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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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in den Schöpfungen, die sich von dem natürlichen Wege der Poesie am weitesten
entfernten, die tiefste Weisheit verehrte, wird wol bald vorübergegangen sein,
man wird es aufgeben, den zweiten Theil des Faust als ein Kunstwerk oder
als die poetische Darstellung einer philosophischen Idee construiren zu wollen.
Freilich scheint nach dem neuesten Versuche, diesen zweiten Theil auf dem
Theater aufzuführen, die Befangenheit des Publicums nur noch größer ge¬
worden zu sein. Indeß diese Verwirrung ist nur als momentan zu be¬
trachten. Je unbefangener wir aber an das Studium des Werkes gehen, je
lehrreicher wird es uns für das Verständniß Goethes und der neueren Dichtung
überhaupt zu den weltbewegenden Ideen des Lebens werden.

Denn das ist der wahre Inhalt und die Bedeutung des Werks, ein subli-
mirter, Zusammengezogener Auszug aus dem Gesammtstreben des Dichters, eine
wenn auch nur halbbewußte Reflexion über seine eigne Thätigkeit und eine
vergeistigte Verallgemeinerung des Individuellen. Betrachten wir von diesem
Standpunkte noch einmal den ersten Theil, so finden wir drei Momente darin:
den Realismus, die Leidenschaft' und die Magie oder die Nachbildung der
schlichten naiven Formen des 16. Jahrhunderts, (Götz) den Kampf des egoisti¬
schen Herzens gegen die Schranken der Sitte (Werther) und das Herausstreben
der unmittelbaren durch Philosophie und Mysticismus genährten Phantasie
über die herkömmlichen Formen der Religion. Diese Tendenzen sind im ersten
Theile nicht blos schattenhaft angedeutet, sondern wirklich dargestellt, mit der¬
selben jugendlichen Kraft und Innigkeit dargestellt,^ wie wir sie in Goethes
ersten Werken überhaupt finden. Dagegen ist der Abschluß ein unbefriedigender;
die streitenden Ideen finden keinen Austrag; weder die Natur, noch die Leiden¬
schaft, noch die Magie kommen zu ihrem Recht, sie stehen als ein Frevel gegen
das Allgemeine da, und wenn der Prolog im Himmel einen befriedigenderen
Ausgang verheißt, fo ist das bereits die Anticipation eines der ursprünglichen
Gedankenreihe fremden Standpunkts.

Im zweiten Theile dagegen soll die Versöhnung wirklich durchgeführt werden,
aber nicht in realer Darstellung, sondern in symbolischer Andeutung. Was im
zweiten Theile geschieht, hat keinen Sinn in sich selbst, sondern nur als Schatten¬
bild von Gedanken, über die wir uns erst verständigen müssen. Dieser Mangel'
an Realismus erstreckt sich aus alle einzelnen Scenen, ja auf die Sprache selbst,
die fast ganz ihren plastischen Charakter verloren hat. Eine innere dialektische
Einheit herzustellen, würde um so vergeblicher sein, da wir über die allmälige
Entstehung des zweiten Theiles ziemlich ausführliche Mittheilungen haben, und
die mitwirkende Hand der Laune und des Zufalles überall leicht herauserkennen;
allein die bedeutenden Momente lassen sich durch einige starke Striche hervor¬
heben und werden wenigstens die Beziehungen des Gedichts zu dem idealen
Leben des Dichtens versinnlichen.


in den Schöpfungen, die sich von dem natürlichen Wege der Poesie am weitesten
entfernten, die tiefste Weisheit verehrte, wird wol bald vorübergegangen sein,
man wird es aufgeben, den zweiten Theil des Faust als ein Kunstwerk oder
als die poetische Darstellung einer philosophischen Idee construiren zu wollen.
Freilich scheint nach dem neuesten Versuche, diesen zweiten Theil auf dem
Theater aufzuführen, die Befangenheit des Publicums nur noch größer ge¬
worden zu sein. Indeß diese Verwirrung ist nur als momentan zu be¬
trachten. Je unbefangener wir aber an das Studium des Werkes gehen, je
lehrreicher wird es uns für das Verständniß Goethes und der neueren Dichtung
überhaupt zu den weltbewegenden Ideen des Lebens werden.

Denn das ist der wahre Inhalt und die Bedeutung des Werks, ein subli-
mirter, Zusammengezogener Auszug aus dem Gesammtstreben des Dichters, eine
wenn auch nur halbbewußte Reflexion über seine eigne Thätigkeit und eine
vergeistigte Verallgemeinerung des Individuellen. Betrachten wir von diesem
Standpunkte noch einmal den ersten Theil, so finden wir drei Momente darin:
den Realismus, die Leidenschaft' und die Magie oder die Nachbildung der
schlichten naiven Formen des 16. Jahrhunderts, (Götz) den Kampf des egoisti¬
schen Herzens gegen die Schranken der Sitte (Werther) und das Herausstreben
der unmittelbaren durch Philosophie und Mysticismus genährten Phantasie
über die herkömmlichen Formen der Religion. Diese Tendenzen sind im ersten
Theile nicht blos schattenhaft angedeutet, sondern wirklich dargestellt, mit der¬
selben jugendlichen Kraft und Innigkeit dargestellt,^ wie wir sie in Goethes
ersten Werken überhaupt finden. Dagegen ist der Abschluß ein unbefriedigender;
die streitenden Ideen finden keinen Austrag; weder die Natur, noch die Leiden¬
schaft, noch die Magie kommen zu ihrem Recht, sie stehen als ein Frevel gegen
das Allgemeine da, und wenn der Prolog im Himmel einen befriedigenderen
Ausgang verheißt, fo ist das bereits die Anticipation eines der ursprünglichen
Gedankenreihe fremden Standpunkts.

Im zweiten Theile dagegen soll die Versöhnung wirklich durchgeführt werden,
aber nicht in realer Darstellung, sondern in symbolischer Andeutung. Was im
zweiten Theile geschieht, hat keinen Sinn in sich selbst, sondern nur als Schatten¬
bild von Gedanken, über die wir uns erst verständigen müssen. Dieser Mangel'
an Realismus erstreckt sich aus alle einzelnen Scenen, ja auf die Sprache selbst,
die fast ganz ihren plastischen Charakter verloren hat. Eine innere dialektische
Einheit herzustellen, würde um so vergeblicher sein, da wir über die allmälige
Entstehung des zweiten Theiles ziemlich ausführliche Mittheilungen haben, und
die mitwirkende Hand der Laune und des Zufalles überall leicht herauserkennen;
allein die bedeutenden Momente lassen sich durch einige starke Striche hervor¬
heben und werden wenigstens die Beziehungen des Gedichts zu dem idealen
Leben des Dichtens versinnlichen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/500>, abgerufen am 23.07.2024.