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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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bereitung auf das Abendmahl in der Kapelle. Darauf traten sie zu Niebuhr
ein. Es war Stein nicht recht, daß Niebuhr nicht theilncchm; er fragte ihn:
"Herr Staatsrath, warum nehmen Sie nicht auch theil?" Niebuhr erwiderte:
"Ich habe in den letzten Wochen soviel traurige und aufregende Briefe aus
Berlin erhalten, daß ich gar nicht in der Stimmung bin; man soll mit seinen
Feinden versöhnt zum Abendmahl gehen, und das kann ich nicht." Stein:
"Ach was! das Evangelium befiehlt, man soll seinen Feind nicht hassen."
Niebuhr versetzte: "Aber hegen E. E. keinen Haß gegen den G. M.?" "Haß?
nein! aber wenn ich ihm auf der Straße begegnete, würde ich ihm ins Gesicht
speien." --




Von der Geschworenenbank

' Seit Jahren schwebt unter den Rechtsgelehrten und Staatsmännern der
Streit über Werth oder Unwerth der Schwurgerichte; und die Behauptung würde
wol gewagt sein, daß dieser Streit durch, die in dein größten Theile Dentschlands
thatsächlich erfolgte Einführung der Schwurgerichte auch sofort theoretisch zu deren
Gnnstr'n entschieden sei. Nachdem jetzt aber Hunderte von Männern zu Gericht
gesessen haben über ihre Mitbürger, nachdem sie mit voller rechtlicher Wirksamkeit
ihr "Schuldig" oder "Nichtschuldig" gesprochen haben, scheint es mir an der
Zeit zu sei", daß auch einmal ein Laie in der Rechtsgelehrsamkeit die Erfahrun¬
gen, welche er selbst als Mitglied der Geschworenenbank an sich und andern ge¬
macht hat, öffentlich ausspricht und so aus der eignen frischen Thätigkeit heraus
mitarbeitet an der endlichen Entscheidung des vieljährigen Streites.

Ich war mit dem Wesen des Schwurgerichts noch uicht durch eigne An¬
schauung, zu der sich nie Gelegenheit gefunden, bekannt.; aber der Verkehr mit
tüchtigen Juristen und eine wenigstens theilweise Kenntnißnahme vou der betref¬
fenden Literatur hatten mich längst zu einem Anhänger derselben gemacht. Den¬
noch verhehlte ich mir auch manche Bedenken nicht: sollte es möglich sein ein seit
Jahrhunderten herrschendes Verfahren plötzlich durch ein vollkommen anderes z"
ersetzen,' ohne daß dadurch eine heillose Verwirrung in die Handhabung deö Rechts
einbreche? Diese Gefahr schien mir so dringend, daß ich die vor 1848 hier und
da begonnene Einführung der Mündlichkeit und Oeffentlichkeit in den Strafproceß
als einen für die Gegenwart vollkommen ausreichenden Fortschritt ansah, der am
geeignetsten sei, einer späteren Einführung der Schwurgerichte den Weg zu bah-
nen. Dieses Bedenken fiel mit dem Jahre 1848 weg; jetzt, wo alles neu wer¬
den sollte, konnte sich auch die Rechtspflege nicht mit langsamen Uebergängen ge¬
nügen lassen; wurde einmal aus dem Ganzen und Groben gearbeitet, so mußte
auch auf diesem Gebiete sofort die möglichst vollkommene Form gewählt werden.
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Grenzboten. II. ->8ö4. 32

bereitung auf das Abendmahl in der Kapelle. Darauf traten sie zu Niebuhr
ein. Es war Stein nicht recht, daß Niebuhr nicht theilncchm; er fragte ihn:
„Herr Staatsrath, warum nehmen Sie nicht auch theil?" Niebuhr erwiderte:
„Ich habe in den letzten Wochen soviel traurige und aufregende Briefe aus
Berlin erhalten, daß ich gar nicht in der Stimmung bin; man soll mit seinen
Feinden versöhnt zum Abendmahl gehen, und das kann ich nicht." Stein:
„Ach was! das Evangelium befiehlt, man soll seinen Feind nicht hassen."
Niebuhr versetzte: „Aber hegen E. E. keinen Haß gegen den G. M.?" „Haß?
nein! aber wenn ich ihm auf der Straße begegnete, würde ich ihm ins Gesicht
speien." —




Von der Geschworenenbank

' Seit Jahren schwebt unter den Rechtsgelehrten und Staatsmännern der
Streit über Werth oder Unwerth der Schwurgerichte; und die Behauptung würde
wol gewagt sein, daß dieser Streit durch, die in dein größten Theile Dentschlands
thatsächlich erfolgte Einführung der Schwurgerichte auch sofort theoretisch zu deren
Gnnstr'n entschieden sei. Nachdem jetzt aber Hunderte von Männern zu Gericht
gesessen haben über ihre Mitbürger, nachdem sie mit voller rechtlicher Wirksamkeit
ihr „Schuldig" oder „Nichtschuldig" gesprochen haben, scheint es mir an der
Zeit zu sei», daß auch einmal ein Laie in der Rechtsgelehrsamkeit die Erfahrun¬
gen, welche er selbst als Mitglied der Geschworenenbank an sich und andern ge¬
macht hat, öffentlich ausspricht und so aus der eignen frischen Thätigkeit heraus
mitarbeitet an der endlichen Entscheidung des vieljährigen Streites.

Ich war mit dem Wesen des Schwurgerichts noch uicht durch eigne An¬
schauung, zu der sich nie Gelegenheit gefunden, bekannt.; aber der Verkehr mit
tüchtigen Juristen und eine wenigstens theilweise Kenntnißnahme vou der betref¬
fenden Literatur hatten mich längst zu einem Anhänger derselben gemacht. Den¬
noch verhehlte ich mir auch manche Bedenken nicht: sollte es möglich sein ein seit
Jahrhunderten herrschendes Verfahren plötzlich durch ein vollkommen anderes z»
ersetzen,' ohne daß dadurch eine heillose Verwirrung in die Handhabung deö Rechts
einbreche? Diese Gefahr schien mir so dringend, daß ich die vor 1848 hier und
da begonnene Einführung der Mündlichkeit und Oeffentlichkeit in den Strafproceß
als einen für die Gegenwart vollkommen ausreichenden Fortschritt ansah, der am
geeignetsten sei, einer späteren Einführung der Schwurgerichte den Weg zu bah-
nen. Dieses Bedenken fiel mit dem Jahre 1848 weg; jetzt, wo alles neu wer¬
den sollte, konnte sich auch die Rechtspflege nicht mit langsamen Uebergängen ge¬
nügen lassen; wurde einmal aus dem Ganzen und Groben gearbeitet, so mußte
auch auf diesem Gebiete sofort die möglichst vollkommene Form gewählt werden.
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Grenzboten. II. ->8ö4. 32
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[0257] bereitung auf das Abendmahl in der Kapelle. Darauf traten sie zu Niebuhr ein. Es war Stein nicht recht, daß Niebuhr nicht theilncchm; er fragte ihn: „Herr Staatsrath, warum nehmen Sie nicht auch theil?" Niebuhr erwiderte: „Ich habe in den letzten Wochen soviel traurige und aufregende Briefe aus Berlin erhalten, daß ich gar nicht in der Stimmung bin; man soll mit seinen Feinden versöhnt zum Abendmahl gehen, und das kann ich nicht." Stein: „Ach was! das Evangelium befiehlt, man soll seinen Feind nicht hassen." Niebuhr versetzte: „Aber hegen E. E. keinen Haß gegen den G. M.?" „Haß? nein! aber wenn ich ihm auf der Straße begegnete, würde ich ihm ins Gesicht speien." — Von der Geschworenenbank ' Seit Jahren schwebt unter den Rechtsgelehrten und Staatsmännern der Streit über Werth oder Unwerth der Schwurgerichte; und die Behauptung würde wol gewagt sein, daß dieser Streit durch, die in dein größten Theile Dentschlands thatsächlich erfolgte Einführung der Schwurgerichte auch sofort theoretisch zu deren Gnnstr'n entschieden sei. Nachdem jetzt aber Hunderte von Männern zu Gericht gesessen haben über ihre Mitbürger, nachdem sie mit voller rechtlicher Wirksamkeit ihr „Schuldig" oder „Nichtschuldig" gesprochen haben, scheint es mir an der Zeit zu sei», daß auch einmal ein Laie in der Rechtsgelehrsamkeit die Erfahrun¬ gen, welche er selbst als Mitglied der Geschworenenbank an sich und andern ge¬ macht hat, öffentlich ausspricht und so aus der eignen frischen Thätigkeit heraus mitarbeitet an der endlichen Entscheidung des vieljährigen Streites. Ich war mit dem Wesen des Schwurgerichts noch uicht durch eigne An¬ schauung, zu der sich nie Gelegenheit gefunden, bekannt.; aber der Verkehr mit tüchtigen Juristen und eine wenigstens theilweise Kenntnißnahme vou der betref¬ fenden Literatur hatten mich längst zu einem Anhänger derselben gemacht. Den¬ noch verhehlte ich mir auch manche Bedenken nicht: sollte es möglich sein ein seit Jahrhunderten herrschendes Verfahren plötzlich durch ein vollkommen anderes z» ersetzen,' ohne daß dadurch eine heillose Verwirrung in die Handhabung deö Rechts einbreche? Diese Gefahr schien mir so dringend, daß ich die vor 1848 hier und da begonnene Einführung der Mündlichkeit und Oeffentlichkeit in den Strafproceß als einen für die Gegenwart vollkommen ausreichenden Fortschritt ansah, der am geeignetsten sei, einer späteren Einführung der Schwurgerichte den Weg zu bah- nen. Dieses Bedenken fiel mit dem Jahre 1848 weg; jetzt, wo alles neu wer¬ den sollte, konnte sich auch die Rechtspflege nicht mit langsamen Uebergängen ge¬ nügen lassen; wurde einmal aus dem Ganzen und Groben gearbeitet, so mußte auch auf diesem Gebiete sofort die möglichst vollkommene Form gewählt werden. ' Grenzboten. II. ->8ö4. 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/256>, abgerufen am 22.12.2024.