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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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musikalische Kritik, wie sie in Leipzig gehandhabt wird, wirklich die maßgebende
Norm für die Einsicht des PublicuMs, so mochte es wenige Städte, welche auf
Bildung Anspruch machen, geben, in denen es so übel damit bestellt wäre. Allein
dem ist nicht so; namentlich während der letzten Saison hat sich vielfache,
Mißstimmung über die Leistungen der Concerte kundgegeben, und es ist
gradezu ausgesprochen worden, daß sie ans eine Weise im Sinken begriffen seien,
die zu sehr ernstlichen Befürchtungen Anlaß gebe. Leider läßt sich solchen Aeu¬
ßerungen nicht ganz widersprechen. /

Ein Institut, welches den Vortheil einer langjährigen Tradition hat, wird
auch leicht der Gefahr, ausgesetzt sein, das, was sich als zweckmäßig bewährt hat,
als das allein Zweckmäßige anzusehen und einer Gewohnheit "achzugeben, bei der
zuletzt die Bequemlichkeit den Ausschlag gibt.

Die allgemeine Einrichtung der Concerte ist bekannt. Eine Symphonie macht in
der Regel den einen Haupttheil allein aus, dem ein andrer ans mehren kleinern
verschiedenartigen Musikstücken gemischter gegenübergestellt wird. Der Sitte gemäß,
die sich hier fast constant gebildet hat, wird die Symphonie im zweiten Theil gegeben.
Vermuthlich hat man dabei die gewiß richtige Erwägung angestellt, daß eine bedeu¬
tende, in sich zusammenhängende Komposition eher im Stande sei, die Aufmerksamkeit
wieder zu fesseln, nachdem sie durch eine Reihe einzelner, zum Theil sehr disparater'
Werke in Anspruch genommen ist, als umgekehrt der Fall sein würde. ES fragt
sich nur, ob der Gesichtspunkt nicht wichtiger ist, daß der Zuhörer zur Symphonie,
die sowol der künstlerischen Bedeutung als der Ausführung nach entschieden den
Schwerpunkt der Concerte bildet, ganz frisch und empfänglich komme. Beethoven
ersuchte in einem Vorwort die Coucertdircctoren, sie mochten, wenn die Siickorüa,
Li-oiea aufgeführt würde, nicht zu viel voranschicken, damix sie ihre Wirkung
nicht verliere, wenn der Zuhörer schön abgestumpft sei, Was würde er gesagt
haben, wenn er gehört hätte, daß hier Schumanns Ouvertüre zu Manfred, eine
Arie aus der Entführung, ein Concert für das Violoncell, die Adelaide, und
ein Solo für die Harfe -- der Quantität nach schon ein Concert für sich --
nur die Einleitung zu seiner Symphonie machten, oder gar, daß man seiner
neunten Symphonie noch eine Cantate von Bach, die Jphigenienouverture und
einen Psalm von Fr. Schneider vorauszuschicken für nöthig gefunden hatte? Aller¬
dings hat man seit Beethovens Zeit viel mehr zu vertragen gelernt, als man, dem
Publicum damals zumuthen konnte, und auch in dieser Beziehung soll der Fort¬
schritt nicht geleugnet werde"; allein das bloße Vielvertragcntvnne", zumal
wenn es auch el" Vielerlei ist, ist in der Musik, wie überall, wo es sich um Ge¬
schmack handelt, ein sehr zweifelhaftes Verdienst und zeugt keineswegs vorzugs¬
weise von musikalischer Anlage und Bildung. Wenn der schöne Spruch des Ge-
wandhaussaaleö: Kizg i-över-i verum Aauäiuw, wahr werdeu soll, so kann es im
Cvlzcert nicht darauf ankommen, daß den Znh'örern recht viel Musik zum einen


musikalische Kritik, wie sie in Leipzig gehandhabt wird, wirklich die maßgebende
Norm für die Einsicht des PublicuMs, so mochte es wenige Städte, welche auf
Bildung Anspruch machen, geben, in denen es so übel damit bestellt wäre. Allein
dem ist nicht so; namentlich während der letzten Saison hat sich vielfache,
Mißstimmung über die Leistungen der Concerte kundgegeben, und es ist
gradezu ausgesprochen worden, daß sie ans eine Weise im Sinken begriffen seien,
die zu sehr ernstlichen Befürchtungen Anlaß gebe. Leider läßt sich solchen Aeu¬
ßerungen nicht ganz widersprechen. /

Ein Institut, welches den Vortheil einer langjährigen Tradition hat, wird
auch leicht der Gefahr, ausgesetzt sein, das, was sich als zweckmäßig bewährt hat,
als das allein Zweckmäßige anzusehen und einer Gewohnheit »achzugeben, bei der
zuletzt die Bequemlichkeit den Ausschlag gibt.

Die allgemeine Einrichtung der Concerte ist bekannt. Eine Symphonie macht in
der Regel den einen Haupttheil allein aus, dem ein andrer ans mehren kleinern
verschiedenartigen Musikstücken gemischter gegenübergestellt wird. Der Sitte gemäß,
die sich hier fast constant gebildet hat, wird die Symphonie im zweiten Theil gegeben.
Vermuthlich hat man dabei die gewiß richtige Erwägung angestellt, daß eine bedeu¬
tende, in sich zusammenhängende Komposition eher im Stande sei, die Aufmerksamkeit
wieder zu fesseln, nachdem sie durch eine Reihe einzelner, zum Theil sehr disparater'
Werke in Anspruch genommen ist, als umgekehrt der Fall sein würde. ES fragt
sich nur, ob der Gesichtspunkt nicht wichtiger ist, daß der Zuhörer zur Symphonie,
die sowol der künstlerischen Bedeutung als der Ausführung nach entschieden den
Schwerpunkt der Concerte bildet, ganz frisch und empfänglich komme. Beethoven
ersuchte in einem Vorwort die Coucertdircctoren, sie mochten, wenn die Siickorüa,
Li-oiea aufgeführt würde, nicht zu viel voranschicken, damix sie ihre Wirkung
nicht verliere, wenn der Zuhörer schön abgestumpft sei, Was würde er gesagt
haben, wenn er gehört hätte, daß hier Schumanns Ouvertüre zu Manfred, eine
Arie aus der Entführung, ein Concert für das Violoncell, die Adelaide, und
ein Solo für die Harfe — der Quantität nach schon ein Concert für sich —
nur die Einleitung zu seiner Symphonie machten, oder gar, daß man seiner
neunten Symphonie noch eine Cantate von Bach, die Jphigenienouverture und
einen Psalm von Fr. Schneider vorauszuschicken für nöthig gefunden hatte? Aller¬
dings hat man seit Beethovens Zeit viel mehr zu vertragen gelernt, als man, dem
Publicum damals zumuthen konnte, und auch in dieser Beziehung soll der Fort¬
schritt nicht geleugnet werde»; allein das bloße Vielvertragcntvnne», zumal
wenn es auch el» Vielerlei ist, ist in der Musik, wie überall, wo es sich um Ge¬
schmack handelt, ein sehr zweifelhaftes Verdienst und zeugt keineswegs vorzugs¬
weise von musikalischer Anlage und Bildung. Wenn der schöne Spruch des Ge-
wandhaussaaleö: Kizg i-över-i verum Aauäiuw, wahr werdeu soll, so kann es im
Cvlzcert nicht darauf ankommen, daß den Znh'örern recht viel Musik zum einen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/209>, abgerufen am 23.07.2024.