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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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weisend ab und zeigt ihr den Geist, dem sie gleicht, weil sie ihn allein begreift.
Dieser Geist ist Mephistopheles, der.Geist des Humors, der die Widersprüche
gelten läßt, weil er mit ihnen spielen kann.

Es sind das wunderbare und sehr charakteristische Selbstgeständnisse der
Dichtung, die aus dem dunkeln Gefühl, daß sie beim Widerspruch stehen bleiben
müsse, sich durch eine zwischen Lächeln und Thränen getheilte Stimmung befreite.
In diesem Wechsel der Stimmungen wurde jede Art der Bildung angeregt,
jeder Ton der Empfindung angeschlagen; nach allen Seiten hin eröffneten sich
blendende, freilich aber auch sehr ungewisse Perspectiven, Aussichten auf einen
Himmel und auf eine Hölle, die zu deutlich das Gepräge ihres subjectiven
Ursprungs trugen, um Ehrerbietung oder Schrecken einzuflößen. Wie schön
sind die beiden später hinzugedichteten Vororte, die Zueignung und das Vor¬
spiel auf dem Theater, in welchem der Dichter'den Verlust seiner schöpferischen
Jugend beklagt, die ihn Unbefangen schaffen ließ, solange er> noch selbst im
Werden war, solange er> siA n/es ^dem unmittelbaren Gefühle hingeben durste,
ohne die altkluge Bcdehklichke", ob auch seine ^Empfindung zur Warime für
die Welt erhoben werden dürfe^ / Bedenklicher ist schon der altkluge Prolog
im Himmel, der eine befriedigende Antwort verheißt, wo der Dichter doch noch
gar nicht die Frage in eine? klar^/^ut bestimmte Form gebracht hatte, und der
bereits, aus die angebliche ^harmo/i-sche Weltanscharijmg des zweiten Theils hin¬
deutet. Nun kam die Zeit, wo man die zufällige Eigenschaft dieses Gedichts,
das sich in Himmel und Hölle verloren hatte, als >ein nothwendiges Kenn¬
zeichen jeder Dichtung im größern Stil auffaßte, >vo man das individuelle
Leben verschmähte und durch ein neues Spinnengewebe"^ der Scholastik diese
wildbewegte Welt der Widersprüche so mit einem allWneinen charakterlosen
Grau zu überziehen strebte, daß sie den Eindruck Her Einheit und Identität
machen sollte, wo schattenhafte Umrisse und unbestimmte Perspectiven der höchste
Ausdruck der Bildung sein sollten, bis man endlich auch über dieses wesenlose
Treiben ungeduldig wurde und die harmonische Weltanschauung in einen all¬
gemeinen Weltschmerz umwandelte. Der Faust blieb für alle diese Bewegungen
des Gedankens der Mittelpunkt, und die blinden Verehrer des großen Dichters
wetteiferten mit den Hegelianern, jenes eitle Kartenhaus aufzuführen, in welchem
' Gott Md die gesammte Welt ihre Wohnung finden sollten, das aber vom
ersten Hauch zusammenstürzte. Und weil alles, was die neueste Zeit an
frecher und zudringlicher Rechtfertigung oder Anklage Gottes versucht hat, in
den ersten titanischen Bestrebungen dieser Dichtung wurzelt, so dürfte es hier
am Ort sein, aus den Unwerth dieser ganzen Bildung hinzuweisen.

Was dem Faust, ungefähr ebenso wie dem Werther, einen so außer¬
ordentlichen Einfluß auf die Stimmung der Masse verschaffte, waren zum Theil
ebenso seine Fehler als seine Vorzüge. Er drückte eine herrschende Strömung


Grenzbote". II. -I8si. K2

weisend ab und zeigt ihr den Geist, dem sie gleicht, weil sie ihn allein begreift.
Dieser Geist ist Mephistopheles, der.Geist des Humors, der die Widersprüche
gelten läßt, weil er mit ihnen spielen kann.

Es sind das wunderbare und sehr charakteristische Selbstgeständnisse der
Dichtung, die aus dem dunkeln Gefühl, daß sie beim Widerspruch stehen bleiben
müsse, sich durch eine zwischen Lächeln und Thränen getheilte Stimmung befreite.
In diesem Wechsel der Stimmungen wurde jede Art der Bildung angeregt,
jeder Ton der Empfindung angeschlagen; nach allen Seiten hin eröffneten sich
blendende, freilich aber auch sehr ungewisse Perspectiven, Aussichten auf einen
Himmel und auf eine Hölle, die zu deutlich das Gepräge ihres subjectiven
Ursprungs trugen, um Ehrerbietung oder Schrecken einzuflößen. Wie schön
sind die beiden später hinzugedichteten Vororte, die Zueignung und das Vor¬
spiel auf dem Theater, in welchem der Dichter'den Verlust seiner schöpferischen
Jugend beklagt, die ihn Unbefangen schaffen ließ, solange er> noch selbst im
Werden war, solange er> siA n/es ^dem unmittelbaren Gefühle hingeben durste,
ohne die altkluge Bcdehklichke«, ob auch seine ^Empfindung zur Warime für
die Welt erhoben werden dürfe^ / Bedenklicher ist schon der altkluge Prolog
im Himmel, der eine befriedigende Antwort verheißt, wo der Dichter doch noch
gar nicht die Frage in eine? klar^/^ut bestimmte Form gebracht hatte, und der
bereits, aus die angebliche ^harmo/i-sche Weltanscharijmg des zweiten Theils hin¬
deutet. Nun kam die Zeit, wo man die zufällige Eigenschaft dieses Gedichts,
das sich in Himmel und Hölle verloren hatte, als >ein nothwendiges Kenn¬
zeichen jeder Dichtung im größern Stil auffaßte, >vo man das individuelle
Leben verschmähte und durch ein neues Spinnengewebe«^ der Scholastik diese
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Grau zu überziehen strebte, daß sie den Eindruck Her Einheit und Identität
machen sollte, wo schattenhafte Umrisse und unbestimmte Perspectiven der höchste
Ausdruck der Bildung sein sollten, bis man endlich auch über dieses wesenlose
Treiben ungeduldig wurde und die harmonische Weltanschauung in einen all¬
gemeinen Weltschmerz umwandelte. Der Faust blieb für alle diese Bewegungen
des Gedankens der Mittelpunkt, und die blinden Verehrer des großen Dichters
wetteiferten mit den Hegelianern, jenes eitle Kartenhaus aufzuführen, in welchem
' Gott Md die gesammte Welt ihre Wohnung finden sollten, das aber vom
ersten Hauch zusammenstürzte. Und weil alles, was die neueste Zeit an
frecher und zudringlicher Rechtfertigung oder Anklage Gottes versucht hat, in
den ersten titanischen Bestrebungen dieser Dichtung wurzelt, so dürfte es hier
am Ort sein, aus den Unwerth dieser ganzen Bildung hinzuweisen.

Was dem Faust, ungefähr ebenso wie dem Werther, einen so außer¬
ordentlichen Einfluß auf die Stimmung der Masse verschaffte, waren zum Theil
ebenso seine Fehler als seine Vorzüge. Er drückte eine herrschende Strömung


Grenzbote». II. -I8si. K2
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/496>, abgerufen am 23.07.2024.