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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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tastischer Gewalt empor, bis ein plötzlicher Schlag uns daran erinnert, daß wir
uns im Reiche der Schatten bewegt haben. Der Homunculus der griechisch¬
romantischen Poesie, den es zu entstehen gelüstete, oder der Knabe Lenker oder
, Euphorion oder auch Lord Byron -- "denn wir glauben ihn zu kennen" --
stürzt entseelt zu Boden, die Gestalt des göttlichen Weibes entfliegt in die
Lüste, die schalkhaften Nymphen tauchen sich wieder in die unbeseelten Bäche,
Bäume, Hügel zurück, die ihre ursprüngliche Wohnstätte waren, und von der
ganzen Antike bleibt nichts zurück, als Helenas Kleid: Griechischer Flitterkram,
den Mephistopheles sich in der Gestalt der Phorkyas riesengroß emporhebend
mit frechem Hohn dem Publicum vorzeigt. Auch diesen glauben wir zu kennen.

Wir glauben uns an die Zeitfolge des Gedichts nicht binden zu dürfen.
Die Helena war früher geschrieben, als die classische Walpurgisnacht und als
der Besuch in Fausts alter Clause. Sie steht hier an unrechter Stelle. Erst hatte
man in wirklicher plastischer Dichtung versucht, das Alterthum neu zu beleben, ehe
man es durch Mythologische und naturphilosophische Grübeleien auseinander¬
zerrte, wie es hier in der classischen Walpurgisnacht, wie es in den Studien
von Creuzer, Schelling und den übrigen geschah. Und erst nach diesem Um¬
weg durch den Orient kehrte die Poesie ins deutsche Leben ein, wo sie sich
ebenso fremd fühlte, wie Mephistopheles den beiden Pedanten Wagner und
dem Baccalaureus gegenüber, die ihre Natur ganz verkehrt hatten, von denen
der eine, der bis dahin nur NaMen und Zahlen auswendig gelernt, plötzlich
darauf ausging, einen Menschen zu formen, während der andere, der gute, be¬
scheidene Schüler, die ganze Welt aus seinem Selbstbewußtsein heraus neu zu
schaffen gedachte. Diese neu aufstrebende jungdeutsch philosophische Jugend
erschien dem alternden Dichter ebenso seltsam und unbegreiflich, als das poli¬
tische Leben, zu dem er nothgedrungen zurückkehren mußte: das Reich des
guten Kaisers', das in Verwirrung gerathen war, dem die beiden Fremdlinge
noch einmal aushalfen, aber nur um sich von ihm ein stilles Asyl auszubitte",
aus dem sie ungestört ihrer eignen Thätigkeit nachgehen konnten.


Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, "mrnngen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
'
Solch ein Gewinnnel möcht ich sehn, >
Auf freiem Grund mit freiem Volke steh".
''
Zum Augenblicke diirft ich sagen:
Verweile doch, dn bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Gewiß ist das der Weisheit höchster Schluß, und Goethe bewährte
sich auch darin als den Führer des Jahrhunderts, daß er ihn klar und ent-


tastischer Gewalt empor, bis ein plötzlicher Schlag uns daran erinnert, daß wir
uns im Reiche der Schatten bewegt haben. Der Homunculus der griechisch¬
romantischen Poesie, den es zu entstehen gelüstete, oder der Knabe Lenker oder
, Euphorion oder auch Lord Byron — „denn wir glauben ihn zu kennen" —
stürzt entseelt zu Boden, die Gestalt des göttlichen Weibes entfliegt in die
Lüste, die schalkhaften Nymphen tauchen sich wieder in die unbeseelten Bäche,
Bäume, Hügel zurück, die ihre ursprüngliche Wohnstätte waren, und von der
ganzen Antike bleibt nichts zurück, als Helenas Kleid: Griechischer Flitterkram,
den Mephistopheles sich in der Gestalt der Phorkyas riesengroß emporhebend
mit frechem Hohn dem Publicum vorzeigt. Auch diesen glauben wir zu kennen.

Wir glauben uns an die Zeitfolge des Gedichts nicht binden zu dürfen.
Die Helena war früher geschrieben, als die classische Walpurgisnacht und als
der Besuch in Fausts alter Clause. Sie steht hier an unrechter Stelle. Erst hatte
man in wirklicher plastischer Dichtung versucht, das Alterthum neu zu beleben, ehe
man es durch Mythologische und naturphilosophische Grübeleien auseinander¬
zerrte, wie es hier in der classischen Walpurgisnacht, wie es in den Studien
von Creuzer, Schelling und den übrigen geschah. Und erst nach diesem Um¬
weg durch den Orient kehrte die Poesie ins deutsche Leben ein, wo sie sich
ebenso fremd fühlte, wie Mephistopheles den beiden Pedanten Wagner und
dem Baccalaureus gegenüber, die ihre Natur ganz verkehrt hatten, von denen
der eine, der bis dahin nur NaMen und Zahlen auswendig gelernt, plötzlich
darauf ausging, einen Menschen zu formen, während der andere, der gute, be¬
scheidene Schüler, die ganze Welt aus seinem Selbstbewußtsein heraus neu zu
schaffen gedachte. Diese neu aufstrebende jungdeutsch philosophische Jugend
erschien dem alternden Dichter ebenso seltsam und unbegreiflich, als das poli¬
tische Leben, zu dem er nothgedrungen zurückkehren mußte: das Reich des
guten Kaisers', das in Verwirrung gerathen war, dem die beiden Fremdlinge
noch einmal aushalfen, aber nur um sich von ihm ein stilles Asyl auszubitte»,
aus dem sie ungestört ihrer eignen Thätigkeit nachgehen konnten.


Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.
Und so verbringt, «mrnngen von Gefahr,
Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr.
'
Solch ein Gewinnnel möcht ich sehn, >
Auf freiem Grund mit freiem Volke steh».
''
Zum Augenblicke diirft ich sagen:
Verweile doch, dn bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdentagen
Nicht in Aeonen untergehn.

Gewiß ist das der Weisheit höchster Schluß, und Goethe bewährte
sich auch darin als den Führer des Jahrhunderts, daß er ihn klar und ent-


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[0503] tastischer Gewalt empor, bis ein plötzlicher Schlag uns daran erinnert, daß wir uns im Reiche der Schatten bewegt haben. Der Homunculus der griechisch¬ romantischen Poesie, den es zu entstehen gelüstete, oder der Knabe Lenker oder , Euphorion oder auch Lord Byron — „denn wir glauben ihn zu kennen" — stürzt entseelt zu Boden, die Gestalt des göttlichen Weibes entfliegt in die Lüste, die schalkhaften Nymphen tauchen sich wieder in die unbeseelten Bäche, Bäume, Hügel zurück, die ihre ursprüngliche Wohnstätte waren, und von der ganzen Antike bleibt nichts zurück, als Helenas Kleid: Griechischer Flitterkram, den Mephistopheles sich in der Gestalt der Phorkyas riesengroß emporhebend mit frechem Hohn dem Publicum vorzeigt. Auch diesen glauben wir zu kennen. Wir glauben uns an die Zeitfolge des Gedichts nicht binden zu dürfen. Die Helena war früher geschrieben, als die classische Walpurgisnacht und als der Besuch in Fausts alter Clause. Sie steht hier an unrechter Stelle. Erst hatte man in wirklicher plastischer Dichtung versucht, das Alterthum neu zu beleben, ehe man es durch Mythologische und naturphilosophische Grübeleien auseinander¬ zerrte, wie es hier in der classischen Walpurgisnacht, wie es in den Studien von Creuzer, Schelling und den übrigen geschah. Und erst nach diesem Um¬ weg durch den Orient kehrte die Poesie ins deutsche Leben ein, wo sie sich ebenso fremd fühlte, wie Mephistopheles den beiden Pedanten Wagner und dem Baccalaureus gegenüber, die ihre Natur ganz verkehrt hatten, von denen der eine, der bis dahin nur NaMen und Zahlen auswendig gelernt, plötzlich darauf ausging, einen Menschen zu formen, während der andere, der gute, be¬ scheidene Schüler, die ganze Welt aus seinem Selbstbewußtsein heraus neu zu schaffen gedachte. Diese neu aufstrebende jungdeutsch philosophische Jugend erschien dem alternden Dichter ebenso seltsam und unbegreiflich, als das poli¬ tische Leben, zu dem er nothgedrungen zurückkehren mußte: das Reich des guten Kaisers', das in Verwirrung gerathen war, dem die beiden Fremdlinge noch einmal aushalfen, aber nur um sich von ihm ein stilles Asyl auszubitte», aus dem sie ungestört ihrer eignen Thätigkeit nachgehen konnten. Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß. Und so verbringt, «mrnngen von Gefahr, Hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. ' Solch ein Gewinnnel möcht ich sehn, > Auf freiem Grund mit freiem Volke steh». '' Zum Augenblicke diirft ich sagen: Verweile doch, dn bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdentagen Nicht in Aeonen untergehn. Gewiß ist das der Weisheit höchster Schluß, und Goethe bewährte sich auch darin als den Führer des Jahrhunderts, daß er ihn klar und ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/502>, abgerufen am 22.12.2024.