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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band.

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Oestreich unabhängige und isolirte Politik zu verfolgen; daß sie aus politischem
Interesse die Erhaltung der Türkei, aus religiösem Interesse die Zerstörung der
Türkei, aus politischem Interesse die Schwächung Rußlands, aus conservativen
Interesse die Kräftigung Rußlands, aus conservativen Interesse das Gedeihen
des Kaisers Napoleon, aus legitimistischen das Gegentheil wünscht u. s. w.,
denn wollte man all die verschiedenen Wünsche aufzählen, so würde man nicht
fertig werden.

An und für sich sind das alles ja recht gewichtige Gesichtspunkte, und die
Regierung war nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, sie' sämmtlich in
Rechnung zu ziehen; aber jede Rechnung muß schließlich zu einem Facit führen,
und die preußische Politik hat nur den einen Fehler, daß sie nicht im Stande
war, dies Facit zu ziehen, daß sie sich wenigstens bis jetzt noch nicht entschlossen
hat, welchen von den verschiedenen Gesichtspunkten, die einander ausschließen,
sie dem andern op ern soll. Denn geopfert muß etwas werden: man kann
nicht zugleich den Frieden erhalten und Eroberungen machen, nicht zugleich für
Rußland und für die Westmächte sein, wenn beide einander bekriegen u. s. w.
Aber die Politik eines Staats kann nur dann gesund genannt werden, wenn
sie das Vertrauen einflößt, daß die Entscheidung über alle jene Fragen nicht
der augenblicklichen Stimmung, sondern dem entschlossenen Verstände übertragen
wird. Die preußische Politik hat dies Vertrauen bisher nicht eingeflößt: nicht
' dem Publicum, das würde noch zu ertragen sein, aber auch nicht den Staats¬
männern, mit denen sie es zu thun hat, und das ist schon, abgesehen von
allen weitexn Folgen, ein ganz unmittelbarer großer Verlust, der sich auch dann
geltendmachen wird, wenn wider alles Erwarten die preußische Politik plötzlich
ebenso energisch und rücksichtslos zu Werke gehen sollte, als sie bis jetzt
schüchtern und zurückhaltend gehandelt hat. Denn jener Mangel an Ver¬
trauen erschwert ihre Verhandlungen mit dem Ausland und stellt ihr weit un¬
günstigere Aussichten vor Augen, als es unter andern Umständen der Fall
wäre. Es kommt alles auf den Moment an. Wenn Herr v. Usedom vor einem
halben Jahre nach London geschickt wäre, um ohne Vermittlung Oestreichs
direct mit England zu unterhandeln und zu vernehmen, was für Vortheile sich
denn eigentlich Preußen versprechen könne, wenn es sich in ein so gefährliches
Unternehmen einließe, so wäre diese Sendung gewiß von Erfolg gewesen; jetzt
aber, nach der Absetzung von Bunsen und Bonin und den unmittelbar damit
zusammenhängenden Umständen, Und nach dem Abschluß des Decembervertrags,
wird Herr v. Usedom wol keine günstigere Aufnahme in London finden, als
etwa Graf Gröden, Graf Dohna, Herr v. Gerlach oder sonst ein anderer dieser
Farbe. Herr v. Usedom hat sich allerdings durch seine politischen Briefe und
Charakteristiken als ein geistvoller Mann gezeigt, er ist, wie wir hören, ein
ebenso großer Kenner des Generalbasses, als es Herr v. Radowitz war, und


Oestreich unabhängige und isolirte Politik zu verfolgen; daß sie aus politischem
Interesse die Erhaltung der Türkei, aus religiösem Interesse die Zerstörung der
Türkei, aus politischem Interesse die Schwächung Rußlands, aus conservativen
Interesse die Kräftigung Rußlands, aus conservativen Interesse das Gedeihen
des Kaisers Napoleon, aus legitimistischen das Gegentheil wünscht u. s. w.,
denn wollte man all die verschiedenen Wünsche aufzählen, so würde man nicht
fertig werden.

An und für sich sind das alles ja recht gewichtige Gesichtspunkte, und die
Regierung war nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, sie' sämmtlich in
Rechnung zu ziehen; aber jede Rechnung muß schließlich zu einem Facit führen,
und die preußische Politik hat nur den einen Fehler, daß sie nicht im Stande
war, dies Facit zu ziehen, daß sie sich wenigstens bis jetzt noch nicht entschlossen
hat, welchen von den verschiedenen Gesichtspunkten, die einander ausschließen,
sie dem andern op ern soll. Denn geopfert muß etwas werden: man kann
nicht zugleich den Frieden erhalten und Eroberungen machen, nicht zugleich für
Rußland und für die Westmächte sein, wenn beide einander bekriegen u. s. w.
Aber die Politik eines Staats kann nur dann gesund genannt werden, wenn
sie das Vertrauen einflößt, daß die Entscheidung über alle jene Fragen nicht
der augenblicklichen Stimmung, sondern dem entschlossenen Verstände übertragen
wird. Die preußische Politik hat dies Vertrauen bisher nicht eingeflößt: nicht
' dem Publicum, das würde noch zu ertragen sein, aber auch nicht den Staats¬
männern, mit denen sie es zu thun hat, und das ist schon, abgesehen von
allen weitexn Folgen, ein ganz unmittelbarer großer Verlust, der sich auch dann
geltendmachen wird, wenn wider alles Erwarten die preußische Politik plötzlich
ebenso energisch und rücksichtslos zu Werke gehen sollte, als sie bis jetzt
schüchtern und zurückhaltend gehandelt hat. Denn jener Mangel an Ver¬
trauen erschwert ihre Verhandlungen mit dem Ausland und stellt ihr weit un¬
günstigere Aussichten vor Augen, als es unter andern Umständen der Fall
wäre. Es kommt alles auf den Moment an. Wenn Herr v. Usedom vor einem
halben Jahre nach London geschickt wäre, um ohne Vermittlung Oestreichs
direct mit England zu unterhandeln und zu vernehmen, was für Vortheile sich
denn eigentlich Preußen versprechen könne, wenn es sich in ein so gefährliches
Unternehmen einließe, so wäre diese Sendung gewiß von Erfolg gewesen; jetzt
aber, nach der Absetzung von Bunsen und Bonin und den unmittelbar damit
zusammenhängenden Umständen, Und nach dem Abschluß des Decembervertrags,
wird Herr v. Usedom wol keine günstigere Aufnahme in London finden, als
etwa Graf Gröden, Graf Dohna, Herr v. Gerlach oder sonst ein anderer dieser
Farbe. Herr v. Usedom hat sich allerdings durch seine politischen Briefe und
Charakteristiken als ein geistvoller Mann gezeigt, er ist, wie wir hören, ein
ebenso großer Kenner des Generalbasses, als es Herr v. Radowitz war, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_98851/13>, abgerufen am 23.07.2024.