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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Charaktere selbst zum Schluß ein neues Moment hineinzutragen, das zu ihrer
frühern Haltung nicht stimmt. Albrecht wird zwar vorzugsweise durch die
Ueberredung seines Vaters umgestimmt, aber der Dichter hat selbst gefühlt,,
daß in dieser Ueberredung nicht soviel natürliche Warme liegt, um in der
Seele ein Wunder hervorzurufen; er hat daher zunächst noch die Drohung
der Reichsacht und des Kirchenbannes hinzugefügt, um auf Albrecht einzuwirken.
Das ist ein sinnliches Mittel, welches zwar auf einen Theil des Publicums
seine Wirkung nicht verfehlen wird, das aber vom Verständigen nicht gebilligt
werden kann; denn wenn man erst von der Verzweiflung und vom Zorn soweit
getrieben ist, die Hand gegen seinen Vater zu erheben, so darf man nach Acht
und Bann nicht viel mehr fragen. Ferner läßt Hebbel den Vater sich vor
seinem Sohne gewissermaßen demüthigen. Herzog Ernst legt seinen Fürstcnstab
in die Hand seines Sohnes nieder, geht in ein Kloster und erklärt, sich dem
Urtheilsspruch seines Sohnes unterwerfen zu wollen, nach Ablauf eines Jahres.
Dieser Zug war durch die frühere Charakterschilderung durchaus nicht motivirt,
denn Herzog Ernst hatte im vollen Gefühl seines Fürstenrechts gehandelt, er
hatte die darauf eintretenden Ereignisse im wesentlichen vorausgesehen, und es
war kein neuer Umstand eingetreten, der sein Gefühl irren dürfte. Durch diesen
falschen Zug wird das ganze Bild des kräftigen Mannes verwischt; er wird
auch dadurch keineswegs wieder gut gemacht, daß man ihn allenfalls ironisch
auslegen, daß man allenfalls die Meinung in ihm finden kann, Albrecht werde
im Laufe eines Jahres als regierender Herzog sich von der Zweckmäßigkeit in
der Handlungsweise seines Vaters vollständig überzeugt haben; denn im Drama
kommt es nicht blos darauf an, wer in der Sache Recht behält, sondern auch,
wer in der Form. Solange Ernst seinem Sohne mit dem vollen ernsten
Glauben einer sittlichen, wenn auch einseitigen Idee gegenübertritt, ist er eine
tragische Figur; sobald er aber mit Bewußtsein pädagogisch zu wirken sucht,
wird "der Ernst des sittlichen Conflicts aufgehoben, und wir verlieren uns in
das Reich der Intrigue, die in der Tragödie unstatthaft ist. Unser Gefühl
wird zum Schluß nicht versöhnt, sondern verwirrt. Wir werden gewissermaßen
genöthigt, die ganze Handlung noch einmal in Erwägung zu ziehen, und dazu
haben wir keine Zeit.

Dieses sind die beiden Hauptfehler des Stücks. Als ein dritter ist ein
allgemeiner Mangel zu bezeichnen, über welchen Hebbel noch immer in einer
starken Selbsttäuschung befangen ist. Um diesen Mangel zu versinnlichen,
weisen wir auf eine Scene S. 68 hin. Albrecht führt seine junge Gemahlin
in eines seiner Schlösser ein.

Albrecht. Nun, ihr Wände? Wenn ihr Zungen habt, so braucht sie, damit ich endlich
erfahre, warum wir grade hierher zuerst kommen sollte"! Ich glaubte, dieser sei eine Ueber-
raschung zugedacht, aber ich sehe ja nichts!


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Charaktere selbst zum Schluß ein neues Moment hineinzutragen, das zu ihrer
frühern Haltung nicht stimmt. Albrecht wird zwar vorzugsweise durch die
Ueberredung seines Vaters umgestimmt, aber der Dichter hat selbst gefühlt,,
daß in dieser Ueberredung nicht soviel natürliche Warme liegt, um in der
Seele ein Wunder hervorzurufen; er hat daher zunächst noch die Drohung
der Reichsacht und des Kirchenbannes hinzugefügt, um auf Albrecht einzuwirken.
Das ist ein sinnliches Mittel, welches zwar auf einen Theil des Publicums
seine Wirkung nicht verfehlen wird, das aber vom Verständigen nicht gebilligt
werden kann; denn wenn man erst von der Verzweiflung und vom Zorn soweit
getrieben ist, die Hand gegen seinen Vater zu erheben, so darf man nach Acht
und Bann nicht viel mehr fragen. Ferner läßt Hebbel den Vater sich vor
seinem Sohne gewissermaßen demüthigen. Herzog Ernst legt seinen Fürstcnstab
in die Hand seines Sohnes nieder, geht in ein Kloster und erklärt, sich dem
Urtheilsspruch seines Sohnes unterwerfen zu wollen, nach Ablauf eines Jahres.
Dieser Zug war durch die frühere Charakterschilderung durchaus nicht motivirt,
denn Herzog Ernst hatte im vollen Gefühl seines Fürstenrechts gehandelt, er
hatte die darauf eintretenden Ereignisse im wesentlichen vorausgesehen, und es
war kein neuer Umstand eingetreten, der sein Gefühl irren dürfte. Durch diesen
falschen Zug wird das ganze Bild des kräftigen Mannes verwischt; er wird
auch dadurch keineswegs wieder gut gemacht, daß man ihn allenfalls ironisch
auslegen, daß man allenfalls die Meinung in ihm finden kann, Albrecht werde
im Laufe eines Jahres als regierender Herzog sich von der Zweckmäßigkeit in
der Handlungsweise seines Vaters vollständig überzeugt haben; denn im Drama
kommt es nicht blos darauf an, wer in der Sache Recht behält, sondern auch,
wer in der Form. Solange Ernst seinem Sohne mit dem vollen ernsten
Glauben einer sittlichen, wenn auch einseitigen Idee gegenübertritt, ist er eine
tragische Figur; sobald er aber mit Bewußtsein pädagogisch zu wirken sucht,
wird «der Ernst des sittlichen Conflicts aufgehoben, und wir verlieren uns in
das Reich der Intrigue, die in der Tragödie unstatthaft ist. Unser Gefühl
wird zum Schluß nicht versöhnt, sondern verwirrt. Wir werden gewissermaßen
genöthigt, die ganze Handlung noch einmal in Erwägung zu ziehen, und dazu
haben wir keine Zeit.

Dieses sind die beiden Hauptfehler des Stücks. Als ein dritter ist ein
allgemeiner Mangel zu bezeichnen, über welchen Hebbel noch immer in einer
starken Selbsttäuschung befangen ist. Um diesen Mangel zu versinnlichen,
weisen wir auf eine Scene S. 68 hin. Albrecht führt seine junge Gemahlin
in eines seiner Schlösser ein.

Albrecht. Nun, ihr Wände? Wenn ihr Zungen habt, so braucht sie, damit ich endlich
erfahre, warum wir grade hierher zuerst kommen sollte»! Ich glaubte, dieser sei eine Ueber-
raschung zugedacht, aber ich sehe ja nichts!


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[0139] Charaktere selbst zum Schluß ein neues Moment hineinzutragen, das zu ihrer frühern Haltung nicht stimmt. Albrecht wird zwar vorzugsweise durch die Ueberredung seines Vaters umgestimmt, aber der Dichter hat selbst gefühlt,, daß in dieser Ueberredung nicht soviel natürliche Warme liegt, um in der Seele ein Wunder hervorzurufen; er hat daher zunächst noch die Drohung der Reichsacht und des Kirchenbannes hinzugefügt, um auf Albrecht einzuwirken. Das ist ein sinnliches Mittel, welches zwar auf einen Theil des Publicums seine Wirkung nicht verfehlen wird, das aber vom Verständigen nicht gebilligt werden kann; denn wenn man erst von der Verzweiflung und vom Zorn soweit getrieben ist, die Hand gegen seinen Vater zu erheben, so darf man nach Acht und Bann nicht viel mehr fragen. Ferner läßt Hebbel den Vater sich vor seinem Sohne gewissermaßen demüthigen. Herzog Ernst legt seinen Fürstcnstab in die Hand seines Sohnes nieder, geht in ein Kloster und erklärt, sich dem Urtheilsspruch seines Sohnes unterwerfen zu wollen, nach Ablauf eines Jahres. Dieser Zug war durch die frühere Charakterschilderung durchaus nicht motivirt, denn Herzog Ernst hatte im vollen Gefühl seines Fürstenrechts gehandelt, er hatte die darauf eintretenden Ereignisse im wesentlichen vorausgesehen, und es war kein neuer Umstand eingetreten, der sein Gefühl irren dürfte. Durch diesen falschen Zug wird das ganze Bild des kräftigen Mannes verwischt; er wird auch dadurch keineswegs wieder gut gemacht, daß man ihn allenfalls ironisch auslegen, daß man allenfalls die Meinung in ihm finden kann, Albrecht werde im Laufe eines Jahres als regierender Herzog sich von der Zweckmäßigkeit in der Handlungsweise seines Vaters vollständig überzeugt haben; denn im Drama kommt es nicht blos darauf an, wer in der Sache Recht behält, sondern auch, wer in der Form. Solange Ernst seinem Sohne mit dem vollen ernsten Glauben einer sittlichen, wenn auch einseitigen Idee gegenübertritt, ist er eine tragische Figur; sobald er aber mit Bewußtsein pädagogisch zu wirken sucht, wird «der Ernst des sittlichen Conflicts aufgehoben, und wir verlieren uns in das Reich der Intrigue, die in der Tragödie unstatthaft ist. Unser Gefühl wird zum Schluß nicht versöhnt, sondern verwirrt. Wir werden gewissermaßen genöthigt, die ganze Handlung noch einmal in Erwägung zu ziehen, und dazu haben wir keine Zeit. Dieses sind die beiden Hauptfehler des Stücks. Als ein dritter ist ein allgemeiner Mangel zu bezeichnen, über welchen Hebbel noch immer in einer starken Selbsttäuschung befangen ist. Um diesen Mangel zu versinnlichen, weisen wir auf eine Scene S. 68 hin. Albrecht führt seine junge Gemahlin in eines seiner Schlösser ein. Albrecht. Nun, ihr Wände? Wenn ihr Zungen habt, so braucht sie, damit ich endlich erfahre, warum wir grade hierher zuerst kommen sollte»! Ich glaubte, dieser sei eine Ueber- raschung zugedacht, aber ich sehe ja nichts! 17*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/139>, abgerufen am 25.08.2024.