Die Grenzboten. Jg. 14, 1855, II. Semester. IV. Band.mitspricht, daß Stottern oder Auslassen einer Bitte sogleich von jedem gemerkt Eine Orgel befand sich nicht in der Kirche, sie hätte mich nicht gespielt mitspricht, daß Stottern oder Auslassen einer Bitte sogleich von jedem gemerkt Eine Orgel befand sich nicht in der Kirche, sie hätte mich nicht gespielt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0332" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/100786"/> <p xml:id="ID_951" prev="#ID_950"> mitspricht, daß Stottern oder Auslassen einer Bitte sogleich von jedem gemerkt<lb/> und beurtheilt wird, mag solche Befangenheit, von welcher die Anwesenden<lb/> oft keine Ahnung haben, erklären. Der Superintendent wußte, wieweit jeder<lb/> Pfarrer die Fertigkeit besaß, frei zu reden. Er achtete die Eigenthümlichkeiten<lb/> und besondere Richtung im Inhalt der Rede. Wenn zu andrer Zeit und in<lb/> andern Kreisen mancher Geistliche in Bequemlichkeit und in eigner Gedanken¬<lb/> armuth aus dem bekannten schmalzschen Predigermagazin, aus Schleier¬<lb/> macher, Draeseke, Marheineke, Noehr, aus ältern und neuern Kanzelrcd-<lb/> nern seine Predigt hielt, ohne aus eigner Erkenntniß und Lebenserfahrung<lb/> selbstständig zu meditiren und zu concipiren, dem Superintendenten gegen¬<lb/> über wurde nie ein solcher Piratenstreich ausgeübt. Er empfahl selbst<lb/> classische Muster, liebte die reinhardschen Predigten, drang aber besonders dar¬<lb/> auf, den Bauern gegenüber sich einer edlen Popularität zu befleißigen, nicht<lb/> zu scharf zu predigen, aber mit Wärme und Gefühl den Herzen der Gemeinde<lb/> näher zu treten. Einige Kernsprüche, um welche sich die Theile der Predigt<lb/> gruppirten, einige bekannte Verse aus guten Kirchenliedern bildeten nach seiner<lb/> Ansicht nothwendige Ingredienzien einer Dorfpredigt. Angenehm war ihm zu¬<lb/> gleich die immermehr verschwindende Sitte, die genannten Bibclverse seitens<lb/> der Zuhörer aufschlagen zu sehen; dies wurde früher besonders in den Schulen<lb/> geübt und die Jugend erlangte eine große Fertigkeit im Nachschlagen, welche<lb/> in der Kirche während des Gottesdienstes sich 'fortsetzte und der Grund war,<lb/> daß jeder mit einer Bibel zur Kirche zu kommen pflegte.</p><lb/> <p xml:id="ID_952" next="#ID_953"> Eine Orgel befand sich nicht in der Kirche, sie hätte mich nicht gespielt<lb/> werden können, rohe Hände verderben bald ein solches Instrument. Der Ge¬<lb/> sang wurde vom Küster geleitet, aber der alte Tadel Karls des Großen, daß<lb/> die Stimmen der Franken dem Gerassel eines schwer dahinrollenden Wagens<lb/> glichen, galt auch von den Kehlen der Gemeinde. Verunreinigte und verdor¬<lb/> bene Melodien gehörten zu den Erbübeln des Gottesdienstes, einige alte gottes-<lb/> fürchtige Männer hatten sich seit ihrer Jugend daran gewöhnt, jämmerlich zu<lb/> schreien, das religiöse Gefühl schien einen solchen kräftigen, dem jüngern Ge¬<lb/> schlechte imponirenden Ausdruck zu verlangen und eine alte Toleranz ließ diese<lb/> Stimmenfreiheit zu. Auch der Küster hatte das Vorrecht alter Cantoren geerbt,<lb/> den Schluß der Strophen und Verse mit einigen kräftigen, aber bedenklichen<lb/> Tönen zu verzieren, jede Melodie schien durch diese Nachtöne und Auslande<lb/> ihre Endwirkung zu finden, der Küster mußte den letzten Ton behalten; wenn<lb/> er erstorben war, dann erst begann die. Liturgie oder die Predigt. Der Re¬<lb/> visor kannte den Unterschied zwischen einem Dorf- und berliner Domchore, er<lb/> ließ das Privilegium des Küsters unangetastet, drang aber darauf, daß in<lb/> der Dorfschule die bekanntesten Gesänge eingeübt und durch den Gesang der<lb/> Jugend der Kirchengesang allmälig verbessert würde. Beim Abendmahl empfahl</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0332]
mitspricht, daß Stottern oder Auslassen einer Bitte sogleich von jedem gemerkt
und beurtheilt wird, mag solche Befangenheit, von welcher die Anwesenden
oft keine Ahnung haben, erklären. Der Superintendent wußte, wieweit jeder
Pfarrer die Fertigkeit besaß, frei zu reden. Er achtete die Eigenthümlichkeiten
und besondere Richtung im Inhalt der Rede. Wenn zu andrer Zeit und in
andern Kreisen mancher Geistliche in Bequemlichkeit und in eigner Gedanken¬
armuth aus dem bekannten schmalzschen Predigermagazin, aus Schleier¬
macher, Draeseke, Marheineke, Noehr, aus ältern und neuern Kanzelrcd-
nern seine Predigt hielt, ohne aus eigner Erkenntniß und Lebenserfahrung
selbstständig zu meditiren und zu concipiren, dem Superintendenten gegen¬
über wurde nie ein solcher Piratenstreich ausgeübt. Er empfahl selbst
classische Muster, liebte die reinhardschen Predigten, drang aber besonders dar¬
auf, den Bauern gegenüber sich einer edlen Popularität zu befleißigen, nicht
zu scharf zu predigen, aber mit Wärme und Gefühl den Herzen der Gemeinde
näher zu treten. Einige Kernsprüche, um welche sich die Theile der Predigt
gruppirten, einige bekannte Verse aus guten Kirchenliedern bildeten nach seiner
Ansicht nothwendige Ingredienzien einer Dorfpredigt. Angenehm war ihm zu¬
gleich die immermehr verschwindende Sitte, die genannten Bibclverse seitens
der Zuhörer aufschlagen zu sehen; dies wurde früher besonders in den Schulen
geübt und die Jugend erlangte eine große Fertigkeit im Nachschlagen, welche
in der Kirche während des Gottesdienstes sich 'fortsetzte und der Grund war,
daß jeder mit einer Bibel zur Kirche zu kommen pflegte.
Eine Orgel befand sich nicht in der Kirche, sie hätte mich nicht gespielt
werden können, rohe Hände verderben bald ein solches Instrument. Der Ge¬
sang wurde vom Küster geleitet, aber der alte Tadel Karls des Großen, daß
die Stimmen der Franken dem Gerassel eines schwer dahinrollenden Wagens
glichen, galt auch von den Kehlen der Gemeinde. Verunreinigte und verdor¬
bene Melodien gehörten zu den Erbübeln des Gottesdienstes, einige alte gottes-
fürchtige Männer hatten sich seit ihrer Jugend daran gewöhnt, jämmerlich zu
schreien, das religiöse Gefühl schien einen solchen kräftigen, dem jüngern Ge¬
schlechte imponirenden Ausdruck zu verlangen und eine alte Toleranz ließ diese
Stimmenfreiheit zu. Auch der Küster hatte das Vorrecht alter Cantoren geerbt,
den Schluß der Strophen und Verse mit einigen kräftigen, aber bedenklichen
Tönen zu verzieren, jede Melodie schien durch diese Nachtöne und Auslande
ihre Endwirkung zu finden, der Küster mußte den letzten Ton behalten; wenn
er erstorben war, dann erst begann die. Liturgie oder die Predigt. Der Re¬
visor kannte den Unterschied zwischen einem Dorf- und berliner Domchore, er
ließ das Privilegium des Küsters unangetastet, drang aber darauf, daß in
der Dorfschule die bekanntesten Gesänge eingeübt und durch den Gesang der
Jugend der Kirchengesang allmälig verbessert würde. Beim Abendmahl empfahl
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