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Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.

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der Domchor hält die Mitte, indem die Zahl seiner Sänger 60--80 beträgt.
Es ist wol möglich, daß die beiden katholischen Chöre unsern protestantischen
in mancher Beziehung übertreffen; die in' Rom und Petersburg angestellten
Sänger leben ausschließlich ihrem Berufe und hätten somit wol Gelegenheit,
ihrer Sache vollständig Herr zu werden, während die Sänger des Domchors
nur nebenbei dieser Thätigkeit obliegen; auch glauben wir, daß bei uns im Nor¬
den der Glanz und die Pracht des römischen Gesangs nicht erreicht wird,
während andrerseits die Petersburger Sänger wieder durch den vollen, sonoren
Klang der tiefen Bässe das in Berlin Geleistete übertreffen. Wenn wir aber
nach der musikalischen Bedeutung fragen, so ändert sich das Verhältniß. Die
geistige Freiheit, die dem Protestantismus inwohnt, dies ist die innere Kraft,
die den Domchor weit über jene Chöre erhebt. Die Thätigkeit der letzteren
ist vielfach, wo nicht überwiegend gebunden an leere Psalmodien, an trockne
Recitationen, in denen weder die Musik noch das Gemüth lebendig wird. Die
Zahl der wirklichen Musikstücke, die man in Rom singt, ist im besten Fall be¬
grenzt durch das, was ausdrücklich für den römischen Cultus geschrieben und
traditionell dort üblich ist. Noch ungünstiger steht die Sache in Petersburg,
weil die productive Kunstthätigkeit dort nicht groß gewesen ist. Dem Domchor
dagegen steht die Kirchenmusik aller Zeiten, Völker und Religionen offen, und
der Inhalt seines Wirkens ist somit bedeutender und umfassender, als bei den
katholischen Chören; er gewinnt eine ganz andere Stellung für die Musikge¬
schichte sowol, als für das religiöse Bewußtsein; denn er ist der Vereinigungs¬
punkt für die Thätigkeit von Jahrhunderten aus diesem Gebiete. Hiermit
hängt mure, wie schon oben bemerkt wurde, auch ein Mangel zusammen, der
aber, wie uns scheint, mit der Zeit ebenfalls beseitigt werden kann. Es ist
nicht ganz leicht, die verschiedenen Kunststile streng voneinander zu trennen;
so verlangen z. B. die altitalienischen Compositionen viel weniger Rücksicht
aus den Sinn der einzelnen Worte, als etwa die Motetten und Cantaten von
Sebastian Bach. Auch zwischen den katholischen Werken des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts herrscht einige Verschiedenheit; die letzteren verlangen
schon feinere Nüancirung, während bei jenen die Fülle des Gesammtklangs, die
Erhabenheit, die alle kleinen Unterschiede verschmäht, das Wesentliche ist. Es
kommt uns hier nur auf eine Andeutung dessen an, was wir meinen; denn eine
Ausführung würde viel zu weit führen. Auch ist es nicht zu verlangen, daß
der Domchor mit einem Mal diese große Aufgabe löse, umsomehr, als das,
was er unter der Leitung seines Dirigenten Neithardt bis jetzt geleistet, so be¬
deutend ist, daß vor der Anerkennung kritische Bedenken nicht recht zu Wort
kommen konnten. Auch hat er, selbst äußerlich betrachtet, die Grenzen des ihm
zustehenden Gebiets noch nicht ganz erreicht, indem z. B. die Werke von
Sebastian Bach erst seit dem vorigen Winter entschiedener Aufnahme bei ihm


der Domchor hält die Mitte, indem die Zahl seiner Sänger 60—80 beträgt.
Es ist wol möglich, daß die beiden katholischen Chöre unsern protestantischen
in mancher Beziehung übertreffen; die in' Rom und Petersburg angestellten
Sänger leben ausschließlich ihrem Berufe und hätten somit wol Gelegenheit,
ihrer Sache vollständig Herr zu werden, während die Sänger des Domchors
nur nebenbei dieser Thätigkeit obliegen; auch glauben wir, daß bei uns im Nor¬
den der Glanz und die Pracht des römischen Gesangs nicht erreicht wird,
während andrerseits die Petersburger Sänger wieder durch den vollen, sonoren
Klang der tiefen Bässe das in Berlin Geleistete übertreffen. Wenn wir aber
nach der musikalischen Bedeutung fragen, so ändert sich das Verhältniß. Die
geistige Freiheit, die dem Protestantismus inwohnt, dies ist die innere Kraft,
die den Domchor weit über jene Chöre erhebt. Die Thätigkeit der letzteren
ist vielfach, wo nicht überwiegend gebunden an leere Psalmodien, an trockne
Recitationen, in denen weder die Musik noch das Gemüth lebendig wird. Die
Zahl der wirklichen Musikstücke, die man in Rom singt, ist im besten Fall be¬
grenzt durch das, was ausdrücklich für den römischen Cultus geschrieben und
traditionell dort üblich ist. Noch ungünstiger steht die Sache in Petersburg,
weil die productive Kunstthätigkeit dort nicht groß gewesen ist. Dem Domchor
dagegen steht die Kirchenmusik aller Zeiten, Völker und Religionen offen, und
der Inhalt seines Wirkens ist somit bedeutender und umfassender, als bei den
katholischen Chören; er gewinnt eine ganz andere Stellung für die Musikge¬
schichte sowol, als für das religiöse Bewußtsein; denn er ist der Vereinigungs¬
punkt für die Thätigkeit von Jahrhunderten aus diesem Gebiete. Hiermit
hängt mure, wie schon oben bemerkt wurde, auch ein Mangel zusammen, der
aber, wie uns scheint, mit der Zeit ebenfalls beseitigt werden kann. Es ist
nicht ganz leicht, die verschiedenen Kunststile streng voneinander zu trennen;
so verlangen z. B. die altitalienischen Compositionen viel weniger Rücksicht
aus den Sinn der einzelnen Worte, als etwa die Motetten und Cantaten von
Sebastian Bach. Auch zwischen den katholischen Werken des sechzehnten und
siebzehnten Jahrhunderts herrscht einige Verschiedenheit; die letzteren verlangen
schon feinere Nüancirung, während bei jenen die Fülle des Gesammtklangs, die
Erhabenheit, die alle kleinen Unterschiede verschmäht, das Wesentliche ist. Es
kommt uns hier nur auf eine Andeutung dessen an, was wir meinen; denn eine
Ausführung würde viel zu weit führen. Auch ist es nicht zu verlangen, daß
der Domchor mit einem Mal diese große Aufgabe löse, umsomehr, als das,
was er unter der Leitung seines Dirigenten Neithardt bis jetzt geleistet, so be¬
deutend ist, daß vor der Anerkennung kritische Bedenken nicht recht zu Wort
kommen konnten. Auch hat er, selbst äußerlich betrachtet, die Grenzen des ihm
zustehenden Gebiets noch nicht ganz erreicht, indem z. B. die Werke von
Sebastian Bach erst seit dem vorigen Winter entschiedener Aufnahme bei ihm


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341580_100453/95>, abgerufen am 25.08.2024.