Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang;
Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.

Nichts kann unbefriedigender sein, als der Abschluß, den Goethe seinem
Drama gegeben, durch den er den Versprechungen des Prologes im Himmel
gerecht zu werden strebt. Er hat ein ganz äußerliches Bretergerüst ausgeschlagen
und es mit halb katholischen, halb spiritualistischen Figuren bemalt, ohne alle
Physiognomie, ohne Gestalt und ohne Bewegung. Der Kampf der Engel und
Teufel um die Seele des Mephistopheles ist bis zum Abgeschmackten lächerlich;
ihre Gesänge, die an die Chöre des Osterfestes im ersten Theile erinnern sollen,
sind eitel Klingklang, und die Uebeychwenglichkeit in der Schilderung des
Himmels gibt, abgesehen von dem Costüm, nur die rationalistische Idee der
Perfectibilität, stellt also neue himmlische Lehr- und Wanderjahre in Aussicht,
die keinen befriedigenderen Ausgang versprechen, als die irdischen. Nur ein
schöner Faden zieht sich durch diese Nebelbilder, wie durch Goethes Leben, das
Ideal des ewig Weiblichen, das selbst in Gretchen und in dem Scheinbild der
Helena nur einen getrübten Ausdruck gefunden, das jetzt in der Himmelskönigin
sich völlig zu verkörpern strebt.




Bilder aus Kbnstantinopel.
Ein Pfingsttag.

, Im römisch-gregorianischen Kalender stand für gestern der erste Pfingst-
feiertag eingetragen. Es ist noch nicht gar lange her, daß dieser Umstand im
hiesigen äußerlichen Leben ziemlich unbemerkt vorübergegangen sein würde;
heute indeß machen die christlichen Feste, auch wenn sie nur von einer der
hier vertretenen Hauptconfesstonen kirchlich begangen werden, sich innerhalb
eines weitgedehnten Kreises geltend, der über Pera hinausgreift und sich tief
hinein nach Stambul erstreckt. Heute auch läuten die Glocken bei dergleichen
Gelegenheiten laut und vernehmlich, und lassen ihren Klang weithin über die
Straßen ertönen, dieselben Glocken, denen vor fünfzehn Jahren, zur Zeit des
gefürchteten Sultans Mahmud It., nur ein bescheidenes Bimmeln'und Klin¬
geln gestattet war -- oder vielmehr nicht dieselben, denn kaum mag es
eine von der Glocke berufene Gemeinde geben, die nicht seitdem das Format


Grenzboten. II.- 18si. 63
Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.
Er wandle so den Erdentag entlang;
Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang;
Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.

Nichts kann unbefriedigender sein, als der Abschluß, den Goethe seinem
Drama gegeben, durch den er den Versprechungen des Prologes im Himmel
gerecht zu werden strebt. Er hat ein ganz äußerliches Bretergerüst ausgeschlagen
und es mit halb katholischen, halb spiritualistischen Figuren bemalt, ohne alle
Physiognomie, ohne Gestalt und ohne Bewegung. Der Kampf der Engel und
Teufel um die Seele des Mephistopheles ist bis zum Abgeschmackten lächerlich;
ihre Gesänge, die an die Chöre des Osterfestes im ersten Theile erinnern sollen,
sind eitel Klingklang, und die Uebeychwenglichkeit in der Schilderung des
Himmels gibt, abgesehen von dem Costüm, nur die rationalistische Idee der
Perfectibilität, stellt also neue himmlische Lehr- und Wanderjahre in Aussicht,
die keinen befriedigenderen Ausgang versprechen, als die irdischen. Nur ein
schöner Faden zieht sich durch diese Nebelbilder, wie durch Goethes Leben, das
Ideal des ewig Weiblichen, das selbst in Gretchen und in dem Scheinbild der
Helena nur einen getrübten Ausdruck gefunden, das jetzt in der Himmelskönigin
sich völlig zu verkörpern strebt.




Bilder aus Kbnstantinopel.
Ein Pfingsttag.

, Im römisch-gregorianischen Kalender stand für gestern der erste Pfingst-
feiertag eingetragen. Es ist noch nicht gar lange her, daß dieser Umstand im
hiesigen äußerlichen Leben ziemlich unbemerkt vorübergegangen sein würde;
heute indeß machen die christlichen Feste, auch wenn sie nur von einer der
hier vertretenen Hauptconfesstonen kirchlich begangen werden, sich innerhalb
eines weitgedehnten Kreises geltend, der über Pera hinausgreift und sich tief
hinein nach Stambul erstreckt. Heute auch läuten die Glocken bei dergleichen
Gelegenheiten laut und vernehmlich, und lassen ihren Klang weithin über die
Straßen ertönen, dieselben Glocken, denen vor fünfzehn Jahren, zur Zeit des
gefürchteten Sultans Mahmud It., nur ein bescheidenes Bimmeln'und Klin¬
geln gestattet war — oder vielmehr nicht dieselben, denn kaum mag es
eine von der Glocke berufene Gemeinde geben, die nicht seitdem das Format


Grenzboten. II.- 18si. 63
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0505" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98285"/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_30" type="poem">
              <l> Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen!<lb/>
Was er erkennt, läßt sich ergreifen.<lb/>
Er wandle so den Erdentag entlang;<lb/>
Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang;<lb/>
Im Weiterschreiten find er Qual und Glück,<lb/>
Er! unbefriedigt jeden Augenblick.</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
          <p xml:id="ID_1618"> Nichts kann unbefriedigender sein, als der Abschluß, den Goethe seinem<lb/>
Drama gegeben, durch den er den Versprechungen des Prologes im Himmel<lb/>
gerecht zu werden strebt. Er hat ein ganz äußerliches Bretergerüst ausgeschlagen<lb/>
und es mit halb katholischen, halb spiritualistischen Figuren bemalt, ohne alle<lb/>
Physiognomie, ohne Gestalt und ohne Bewegung. Der Kampf der Engel und<lb/>
Teufel um die Seele des Mephistopheles ist bis zum Abgeschmackten lächerlich;<lb/>
ihre Gesänge, die an die Chöre des Osterfestes im ersten Theile erinnern sollen,<lb/>
sind eitel Klingklang, und die Uebeychwenglichkeit in der Schilderung des<lb/>
Himmels gibt, abgesehen von dem Costüm, nur die rationalistische Idee der<lb/>
Perfectibilität, stellt also neue himmlische Lehr- und Wanderjahre in Aussicht,<lb/>
die keinen befriedigenderen Ausgang versprechen, als die irdischen. Nur ein<lb/>
schöner Faden zieht sich durch diese Nebelbilder, wie durch Goethes Leben, das<lb/>
Ideal des ewig Weiblichen, das selbst in Gretchen und in dem Scheinbild der<lb/>
Helena nur einen getrübten Ausdruck gefunden, das jetzt in der Himmelskönigin<lb/>
sich völlig zu verkörpern strebt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Bilder aus Kbnstantinopel.</head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Ein Pfingsttag.</head><lb/>
            <p xml:id="ID_1619" next="#ID_1620"> , Im römisch-gregorianischen Kalender stand für gestern der erste Pfingst-<lb/>
feiertag eingetragen. Es ist noch nicht gar lange her, daß dieser Umstand im<lb/>
hiesigen äußerlichen Leben ziemlich unbemerkt vorübergegangen sein würde;<lb/>
heute indeß machen die christlichen Feste, auch wenn sie nur von einer der<lb/>
hier vertretenen Hauptconfesstonen kirchlich begangen werden, sich innerhalb<lb/>
eines weitgedehnten Kreises geltend, der über Pera hinausgreift und sich tief<lb/>
hinein nach Stambul erstreckt. Heute auch läuten die Glocken bei dergleichen<lb/>
Gelegenheiten laut und vernehmlich, und lassen ihren Klang weithin über die<lb/>
Straßen ertönen, dieselben Glocken, denen vor fünfzehn Jahren, zur Zeit des<lb/>
gefürchteten Sultans Mahmud It., nur ein bescheidenes Bimmeln'und Klin¬<lb/>
geln gestattet war &#x2014; oder vielmehr nicht dieselben, denn kaum mag es<lb/>
eine von der Glocke berufene Gemeinde geben, die nicht seitdem das Format</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten. II.- 18si. 63</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0505] Was braucht er in die Ewigkeit zu schweifen! Was er erkennt, läßt sich ergreifen. Er wandle so den Erdentag entlang; Wenn Geister spuken, geh er seinen Gang; Im Weiterschreiten find er Qual und Glück, Er! unbefriedigt jeden Augenblick. Nichts kann unbefriedigender sein, als der Abschluß, den Goethe seinem Drama gegeben, durch den er den Versprechungen des Prologes im Himmel gerecht zu werden strebt. Er hat ein ganz äußerliches Bretergerüst ausgeschlagen und es mit halb katholischen, halb spiritualistischen Figuren bemalt, ohne alle Physiognomie, ohne Gestalt und ohne Bewegung. Der Kampf der Engel und Teufel um die Seele des Mephistopheles ist bis zum Abgeschmackten lächerlich; ihre Gesänge, die an die Chöre des Osterfestes im ersten Theile erinnern sollen, sind eitel Klingklang, und die Uebeychwenglichkeit in der Schilderung des Himmels gibt, abgesehen von dem Costüm, nur die rationalistische Idee der Perfectibilität, stellt also neue himmlische Lehr- und Wanderjahre in Aussicht, die keinen befriedigenderen Ausgang versprechen, als die irdischen. Nur ein schöner Faden zieht sich durch diese Nebelbilder, wie durch Goethes Leben, das Ideal des ewig Weiblichen, das selbst in Gretchen und in dem Scheinbild der Helena nur einen getrübten Ausdruck gefunden, das jetzt in der Himmelskönigin sich völlig zu verkörpern strebt. Bilder aus Kbnstantinopel. Ein Pfingsttag. , Im römisch-gregorianischen Kalender stand für gestern der erste Pfingst- feiertag eingetragen. Es ist noch nicht gar lange her, daß dieser Umstand im hiesigen äußerlichen Leben ziemlich unbemerkt vorübergegangen sein würde; heute indeß machen die christlichen Feste, auch wenn sie nur von einer der hier vertretenen Hauptconfesstonen kirchlich begangen werden, sich innerhalb eines weitgedehnten Kreises geltend, der über Pera hinausgreift und sich tief hinein nach Stambul erstreckt. Heute auch läuten die Glocken bei dergleichen Gelegenheiten laut und vernehmlich, und lassen ihren Klang weithin über die Straßen ertönen, dieselben Glocken, denen vor fünfzehn Jahren, zur Zeit des gefürchteten Sultans Mahmud It., nur ein bescheidenes Bimmeln'und Klin¬ geln gestattet war — oder vielmehr nicht dieselben, denn kaum mag es eine von der Glocke berufene Gemeinde geben, die nicht seitdem das Format Grenzboten. II.- 18si. 63

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/504
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/504>, abgerufen am 23.07.2024.