Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

hat uns der Prolog im Himmel so über den Ausgang beruhigt, daß wir diese
Seite des Verhältnisses gar nicht ins Auge fassen. Was Faust an Gretchen
sündigt, kommt ganz auf seine Rechnung. Seine Beziehung zum Teufel hat
gar keinen Einfluß darauf, denn Helfershelfer und Kuppler findet man überall,
man darf sie nicht erst in der Hölle suchen. Wäre das Stück ein Fragment
geblieben, so hätte man auf alle diese Widersprüche kein Gewicht gelegt. Wenn
aber fragmentarisch gedachte Charaktere und Situationen den Schein eines
innern Zusammenhanges annehmen, so kann man sich der Nachrechnung nicht
entziehen, man läßt sich sonst durch die Anerkennung des einzelnen Falles zu
falschen Maximen verleiten. Das findet nicht blos auf Faust und Mephisto-
pheles, sondern zum Theil auf Gretchen selbst Anwendung. In den mit
wunderbarem Zauber dargestellten Seelenbewegungen fehlen doch einige Mittel¬
glieder, die entscheidend sind. Wie hängt es mit dem Tode der Mutter, wie'
mit dem Verbrechen des Kindermordes zusammen? welches Verbrechen freilich
im zweiten Theile der Jungfrau Maria so unbedeutend vorkommt,- daß sie
meint, das gute Kind habe sich nur einmal vergessen. Eine solche Abschwächung
des tragischen Ausgangs ist weder vom sinnlichen, noch vom poetischen Stand¬
punkt gut zu heißen. Wir mögen dem Opfer der Verführung unser tiefstes
Mitleid schenken, aber eine bloße Stimme hinter der Scene: "sie ist gerettet"
kann uns nicht versöhnen.

Die fortwährende Vermischung des individuellen und symbolischen Moments,
so reizend es auch auf den ersten Anblick wirkt, verwirrt doch den dramatischen
Eindruck. Erst wenn wir zu 'der Unbefangenheit der frühern Jahre zurück¬
gekehrt sein werden, wenn wir die Idee eines Kunstwerks vollständig aus der
Betrachtung dieses Gedichts verbannt haben, können wir uns an diesem be¬
zaubernden Spiel wieder erfreuen. Nicht der angebliche Charakter des Helden,
sondern Goethe selbst und seine Beziehung zur Zeit ist der feste Stand, um
den sich das üppige Rankengewächs dieser glühenden Phantasien hinausschlingt.
Man muß das Costüm gradezu von sich werfen, um zu dem rein symbolischen
Inhalt zu gelangen. So ist z. B. der Nächstliegende Sinn der Geister¬
beschwörung aus bekannte kabbalistische Gestalten gerichtet, aber die geheime
Bedeutung schimmert vernehmlich genug durch. Die Magie, von der hier die
Rede ist, kann nichts anders sein, als die mit der Philosophie verbündete
Dichtung, welche sich den Banden der im Dunkeln ängstlich sorttappenden
Wissenschaft entriß, um das Wahre durch unmittelbare Erleuchtung zu ge¬
winnen. Sie findet die reichsten, lebensvollsten Bilder in dem Makrokosmus
der Natur, in dem Mikrokosmus der Geschichte; aber diese Bilder bleiben ihr
äußerlich. Selbst der Geist der Menschheit, wie er in der Geschichte waltet,
wendet sich von ihr, die in subjectiven Idealen und Leidenschaften befangen ist,
die sich höchstens zur Resignation einer schönen Seele erhebt, fremd und zurück-


hat uns der Prolog im Himmel so über den Ausgang beruhigt, daß wir diese
Seite des Verhältnisses gar nicht ins Auge fassen. Was Faust an Gretchen
sündigt, kommt ganz auf seine Rechnung. Seine Beziehung zum Teufel hat
gar keinen Einfluß darauf, denn Helfershelfer und Kuppler findet man überall,
man darf sie nicht erst in der Hölle suchen. Wäre das Stück ein Fragment
geblieben, so hätte man auf alle diese Widersprüche kein Gewicht gelegt. Wenn
aber fragmentarisch gedachte Charaktere und Situationen den Schein eines
innern Zusammenhanges annehmen, so kann man sich der Nachrechnung nicht
entziehen, man läßt sich sonst durch die Anerkennung des einzelnen Falles zu
falschen Maximen verleiten. Das findet nicht blos auf Faust und Mephisto-
pheles, sondern zum Theil auf Gretchen selbst Anwendung. In den mit
wunderbarem Zauber dargestellten Seelenbewegungen fehlen doch einige Mittel¬
glieder, die entscheidend sind. Wie hängt es mit dem Tode der Mutter, wie'
mit dem Verbrechen des Kindermordes zusammen? welches Verbrechen freilich
im zweiten Theile der Jungfrau Maria so unbedeutend vorkommt,- daß sie
meint, das gute Kind habe sich nur einmal vergessen. Eine solche Abschwächung
des tragischen Ausgangs ist weder vom sinnlichen, noch vom poetischen Stand¬
punkt gut zu heißen. Wir mögen dem Opfer der Verführung unser tiefstes
Mitleid schenken, aber eine bloße Stimme hinter der Scene: „sie ist gerettet"
kann uns nicht versöhnen.

Die fortwährende Vermischung des individuellen und symbolischen Moments,
so reizend es auch auf den ersten Anblick wirkt, verwirrt doch den dramatischen
Eindruck. Erst wenn wir zu 'der Unbefangenheit der frühern Jahre zurück¬
gekehrt sein werden, wenn wir die Idee eines Kunstwerks vollständig aus der
Betrachtung dieses Gedichts verbannt haben, können wir uns an diesem be¬
zaubernden Spiel wieder erfreuen. Nicht der angebliche Charakter des Helden,
sondern Goethe selbst und seine Beziehung zur Zeit ist der feste Stand, um
den sich das üppige Rankengewächs dieser glühenden Phantasien hinausschlingt.
Man muß das Costüm gradezu von sich werfen, um zu dem rein symbolischen
Inhalt zu gelangen. So ist z. B. der Nächstliegende Sinn der Geister¬
beschwörung aus bekannte kabbalistische Gestalten gerichtet, aber die geheime
Bedeutung schimmert vernehmlich genug durch. Die Magie, von der hier die
Rede ist, kann nichts anders sein, als die mit der Philosophie verbündete
Dichtung, welche sich den Banden der im Dunkeln ängstlich sorttappenden
Wissenschaft entriß, um das Wahre durch unmittelbare Erleuchtung zu ge¬
winnen. Sie findet die reichsten, lebensvollsten Bilder in dem Makrokosmus
der Natur, in dem Mikrokosmus der Geschichte; aber diese Bilder bleiben ihr
äußerlich. Selbst der Geist der Menschheit, wie er in der Geschichte waltet,
wendet sich von ihr, die in subjectiven Idealen und Leidenschaften befangen ist,
die sich höchstens zur Resignation einer schönen Seele erhebt, fremd und zurück-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0496" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/98276"/>
          <p xml:id="ID_1594" prev="#ID_1593"> hat uns der Prolog im Himmel so über den Ausgang beruhigt, daß wir diese<lb/>
Seite des Verhältnisses gar nicht ins Auge fassen. Was Faust an Gretchen<lb/>
sündigt, kommt ganz auf seine Rechnung. Seine Beziehung zum Teufel hat<lb/>
gar keinen Einfluß darauf, denn Helfershelfer und Kuppler findet man überall,<lb/>
man darf sie nicht erst in der Hölle suchen. Wäre das Stück ein Fragment<lb/>
geblieben, so hätte man auf alle diese Widersprüche kein Gewicht gelegt. Wenn<lb/>
aber fragmentarisch gedachte Charaktere und Situationen den Schein eines<lb/>
innern Zusammenhanges annehmen, so kann man sich der Nachrechnung nicht<lb/>
entziehen, man läßt sich sonst durch die Anerkennung des einzelnen Falles zu<lb/>
falschen Maximen verleiten. Das findet nicht blos auf Faust und Mephisto-<lb/>
pheles, sondern zum Theil auf Gretchen selbst Anwendung. In den mit<lb/>
wunderbarem Zauber dargestellten Seelenbewegungen fehlen doch einige Mittel¬<lb/>
glieder, die entscheidend sind. Wie hängt es mit dem Tode der Mutter, wie'<lb/>
mit dem Verbrechen des Kindermordes zusammen? welches Verbrechen freilich<lb/>
im zweiten Theile der Jungfrau Maria so unbedeutend vorkommt,- daß sie<lb/>
meint, das gute Kind habe sich nur einmal vergessen. Eine solche Abschwächung<lb/>
des tragischen Ausgangs ist weder vom sinnlichen, noch vom poetischen Stand¬<lb/>
punkt gut zu heißen. Wir mögen dem Opfer der Verführung unser tiefstes<lb/>
Mitleid schenken, aber eine bloße Stimme hinter der Scene: &#x201E;sie ist gerettet"<lb/>
kann uns nicht versöhnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1595" next="#ID_1596"> Die fortwährende Vermischung des individuellen und symbolischen Moments,<lb/>
so reizend es auch auf den ersten Anblick wirkt, verwirrt doch den dramatischen<lb/>
Eindruck. Erst wenn wir zu 'der Unbefangenheit der frühern Jahre zurück¬<lb/>
gekehrt sein werden, wenn wir die Idee eines Kunstwerks vollständig aus der<lb/>
Betrachtung dieses Gedichts verbannt haben, können wir uns an diesem be¬<lb/>
zaubernden Spiel wieder erfreuen. Nicht der angebliche Charakter des Helden,<lb/>
sondern Goethe selbst und seine Beziehung zur Zeit ist der feste Stand, um<lb/>
den sich das üppige Rankengewächs dieser glühenden Phantasien hinausschlingt.<lb/>
Man muß das Costüm gradezu von sich werfen, um zu dem rein symbolischen<lb/>
Inhalt zu gelangen. So ist z. B. der Nächstliegende Sinn der Geister¬<lb/>
beschwörung aus bekannte kabbalistische Gestalten gerichtet, aber die geheime<lb/>
Bedeutung schimmert vernehmlich genug durch. Die Magie, von der hier die<lb/>
Rede ist, kann nichts anders sein, als die mit der Philosophie verbündete<lb/>
Dichtung, welche sich den Banden der im Dunkeln ängstlich sorttappenden<lb/>
Wissenschaft entriß, um das Wahre durch unmittelbare Erleuchtung zu ge¬<lb/>
winnen. Sie findet die reichsten, lebensvollsten Bilder in dem Makrokosmus<lb/>
der Natur, in dem Mikrokosmus der Geschichte; aber diese Bilder bleiben ihr<lb/>
äußerlich. Selbst der Geist der Menschheit, wie er in der Geschichte waltet,<lb/>
wendet sich von ihr, die in subjectiven Idealen und Leidenschaften befangen ist,<lb/>
die sich höchstens zur Resignation einer schönen Seele erhebt, fremd und zurück-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0496] hat uns der Prolog im Himmel so über den Ausgang beruhigt, daß wir diese Seite des Verhältnisses gar nicht ins Auge fassen. Was Faust an Gretchen sündigt, kommt ganz auf seine Rechnung. Seine Beziehung zum Teufel hat gar keinen Einfluß darauf, denn Helfershelfer und Kuppler findet man überall, man darf sie nicht erst in der Hölle suchen. Wäre das Stück ein Fragment geblieben, so hätte man auf alle diese Widersprüche kein Gewicht gelegt. Wenn aber fragmentarisch gedachte Charaktere und Situationen den Schein eines innern Zusammenhanges annehmen, so kann man sich der Nachrechnung nicht entziehen, man läßt sich sonst durch die Anerkennung des einzelnen Falles zu falschen Maximen verleiten. Das findet nicht blos auf Faust und Mephisto- pheles, sondern zum Theil auf Gretchen selbst Anwendung. In den mit wunderbarem Zauber dargestellten Seelenbewegungen fehlen doch einige Mittel¬ glieder, die entscheidend sind. Wie hängt es mit dem Tode der Mutter, wie' mit dem Verbrechen des Kindermordes zusammen? welches Verbrechen freilich im zweiten Theile der Jungfrau Maria so unbedeutend vorkommt,- daß sie meint, das gute Kind habe sich nur einmal vergessen. Eine solche Abschwächung des tragischen Ausgangs ist weder vom sinnlichen, noch vom poetischen Stand¬ punkt gut zu heißen. Wir mögen dem Opfer der Verführung unser tiefstes Mitleid schenken, aber eine bloße Stimme hinter der Scene: „sie ist gerettet" kann uns nicht versöhnen. Die fortwährende Vermischung des individuellen und symbolischen Moments, so reizend es auch auf den ersten Anblick wirkt, verwirrt doch den dramatischen Eindruck. Erst wenn wir zu 'der Unbefangenheit der frühern Jahre zurück¬ gekehrt sein werden, wenn wir die Idee eines Kunstwerks vollständig aus der Betrachtung dieses Gedichts verbannt haben, können wir uns an diesem be¬ zaubernden Spiel wieder erfreuen. Nicht der angebliche Charakter des Helden, sondern Goethe selbst und seine Beziehung zur Zeit ist der feste Stand, um den sich das üppige Rankengewächs dieser glühenden Phantasien hinausschlingt. Man muß das Costüm gradezu von sich werfen, um zu dem rein symbolischen Inhalt zu gelangen. So ist z. B. der Nächstliegende Sinn der Geister¬ beschwörung aus bekannte kabbalistische Gestalten gerichtet, aber die geheime Bedeutung schimmert vernehmlich genug durch. Die Magie, von der hier die Rede ist, kann nichts anders sein, als die mit der Philosophie verbündete Dichtung, welche sich den Banden der im Dunkeln ängstlich sorttappenden Wissenschaft entriß, um das Wahre durch unmittelbare Erleuchtung zu ge¬ winnen. Sie findet die reichsten, lebensvollsten Bilder in dem Makrokosmus der Natur, in dem Mikrokosmus der Geschichte; aber diese Bilder bleiben ihr äußerlich. Selbst der Geist der Menschheit, wie er in der Geschichte waltet, wendet sich von ihr, die in subjectiven Idealen und Leidenschaften befangen ist, die sich höchstens zur Resignation einer schönen Seele erhebt, fremd und zurück-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/495
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/495>, abgerufen am 23.07.2024.