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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Deutschlands höchst nachtheilig veränderten Umständen zu erwarten ist. Wir
sind deshalb außer Stande, diesen Punctationen einen wirklich praktischen Werth
beizulegen; ihre Elasticität gibt jedem Jnterpretationöversuch nach, aber wir
glauben, daß sie überhaupt nicht in Frage kommen werden, da sie bis jetzt
noch nicht in Frage gekommen sind.

Viel wichtiger erscheint uns eine andere Bestimmung des Vertrages, die
an näherliegende Eventualitäten anknüpft. Oestreich verpflichtet sich, von dem
Kaiser von Rußland die nöthigen Befehle wegen Suöpendirung jedes weitern
Norrückens seiner Armeen' in die Türkei zu erwirken, sowie vollgiltige Bürg¬
schaften für die schleunige Räumung der Donaufürstenthümer zu verlangen.
Sollte die Antwort des russischen Hofes nicht "vollständige Beruhigung" in
Betreff beider Punkte gewähren, "dann wird einer der contrahirenden Theile,
um sie zu erlangen, Maßregeln ergreifen, in der Weise, daß jeder feindliche
Angriff auf das Gebiet des einen der contrahirenden Theile durch den andern
mit seiner ganzen Streitmacht zurückgewiesen werden kann." Es scheint also,
daß dann Oestreich die Offensive ergreifen soll, während sich Preußen zur De¬
fensive verpflichtet.

Auch diese Bestimmung verleugnet ihren Ursprung aus einem Kampfe un¬
versöhnter Widersprüche nicht. Ihre. Prämissen sind an andern Stellen des
Vertrags klar formulirt: die auf unbestimmte Zeit fortdauernde Occupation der
Donaufürstenthümer gefährdet die politischen, materiellen und moralischen Inter¬
essen Deutschlands; die contrahirenden Parteien halten sich (Art. 2 des Ver¬
trags) für "verpflichtet, die Rechte und Interessen Deutschlands gegen jeden
Eingriff zu schützen"; sie erinnern sich außerdem der im Wiener Protokolle
übernommenen Verpflichtungen, und verabreden ausdrücklich, Rußland zur
Räumung der Donaufürstenthümer aufzufordern. Aus diesen Prämissen folgt
mit Nothwendigkeit, daß, falls die letzte Aufforderung fruchtlos bleibt, die Ver¬
bündeten, eingedenk ihrer Pflicht, die Interessen Deutschlands zu schützen, die
als gefährlich für Deutschlands Interessen anerkannte Occupation der Donau¬
fürstenthümer durch gemeinsame Action zu beseitigen suchen müssen, und man
erwartet als die natürliche Consequenz der Vordersätze den Schluß: "so werden
die Verbündeten, nöthigenfalls mit der ganzen zu ihrer Disposition stehenden
Streitmacht, die Räumung der Donaufürstenthümer herbeizuführen suchen."
Aber diese natürliche Consequenz ist in dem Kampf der Gegensätze seltsam ab¬
gebogen worden: der eine Staat wird "Maßregeln ergreisen" zur Erlangung
des Geforderten, und der andere wird -- nicht etwa ihm helfen, sondern der
eine wird seine Maßregeln so ergreifen, daß das Gebiet beider Staaten ver¬
theidigt werden kann. Bei der Geburt dieses Satzes haben die Musen offen¬
bar nicht gelächelt.

Unglücklicherweise ist er-derjenige, der von allen Bestimmungen des Vertrags


Deutschlands höchst nachtheilig veränderten Umständen zu erwarten ist. Wir
sind deshalb außer Stande, diesen Punctationen einen wirklich praktischen Werth
beizulegen; ihre Elasticität gibt jedem Jnterpretationöversuch nach, aber wir
glauben, daß sie überhaupt nicht in Frage kommen werden, da sie bis jetzt
noch nicht in Frage gekommen sind.

Viel wichtiger erscheint uns eine andere Bestimmung des Vertrages, die
an näherliegende Eventualitäten anknüpft. Oestreich verpflichtet sich, von dem
Kaiser von Rußland die nöthigen Befehle wegen Suöpendirung jedes weitern
Norrückens seiner Armeen' in die Türkei zu erwirken, sowie vollgiltige Bürg¬
schaften für die schleunige Räumung der Donaufürstenthümer zu verlangen.
Sollte die Antwort des russischen Hofes nicht „vollständige Beruhigung" in
Betreff beider Punkte gewähren, „dann wird einer der contrahirenden Theile,
um sie zu erlangen, Maßregeln ergreifen, in der Weise, daß jeder feindliche
Angriff auf das Gebiet des einen der contrahirenden Theile durch den andern
mit seiner ganzen Streitmacht zurückgewiesen werden kann." Es scheint also,
daß dann Oestreich die Offensive ergreifen soll, während sich Preußen zur De¬
fensive verpflichtet.

Auch diese Bestimmung verleugnet ihren Ursprung aus einem Kampfe un¬
versöhnter Widersprüche nicht. Ihre. Prämissen sind an andern Stellen des
Vertrags klar formulirt: die auf unbestimmte Zeit fortdauernde Occupation der
Donaufürstenthümer gefährdet die politischen, materiellen und moralischen Inter¬
essen Deutschlands; die contrahirenden Parteien halten sich (Art. 2 des Ver¬
trags) für „verpflichtet, die Rechte und Interessen Deutschlands gegen jeden
Eingriff zu schützen"; sie erinnern sich außerdem der im Wiener Protokolle
übernommenen Verpflichtungen, und verabreden ausdrücklich, Rußland zur
Räumung der Donaufürstenthümer aufzufordern. Aus diesen Prämissen folgt
mit Nothwendigkeit, daß, falls die letzte Aufforderung fruchtlos bleibt, die Ver¬
bündeten, eingedenk ihrer Pflicht, die Interessen Deutschlands zu schützen, die
als gefährlich für Deutschlands Interessen anerkannte Occupation der Donau¬
fürstenthümer durch gemeinsame Action zu beseitigen suchen müssen, und man
erwartet als die natürliche Consequenz der Vordersätze den Schluß: „so werden
die Verbündeten, nöthigenfalls mit der ganzen zu ihrer Disposition stehenden
Streitmacht, die Räumung der Donaufürstenthümer herbeizuführen suchen."
Aber diese natürliche Consequenz ist in dem Kampf der Gegensätze seltsam ab¬
gebogen worden: der eine Staat wird „Maßregeln ergreisen" zur Erlangung
des Geforderten, und der andere wird — nicht etwa ihm helfen, sondern der
eine wird seine Maßregeln so ergreifen, daß das Gebiet beider Staaten ver¬
theidigt werden kann. Bei der Geburt dieses Satzes haben die Musen offen¬
bar nicht gelächelt.

Unglücklicherweise ist er-derjenige, der von allen Bestimmungen des Vertrags


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/399>, abgerufen am 01.07.2024.