen einseitigen Aus-
gang eintreten zu lassen. Die Lösung war aber sehr schwer, denn bei der
Härte der beiden einander gegenüberstehenden Naturen war an eine innerliche
Vermittlung nicht zu denken, und die natürliche Lösung des praktischen Lebens,
die durch eine Menge hintereinander eintretender Umstände, ja durch den Ein¬
fluß der Zeit erfolgt, war für das Drama nicht zu gebrauchen. Hebbel ist es
nicht gelungen, diese verschiedenen Momente in einem springenden Punkt zu
vereinigen, und er hat dabei das größere Unrecht begangen, in die beiden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/138>, abgerufen am 25.08.2024.