Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Einleitung des zweiten Theiles schneidet mit einer harten Dissonanz
gegen den ersten ab. Am Schlüsse des ersten finden wir Faust in den Händen
des Teufels, geistig so gebrochen, daß wir kaum noch aus eine Erlösung hoffen
können. Dieser Gemüthszustand wird durch einen Opiumrausch aufgehoben.
Elfen singen ihm ein Schlummerlied und beim Erwachen hat er seine Ver¬
gangenheit vergessen. Er begibt sich an den Hos eines Kaisers, dem er allerlei
bunte Maskenspiele vormacht, bis eines derselben, die schöne Helena, seiner
Phantasie und seiner ganzen Lebensentwicklung eine neue Wendung gibt. --
Der Monolog Fausts bei seinem Erwachen deutet uns die Beziehung, dieses
sonderbaren Uebergangs an. Er wird von der wirklichen Sonne geblendet,
wendet die Augen davon ab und sieht ihr Bild verschönert in einem Wasser¬
sturz wieder. Er begreift nun, daß wir das wahre Leben nur im farbigen
Abglanz haben. -- Zu dieser Einsicht war auch die deutsche Poesie gekommen,
nachdem der leidenschaftliche Ungestüm ihrer Sturm- und Drangperiode ver¬
raucht war. Auch sie hatte sich, Goethe und Schiller an der Spitze, aus den
Leidenschaften des wirklichen Lebens in das stille Asyl der Kunst, in die Welt
des Scheines, in das Reich der Schatten geflüchtet. Was sie dort geleistet,
(man denke an die.verschiedenen Hofschauspiele Goethes), hatte ebensowenig
innern Werth gehabt, wie das Maskenspiel, welches der Knabe Lenker dem
Kaiser vorgeführt, bis sie endlich den echten Schlüssel für dies geheimnißvolle
Reich der'Schatten gefunden, nämlich die Antike/ Als Goethe in Italien die
classische Welt mit eignen Augen geschaut; da begann ein zweiter großer Auf¬
schwung der Poesie, der in der Helena versinnlicht "wird.

Die Helena ist ein wunderbares Werk: sie ist ganz symbolisch; denn sie
drückt nicht ein darstellbares Motiv, sondern die Vermählung der antiken und
gothischen Poesie aus. Aber dabei ist doch in einzelnen Schilderungen ein so
farbenreicher, lebensvoller und von freudiger Bewegung zitternder Realismus,
daß wir bezaubert werden. Die ernste und würdige Haltung, das schöne, keusche
Maß der Sprache, der muthwillig bewegte Rhythmus der Nymphen, das alles
versetzt uns für den Augenblick wirklich in das griechische Theater zurück. Die un¬
heimliche Gestalt der Phorkyas bereitet uns auf einen Härten Contrast vor und wir
sind kaum überrascht, als der Repräsentant eines ganz andern Jahrtausends in
einer neuen Wiedergeburt auf classischem Boden erwacht; als Romantik und
Griechenthum sich bunt durcheinander mischen. Aber nun wird, wie es im
Traume zu geschehen pflegt, die Bewegung immer schattenhafter, hastiger, die
Bedingungen des Raumes und der Zeit schwinden völlig unter unsern Füßen;
wir haben das Gefühl, als ob wir zu erwachen streben; wir hören entfernte
Stimmen aus der wirklichen Welt, Kriegsgetümmel aus der Ferne, wie die
Kanonen der Schlacht bei Jena während des classischen Traumlebens in Wei¬
mar; aber die nebelhaften Gestalten quillen unter unsern Händen mit phan-


Die Einleitung des zweiten Theiles schneidet mit einer harten Dissonanz
gegen den ersten ab. Am Schlüsse des ersten finden wir Faust in den Händen
des Teufels, geistig so gebrochen, daß wir kaum noch aus eine Erlösung hoffen
können. Dieser Gemüthszustand wird durch einen Opiumrausch aufgehoben.
Elfen singen ihm ein Schlummerlied und beim Erwachen hat er seine Ver¬
gangenheit vergessen. Er begibt sich an den Hos eines Kaisers, dem er allerlei
bunte Maskenspiele vormacht, bis eines derselben, die schöne Helena, seiner
Phantasie und seiner ganzen Lebensentwicklung eine neue Wendung gibt. —
Der Monolog Fausts bei seinem Erwachen deutet uns die Beziehung, dieses
sonderbaren Uebergangs an. Er wird von der wirklichen Sonne geblendet,
wendet die Augen davon ab und sieht ihr Bild verschönert in einem Wasser¬
sturz wieder. Er begreift nun, daß wir das wahre Leben nur im farbigen
Abglanz haben. — Zu dieser Einsicht war auch die deutsche Poesie gekommen,
nachdem der leidenschaftliche Ungestüm ihrer Sturm- und Drangperiode ver¬
raucht war. Auch sie hatte sich, Goethe und Schiller an der Spitze, aus den
Leidenschaften des wirklichen Lebens in das stille Asyl der Kunst, in die Welt
des Scheines, in das Reich der Schatten geflüchtet. Was sie dort geleistet,
(man denke an die.verschiedenen Hofschauspiele Goethes), hatte ebensowenig
innern Werth gehabt, wie das Maskenspiel, welches der Knabe Lenker dem
Kaiser vorgeführt, bis sie endlich den echten Schlüssel für dies geheimnißvolle
Reich der'Schatten gefunden, nämlich die Antike/ Als Goethe in Italien die
classische Welt mit eignen Augen geschaut; da begann ein zweiter großer Auf¬
schwung der Poesie, der in der Helena versinnlicht «wird.

Die Helena ist ein wunderbares Werk: sie ist ganz symbolisch; denn sie
drückt nicht ein darstellbares Motiv, sondern die Vermählung der antiken und
gothischen Poesie aus. Aber dabei ist doch in einzelnen Schilderungen ein so
farbenreicher, lebensvoller und von freudiger Bewegung zitternder Realismus,
daß wir bezaubert werden. Die ernste und würdige Haltung, das schöne, keusche
Maß der Sprache, der muthwillig bewegte Rhythmus der Nymphen, das alles
versetzt uns für den Augenblick wirklich in das griechische Theater zurück. Die un¬
heimliche Gestalt der Phorkyas bereitet uns auf einen Härten Contrast vor und wir
sind kaum überrascht, als der Repräsentant eines ganz andern Jahrtausends in
einer neuen Wiedergeburt auf classischem Boden erwacht; als Romantik und
Griechenthum sich bunt durcheinander mischen. Aber nun wird, wie es im
Traume zu geschehen pflegt, die Bewegung immer schattenhafter, hastiger, die
Bedingungen des Raumes und der Zeit schwinden völlig unter unsern Füßen;
wir haben das Gefühl, als ob wir zu erwachen streben; wir hören entfernte
Stimmen aus der wirklichen Welt, Kriegsgetümmel aus der Ferne, wie die
Kanonen der Schlacht bei Jena während des classischen Traumlebens in Wei¬
mar; aber die nebelhaften Gestalten quillen unter unsern Händen mit phan-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0502" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98282"/>
          <p xml:id="ID_1610"> Die Einleitung des zweiten Theiles schneidet mit einer harten Dissonanz<lb/>
gegen den ersten ab. Am Schlüsse des ersten finden wir Faust in den Händen<lb/>
des Teufels, geistig so gebrochen, daß wir kaum noch aus eine Erlösung hoffen<lb/>
können. Dieser Gemüthszustand wird durch einen Opiumrausch aufgehoben.<lb/>
Elfen singen ihm ein Schlummerlied und beim Erwachen hat er seine Ver¬<lb/>
gangenheit vergessen. Er begibt sich an den Hos eines Kaisers, dem er allerlei<lb/>
bunte Maskenspiele vormacht, bis eines derselben, die schöne Helena, seiner<lb/>
Phantasie und seiner ganzen Lebensentwicklung eine neue Wendung gibt. &#x2014;<lb/>
Der Monolog Fausts bei seinem Erwachen deutet uns die Beziehung, dieses<lb/>
sonderbaren Uebergangs an. Er wird von der wirklichen Sonne geblendet,<lb/>
wendet die Augen davon ab und sieht ihr Bild verschönert in einem Wasser¬<lb/>
sturz wieder. Er begreift nun, daß wir das wahre Leben nur im farbigen<lb/>
Abglanz haben. &#x2014; Zu dieser Einsicht war auch die deutsche Poesie gekommen,<lb/>
nachdem der leidenschaftliche Ungestüm ihrer Sturm- und Drangperiode ver¬<lb/>
raucht war. Auch sie hatte sich, Goethe und Schiller an der Spitze, aus den<lb/>
Leidenschaften des wirklichen Lebens in das stille Asyl der Kunst, in die Welt<lb/>
des Scheines, in das Reich der Schatten geflüchtet. Was sie dort geleistet,<lb/>
(man denke an die.verschiedenen Hofschauspiele Goethes), hatte ebensowenig<lb/>
innern Werth gehabt, wie das Maskenspiel, welches der Knabe Lenker dem<lb/>
Kaiser vorgeführt, bis sie endlich den echten Schlüssel für dies geheimnißvolle<lb/>
Reich der'Schatten gefunden, nämlich die Antike/ Als Goethe in Italien die<lb/>
classische Welt mit eignen Augen geschaut; da begann ein zweiter großer Auf¬<lb/>
schwung der Poesie, der in der Helena versinnlicht «wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1611" next="#ID_1612"> Die Helena ist ein wunderbares Werk: sie ist ganz symbolisch; denn sie<lb/>
drückt nicht ein darstellbares Motiv, sondern die Vermählung der antiken und<lb/>
gothischen Poesie aus. Aber dabei ist doch in einzelnen Schilderungen ein so<lb/>
farbenreicher, lebensvoller und von freudiger Bewegung zitternder Realismus,<lb/>
daß wir bezaubert werden. Die ernste und würdige Haltung, das schöne, keusche<lb/>
Maß der Sprache, der muthwillig bewegte Rhythmus der Nymphen, das alles<lb/>
versetzt uns für den Augenblick wirklich in das griechische Theater zurück. Die un¬<lb/>
heimliche Gestalt der Phorkyas bereitet uns auf einen Härten Contrast vor und wir<lb/>
sind kaum überrascht, als der Repräsentant eines ganz andern Jahrtausends in<lb/>
einer neuen Wiedergeburt auf classischem Boden erwacht; als Romantik und<lb/>
Griechenthum sich bunt durcheinander mischen. Aber nun wird, wie es im<lb/>
Traume zu geschehen pflegt, die Bewegung immer schattenhafter, hastiger, die<lb/>
Bedingungen des Raumes und der Zeit schwinden völlig unter unsern Füßen;<lb/>
wir haben das Gefühl, als ob wir zu erwachen streben; wir hören entfernte<lb/>
Stimmen aus der wirklichen Welt, Kriegsgetümmel aus der Ferne, wie die<lb/>
Kanonen der Schlacht bei Jena während des classischen Traumlebens in Wei¬<lb/>
mar; aber die nebelhaften Gestalten quillen unter unsern Händen mit phan-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0502] Die Einleitung des zweiten Theiles schneidet mit einer harten Dissonanz gegen den ersten ab. Am Schlüsse des ersten finden wir Faust in den Händen des Teufels, geistig so gebrochen, daß wir kaum noch aus eine Erlösung hoffen können. Dieser Gemüthszustand wird durch einen Opiumrausch aufgehoben. Elfen singen ihm ein Schlummerlied und beim Erwachen hat er seine Ver¬ gangenheit vergessen. Er begibt sich an den Hos eines Kaisers, dem er allerlei bunte Maskenspiele vormacht, bis eines derselben, die schöne Helena, seiner Phantasie und seiner ganzen Lebensentwicklung eine neue Wendung gibt. — Der Monolog Fausts bei seinem Erwachen deutet uns die Beziehung, dieses sonderbaren Uebergangs an. Er wird von der wirklichen Sonne geblendet, wendet die Augen davon ab und sieht ihr Bild verschönert in einem Wasser¬ sturz wieder. Er begreift nun, daß wir das wahre Leben nur im farbigen Abglanz haben. — Zu dieser Einsicht war auch die deutsche Poesie gekommen, nachdem der leidenschaftliche Ungestüm ihrer Sturm- und Drangperiode ver¬ raucht war. Auch sie hatte sich, Goethe und Schiller an der Spitze, aus den Leidenschaften des wirklichen Lebens in das stille Asyl der Kunst, in die Welt des Scheines, in das Reich der Schatten geflüchtet. Was sie dort geleistet, (man denke an die.verschiedenen Hofschauspiele Goethes), hatte ebensowenig innern Werth gehabt, wie das Maskenspiel, welches der Knabe Lenker dem Kaiser vorgeführt, bis sie endlich den echten Schlüssel für dies geheimnißvolle Reich der'Schatten gefunden, nämlich die Antike/ Als Goethe in Italien die classische Welt mit eignen Augen geschaut; da begann ein zweiter großer Auf¬ schwung der Poesie, der in der Helena versinnlicht «wird. Die Helena ist ein wunderbares Werk: sie ist ganz symbolisch; denn sie drückt nicht ein darstellbares Motiv, sondern die Vermählung der antiken und gothischen Poesie aus. Aber dabei ist doch in einzelnen Schilderungen ein so farbenreicher, lebensvoller und von freudiger Bewegung zitternder Realismus, daß wir bezaubert werden. Die ernste und würdige Haltung, das schöne, keusche Maß der Sprache, der muthwillig bewegte Rhythmus der Nymphen, das alles versetzt uns für den Augenblick wirklich in das griechische Theater zurück. Die un¬ heimliche Gestalt der Phorkyas bereitet uns auf einen Härten Contrast vor und wir sind kaum überrascht, als der Repräsentant eines ganz andern Jahrtausends in einer neuen Wiedergeburt auf classischem Boden erwacht; als Romantik und Griechenthum sich bunt durcheinander mischen. Aber nun wird, wie es im Traume zu geschehen pflegt, die Bewegung immer schattenhafter, hastiger, die Bedingungen des Raumes und der Zeit schwinden völlig unter unsern Füßen; wir haben das Gefühl, als ob wir zu erwachen streben; wir hören entfernte Stimmen aus der wirklichen Welt, Kriegsgetümmel aus der Ferne, wie die Kanonen der Schlacht bei Jena während des classischen Traumlebens in Wei¬ mar; aber die nebelhaften Gestalten quillen unter unsern Händen mit phan-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/501
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/501>, abgerufen am 23.07.2024.