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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Aber schon, daß er überhaupt einen Abschluß versuchte, gab der Aufnahme des
Gedichts eine schiefe Wendung. Man hatte sich an die Idee künstlerischer
Nothwendigkeit gewöhnt und man war überreich an philosophischen Kategorien,
um diese Einheit da, wo sie nicht vorhanden war, hineinzutragen. Von der
Zeit an beginnen die unzähligen Commentare zum Faust, einer immer absurder
als der andere, die aber den Dichter selbst davon überzeugten, er habe ein Kunstwerk
im höheren Stil geschaffen. Ja er nahm es später sehr übel, wenn man
das Gedicht in der alten Weise loben wollte, wie wir aus seinem Urtheil
über Frau von Staizl in den Riemerschen Briefen und aus der merkwürdigen
Unterredung mit Luden, die dieser in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, entneh¬
men können. Diese veränderte Ausfassung des Dichters kann uns um so we¬
niger bestimmen, da grade diese falsche Voraussetzung äußerst schädlich auf die
weitere Entwicklung unsrer Literatur eingewirkt hat.

Wir schicken noch einmal voraus, daß alles einzelne im Faust, wenn man
ihn eben als Fragment betrachtet, bewundernswürdig schön, vollendet und im
höchsten Sinne wahr ist. Betrachten wir ihn aber im Zusammenhange, so
werden alle Verhältnisse und Perspektiven verwirrt, alle Empfindungen und
Ereignisse treten in ein anderes Licht und selbst unsrem Gewissen wird aus die
härteste Weise Gewalt angethan.

Wenn wir von dem mittelalterlichen Costüm, den Reminiscenzen aus dem
Höllenzwang und ähnlichen absehen, so springt es in die Augen, daß Goethe im
Faust, wie eigentlich in allen seinen Dramen, seine eigne Seele dargestellt hat; nur
mit dem Unterschiede, daß^'n allen übrigen durch die klar gezeichnete Situation
das Gefühl eine bestimmte Form gewinnt, während es sich hier bei den
unklarsten Voraussetzungen ganz ins Unbestimmte verliert. Wir haben bereits
früher darauf hingedeutet, daß der Grundfehler in Goethes Natur, in der zu¬
gleich Verstand und Gefühl ihren höchsten Ausdruck gefunden hatten, die Un¬
fähigkeit war, diese Momente so ineinander zu verschmelzen, daß sie ein har¬
monisches Ganze bildeten. Fast in allen seinen dramatischen Dichtungen werden
daher diese beiden Seiten seines Wesens, die sich beständig bekämpften, von¬
einander geschieden und eigens verkörpert. Werther und Albert, Clavigo und
Carlos, Tasso und Antonio, Egmont und Oranien u. s. w., das alles sind eigent¬
lich nicht concret aufgefaßte Persönlichkeiten, sondern nur Verkörperungen einer be¬
stimmten Seite seiner Natur. Wir täuschen uns über ihre Unfertigkeit, weil sie
durch die bestimmte Situation, innerhalb deren sie sich bewegen, wenigstens den
Schein eines concreten Und erfüllten Lebens annehmen. Aber bei Faust und


schwächlich und eigentlich nichtssagend. Mir die Umwandlung in der poetischen Gesammtanf-
fassung ist das bezeichnendste Moment der Prolog im Himmel. -- Beiläufig bemerken wir, daß
in dem wilden Humor der "Paralipomena" zum Faust manches sich findet, was uns bedauern
läßt, daß diese Scenen nicht weiter ausgeführt sind.

Aber schon, daß er überhaupt einen Abschluß versuchte, gab der Aufnahme des
Gedichts eine schiefe Wendung. Man hatte sich an die Idee künstlerischer
Nothwendigkeit gewöhnt und man war überreich an philosophischen Kategorien,
um diese Einheit da, wo sie nicht vorhanden war, hineinzutragen. Von der
Zeit an beginnen die unzähligen Commentare zum Faust, einer immer absurder
als der andere, die aber den Dichter selbst davon überzeugten, er habe ein Kunstwerk
im höheren Stil geschaffen. Ja er nahm es später sehr übel, wenn man
das Gedicht in der alten Weise loben wollte, wie wir aus seinem Urtheil
über Frau von Staizl in den Riemerschen Briefen und aus der merkwürdigen
Unterredung mit Luden, die dieser in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, entneh¬
men können. Diese veränderte Ausfassung des Dichters kann uns um so we¬
niger bestimmen, da grade diese falsche Voraussetzung äußerst schädlich auf die
weitere Entwicklung unsrer Literatur eingewirkt hat.

Wir schicken noch einmal voraus, daß alles einzelne im Faust, wenn man
ihn eben als Fragment betrachtet, bewundernswürdig schön, vollendet und im
höchsten Sinne wahr ist. Betrachten wir ihn aber im Zusammenhange, so
werden alle Verhältnisse und Perspektiven verwirrt, alle Empfindungen und
Ereignisse treten in ein anderes Licht und selbst unsrem Gewissen wird aus die
härteste Weise Gewalt angethan.

Wenn wir von dem mittelalterlichen Costüm, den Reminiscenzen aus dem
Höllenzwang und ähnlichen absehen, so springt es in die Augen, daß Goethe im
Faust, wie eigentlich in allen seinen Dramen, seine eigne Seele dargestellt hat; nur
mit dem Unterschiede, daß^'n allen übrigen durch die klar gezeichnete Situation
das Gefühl eine bestimmte Form gewinnt, während es sich hier bei den
unklarsten Voraussetzungen ganz ins Unbestimmte verliert. Wir haben bereits
früher darauf hingedeutet, daß der Grundfehler in Goethes Natur, in der zu¬
gleich Verstand und Gefühl ihren höchsten Ausdruck gefunden hatten, die Un¬
fähigkeit war, diese Momente so ineinander zu verschmelzen, daß sie ein har¬
monisches Ganze bildeten. Fast in allen seinen dramatischen Dichtungen werden
daher diese beiden Seiten seines Wesens, die sich beständig bekämpften, von¬
einander geschieden und eigens verkörpert. Werther und Albert, Clavigo und
Carlos, Tasso und Antonio, Egmont und Oranien u. s. w., das alles sind eigent¬
lich nicht concret aufgefaßte Persönlichkeiten, sondern nur Verkörperungen einer be¬
stimmten Seite seiner Natur. Wir täuschen uns über ihre Unfertigkeit, weil sie
durch die bestimmte Situation, innerhalb deren sie sich bewegen, wenigstens den
Schein eines concreten Und erfüllten Lebens annehmen. Aber bei Faust und


schwächlich und eigentlich nichtssagend. Mir die Umwandlung in der poetischen Gesammtanf-
fassung ist das bezeichnendste Moment der Prolog im Himmel. — Beiläufig bemerken wir, daß
in dem wilden Humor der „Paralipomena" zum Faust manches sich findet, was uns bedauern
läßt, daß diese Scenen nicht weiter ausgeführt sind.
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[0492] Aber schon, daß er überhaupt einen Abschluß versuchte, gab der Aufnahme des Gedichts eine schiefe Wendung. Man hatte sich an die Idee künstlerischer Nothwendigkeit gewöhnt und man war überreich an philosophischen Kategorien, um diese Einheit da, wo sie nicht vorhanden war, hineinzutragen. Von der Zeit an beginnen die unzähligen Commentare zum Faust, einer immer absurder als der andere, die aber den Dichter selbst davon überzeugten, er habe ein Kunstwerk im höheren Stil geschaffen. Ja er nahm es später sehr übel, wenn man das Gedicht in der alten Weise loben wollte, wie wir aus seinem Urtheil über Frau von Staizl in den Riemerschen Briefen und aus der merkwürdigen Unterredung mit Luden, die dieser in seinen Denkwürdigkeiten erzählt, entneh¬ men können. Diese veränderte Ausfassung des Dichters kann uns um so we¬ niger bestimmen, da grade diese falsche Voraussetzung äußerst schädlich auf die weitere Entwicklung unsrer Literatur eingewirkt hat. Wir schicken noch einmal voraus, daß alles einzelne im Faust, wenn man ihn eben als Fragment betrachtet, bewundernswürdig schön, vollendet und im höchsten Sinne wahr ist. Betrachten wir ihn aber im Zusammenhange, so werden alle Verhältnisse und Perspektiven verwirrt, alle Empfindungen und Ereignisse treten in ein anderes Licht und selbst unsrem Gewissen wird aus die härteste Weise Gewalt angethan. Wenn wir von dem mittelalterlichen Costüm, den Reminiscenzen aus dem Höllenzwang und ähnlichen absehen, so springt es in die Augen, daß Goethe im Faust, wie eigentlich in allen seinen Dramen, seine eigne Seele dargestellt hat; nur mit dem Unterschiede, daß^'n allen übrigen durch die klar gezeichnete Situation das Gefühl eine bestimmte Form gewinnt, während es sich hier bei den unklarsten Voraussetzungen ganz ins Unbestimmte verliert. Wir haben bereits früher darauf hingedeutet, daß der Grundfehler in Goethes Natur, in der zu¬ gleich Verstand und Gefühl ihren höchsten Ausdruck gefunden hatten, die Un¬ fähigkeit war, diese Momente so ineinander zu verschmelzen, daß sie ein har¬ monisches Ganze bildeten. Fast in allen seinen dramatischen Dichtungen werden daher diese beiden Seiten seines Wesens, die sich beständig bekämpften, von¬ einander geschieden und eigens verkörpert. Werther und Albert, Clavigo und Carlos, Tasso und Antonio, Egmont und Oranien u. s. w., das alles sind eigent¬ lich nicht concret aufgefaßte Persönlichkeiten, sondern nur Verkörperungen einer be¬ stimmten Seite seiner Natur. Wir täuschen uns über ihre Unfertigkeit, weil sie durch die bestimmte Situation, innerhalb deren sie sich bewegen, wenigstens den Schein eines concreten Und erfüllten Lebens annehmen. Aber bei Faust und schwächlich und eigentlich nichtssagend. Mir die Umwandlung in der poetischen Gesammtanf- fassung ist das bezeichnendste Moment der Prolog im Himmel. — Beiläufig bemerken wir, daß in dem wilden Humor der „Paralipomena" zum Faust manches sich findet, was uns bedauern läßt, daß diese Scenen nicht weiter ausgeführt sind.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/491>, abgerufen am 22.12.2024.