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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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schickten Charakteristik einzelner Figuren und aus der Kraft und Energie ein¬
zelner Scenen große Hoffnungen für die Zukunft desselben schöpfen, und wir
würden uns darin durch einzelne offenbare Mängel und Verirrungen nicht irre
machen lassen. Da wir es aber mit einem Dichter zu thun haben, der die
Bühne bereits mit einer Reihe von Werken beschenkt und uns an eine ganz
bestimmte Weise des Schaffens gewöhnt hat, so müssen wir zunächst das Ver¬
hältniß dieser neuen Leistung zu seinen frühern feststellen. Es macht uns Ver¬
gnügen, dieselbe als einen ganz entschiedenen Fortschritt begrüßen zu können.

Der Stoff hätte dem Dichter die beste Gelegenheit geboten, das Publicum
wieder durch eine Menge jener Leichenhausphantasien heimzusuchen, mit denen
er in seinen frühern Werken so freigebig ist. Da sich Agnes im dunkeln Vor¬
gefühl ihres nahen Unglücks selbst eine Gruft bauen läßt, so hätten hier alle
möglichen Vampyre und Nachtunholde einen Platz gefunden, um unsre Phan¬
tasie in Ermanglung eines tragischen Eindrucks mit' Grauen zu erfüllen. Der
Dichter hat dies Mal das Mittel verschmäht, und seine Tragödie bewegt sich
ganz auf der Erde, nicht unter den Larven. Dieser Fortschritt ist umsomehr
anzuerkennen, da grade in jenen Phantasien Hebbels Virtuosität besteht, so
daß er dies Mal vielweniger sogenannte effectreiche Stellen vorbringt.

Ferner hätte ihm der Stoff die reichste Gelegenheit geboten, psychologisches
Raffinement zu treiben, die Nerven krankhaft anzureizen und durch den Contrast
widerstrebender sittlicher Empfindungen die Seele auf die Folter zu spannen.
Hebbel hat auch diese Gelegenheit nicht benutzt, und man muß es ihm umsomehr
Dank wissen, je eigensinniger er bisher an seinen falschen ästhetischen Prin¬
cipien festgehalten hat. Sehen wir von der künstlerischen Fassung ab, so können
wir behaupten, daß bis auf die Ktzte Entwicklung das Ereigniß unter gesunden
Naturen grade so hätte vorgehen können, wie es uns Hebbel vorträgt. Daß
Herzog Albrecht der unmittelbaren Leidenschaft schneller Gehör gibt, als es der
Fürstensohn soll, und daß Herzog Ernst die Staatsklugheit und das abstracte Recht
zu sehr über die Stimme des Gewissens vorwiegen läßt, darin liegt eben der tragi¬
sche Conflict, und der Dichter ist durchaus nicht über das Maß hinausgegangen.

Die Handlung umfaßt einen Zeitraum von mehren Jahren, und es kommt
also darauf an, daß der Dichter die Kontinuität der Handlung wenigstens zum
Schein herstellt, so daß der Zuschauer ohne Unterbrechung folgen kann, denn
darauf ausschließlich reducirt die Forderung der dramatischen Zeiteinheit, mit
der man gewöhnlich die unklarsten Vorstellungen verbindet. Hebbel hat diese
Aufgabe glücklich gelöst; man denkt nicht daran, den Chronometer aus der
Tasche zu ziehen, die einzelnen Scenen fügen sich bequem ineinander und man
fühlt sich in einer idealen poetischen Zeit. Auch das historische Costüm ist
wenigstens im ganzen nicht mehr hervorgehoben, als es zum Verständniß der
Handlung wünschenswert!) ist. Die Komposition ist auch insofern zu loben,


Grenzbott". I. 47

schickten Charakteristik einzelner Figuren und aus der Kraft und Energie ein¬
zelner Scenen große Hoffnungen für die Zukunft desselben schöpfen, und wir
würden uns darin durch einzelne offenbare Mängel und Verirrungen nicht irre
machen lassen. Da wir es aber mit einem Dichter zu thun haben, der die
Bühne bereits mit einer Reihe von Werken beschenkt und uns an eine ganz
bestimmte Weise des Schaffens gewöhnt hat, so müssen wir zunächst das Ver¬
hältniß dieser neuen Leistung zu seinen frühern feststellen. Es macht uns Ver¬
gnügen, dieselbe als einen ganz entschiedenen Fortschritt begrüßen zu können.

Der Stoff hätte dem Dichter die beste Gelegenheit geboten, das Publicum
wieder durch eine Menge jener Leichenhausphantasien heimzusuchen, mit denen
er in seinen frühern Werken so freigebig ist. Da sich Agnes im dunkeln Vor¬
gefühl ihres nahen Unglücks selbst eine Gruft bauen läßt, so hätten hier alle
möglichen Vampyre und Nachtunholde einen Platz gefunden, um unsre Phan¬
tasie in Ermanglung eines tragischen Eindrucks mit' Grauen zu erfüllen. Der
Dichter hat dies Mal das Mittel verschmäht, und seine Tragödie bewegt sich
ganz auf der Erde, nicht unter den Larven. Dieser Fortschritt ist umsomehr
anzuerkennen, da grade in jenen Phantasien Hebbels Virtuosität besteht, so
daß er dies Mal vielweniger sogenannte effectreiche Stellen vorbringt.

Ferner hätte ihm der Stoff die reichste Gelegenheit geboten, psychologisches
Raffinement zu treiben, die Nerven krankhaft anzureizen und durch den Contrast
widerstrebender sittlicher Empfindungen die Seele auf die Folter zu spannen.
Hebbel hat auch diese Gelegenheit nicht benutzt, und man muß es ihm umsomehr
Dank wissen, je eigensinniger er bisher an seinen falschen ästhetischen Prin¬
cipien festgehalten hat. Sehen wir von der künstlerischen Fassung ab, so können
wir behaupten, daß bis auf die Ktzte Entwicklung das Ereigniß unter gesunden
Naturen grade so hätte vorgehen können, wie es uns Hebbel vorträgt. Daß
Herzog Albrecht der unmittelbaren Leidenschaft schneller Gehör gibt, als es der
Fürstensohn soll, und daß Herzog Ernst die Staatsklugheit und das abstracte Recht
zu sehr über die Stimme des Gewissens vorwiegen läßt, darin liegt eben der tragi¬
sche Conflict, und der Dichter ist durchaus nicht über das Maß hinausgegangen.

Die Handlung umfaßt einen Zeitraum von mehren Jahren, und es kommt
also darauf an, daß der Dichter die Kontinuität der Handlung wenigstens zum
Schein herstellt, so daß der Zuschauer ohne Unterbrechung folgen kann, denn
darauf ausschließlich reducirt die Forderung der dramatischen Zeiteinheit, mit
der man gewöhnlich die unklarsten Vorstellungen verbindet. Hebbel hat diese
Aufgabe glücklich gelöst; man denkt nicht daran, den Chronometer aus der
Tasche zu ziehen, die einzelnen Scenen fügen sich bequem ineinander und man
fühlt sich in einer idealen poetischen Zeit. Auch das historische Costüm ist
wenigstens im ganzen nicht mehr hervorgehoben, als es zum Verständniß der
Handlung wünschenswert!) ist. Die Komposition ist auch insofern zu loben,


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[0137] schickten Charakteristik einzelner Figuren und aus der Kraft und Energie ein¬ zelner Scenen große Hoffnungen für die Zukunft desselben schöpfen, und wir würden uns darin durch einzelne offenbare Mängel und Verirrungen nicht irre machen lassen. Da wir es aber mit einem Dichter zu thun haben, der die Bühne bereits mit einer Reihe von Werken beschenkt und uns an eine ganz bestimmte Weise des Schaffens gewöhnt hat, so müssen wir zunächst das Ver¬ hältniß dieser neuen Leistung zu seinen frühern feststellen. Es macht uns Ver¬ gnügen, dieselbe als einen ganz entschiedenen Fortschritt begrüßen zu können. Der Stoff hätte dem Dichter die beste Gelegenheit geboten, das Publicum wieder durch eine Menge jener Leichenhausphantasien heimzusuchen, mit denen er in seinen frühern Werken so freigebig ist. Da sich Agnes im dunkeln Vor¬ gefühl ihres nahen Unglücks selbst eine Gruft bauen läßt, so hätten hier alle möglichen Vampyre und Nachtunholde einen Platz gefunden, um unsre Phan¬ tasie in Ermanglung eines tragischen Eindrucks mit' Grauen zu erfüllen. Der Dichter hat dies Mal das Mittel verschmäht, und seine Tragödie bewegt sich ganz auf der Erde, nicht unter den Larven. Dieser Fortschritt ist umsomehr anzuerkennen, da grade in jenen Phantasien Hebbels Virtuosität besteht, so daß er dies Mal vielweniger sogenannte effectreiche Stellen vorbringt. Ferner hätte ihm der Stoff die reichste Gelegenheit geboten, psychologisches Raffinement zu treiben, die Nerven krankhaft anzureizen und durch den Contrast widerstrebender sittlicher Empfindungen die Seele auf die Folter zu spannen. Hebbel hat auch diese Gelegenheit nicht benutzt, und man muß es ihm umsomehr Dank wissen, je eigensinniger er bisher an seinen falschen ästhetischen Prin¬ cipien festgehalten hat. Sehen wir von der künstlerischen Fassung ab, so können wir behaupten, daß bis auf die Ktzte Entwicklung das Ereigniß unter gesunden Naturen grade so hätte vorgehen können, wie es uns Hebbel vorträgt. Daß Herzog Albrecht der unmittelbaren Leidenschaft schneller Gehör gibt, als es der Fürstensohn soll, und daß Herzog Ernst die Staatsklugheit und das abstracte Recht zu sehr über die Stimme des Gewissens vorwiegen läßt, darin liegt eben der tragi¬ sche Conflict, und der Dichter ist durchaus nicht über das Maß hinausgegangen. Die Handlung umfaßt einen Zeitraum von mehren Jahren, und es kommt also darauf an, daß der Dichter die Kontinuität der Handlung wenigstens zum Schein herstellt, so daß der Zuschauer ohne Unterbrechung folgen kann, denn darauf ausschließlich reducirt die Forderung der dramatischen Zeiteinheit, mit der man gewöhnlich die unklarsten Vorstellungen verbindet. Hebbel hat diese Aufgabe glücklich gelöst; man denkt nicht daran, den Chronometer aus der Tasche zu ziehen, die einzelnen Scenen fügen sich bequem ineinander und man fühlt sich in einer idealen poetischen Zeit. Auch das historische Costüm ist wenigstens im ganzen nicht mehr hervorgehoben, als es zum Verständniß der Handlung wünschenswert!) ist. Die Komposition ist auch insofern zu loben, Grenzbott». I. 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/137>, abgerufen am 23.07.2024.