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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band.

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Ohr hinein und zum andern herausgebe, sondern das; jeder nach seinem Vermögen
davon in sich aufnehme und verarbeite und durch eine ernstgemeinte Selbstbethä-
tignng an den Leistungen der Kunst jene wahre Freude sich erwerbe. Dazu ist
vor allen Dingen Sammlung erforderlich und nicht Zerstreuung durch ein hetero¬
genes Vielerlei, wie es die meisten Coucertprogramme im ersten Theil biete".
Wenn man dagegen sagen wollte, es seien darunter ja meistens auch Sachen,
die eine angestrengte Aufmerksamkeit weder verdienen noch verlangen, so soll das
nicht geleugnet werden, allein grade diese mittelmäßigen oder gar haben Produc-
tionen spannen einen musikalisch Gebildeten am schlimmsten ab, denn sie machen
verdrießlich und rauben die Stimmung für das Bessere. Es wäre daher'wol
zu wünschen, daß man mit der Symphonie den Anfang machte, wobei sich noch
zwei praktische Vortheile ergeben würde". Einmal würde die. unbezwingliche
Neigung der Damen, vor dem Schluß aufzubrechen, dann meistens nur eine italie¬
nische Arie oder eine Salonctude zerstören und könnte sogar den Schein einer
höchst kunstgebildeten'Ungeduld annehmen; und ferner würde ein genügsamer Musik¬
freund die Symphonie frisch .und ungetrübt genießen und ans den Rest verzich¬
tend sich entfernen können. Wer etwa den wohlgemeinten Rath auf der Zunge
hat, mau könne ja zum zweiten Theil sich einstellen, nun, der weiß nicht, wie das
Publicum sich zu unsern Concerten drängt, mit wie langem Warten, Drängen,
Schwitzen mau einen leidliche" Platz erkaufen muß. ,

Das alte Wort, daß die Hälfte mehr sei als das Ganze, soll nicht etwa
ans die Zahl der Zuhörer angewendet werden, aber vom Concertprogramm gilt
es gewiß. Wo mau selten Gelegenheit hat Musik zu hören, wo das Publicum
ungebildet ist, mag der Grundsatz gelten, daß man für sein Geld recht viel 'hören
wolle: hier darf davon nicht die Rede sein. Die Frage, ob die so einseitig vor¬
herrschende Neigung und Beschäftigung mit Musik für die allgemeine geistige
und künstlerische Bildung in Leipzig nicht nachtheilig sei, ob nicht selbst eine
Beschränkung in der Zahl der Concerte für die Ausübenden und Hörer eine
Wohlthat, für die Kunst ein Vortheil sei, soll hier nicht erörtert werden; aber
zuversichtlich kann man behaupten, daß fast jedes Concert des Guten, und nicht
einmal immer des Gute", zu viel thut. Die gute Hausregel, daß man zu essen
aufhören solle, wenn es, am besten schmecke, gilt in vollstem Sinn vom Kunst¬
genuß; unsre Concertprogramme aber scheinen es meistens auf ein eigentliches musi¬
kalisches Magenverderben abgesehen zu haben. Gewöhnlich kommt im ersten Theil
eine Ouvertüre, eine Arie, ein Jnstrnmentalconcert, noch eine Arie, ein zweites
Instrumentalsolo zur Aufführung, mitunter schließt denselben auch eine zweite Ou-
verture: diese Anordnung ist so stereotyp geworden, wie in manchen Gasthäusern
der Speisezettel. Und doch ist sie schon an sich keineswegs günstig, entspricht
höchstens einem Bedürfniß der alleränßerlichstcn Abwechslung und muß, wenn
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Ohr hinein und zum andern herausgebe, sondern das; jeder nach seinem Vermögen
davon in sich aufnehme und verarbeite und durch eine ernstgemeinte Selbstbethä-
tignng an den Leistungen der Kunst jene wahre Freude sich erwerbe. Dazu ist
vor allen Dingen Sammlung erforderlich und nicht Zerstreuung durch ein hetero¬
genes Vielerlei, wie es die meisten Coucertprogramme im ersten Theil biete«.
Wenn man dagegen sagen wollte, es seien darunter ja meistens auch Sachen,
die eine angestrengte Aufmerksamkeit weder verdienen noch verlangen, so soll das
nicht geleugnet werden, allein grade diese mittelmäßigen oder gar haben Produc-
tionen spannen einen musikalisch Gebildeten am schlimmsten ab, denn sie machen
verdrießlich und rauben die Stimmung für das Bessere. Es wäre daher'wol
zu wünschen, daß man mit der Symphonie den Anfang machte, wobei sich noch
zwei praktische Vortheile ergeben würde». Einmal würde die. unbezwingliche
Neigung der Damen, vor dem Schluß aufzubrechen, dann meistens nur eine italie¬
nische Arie oder eine Salonctude zerstören und könnte sogar den Schein einer
höchst kunstgebildeten'Ungeduld annehmen; und ferner würde ein genügsamer Musik¬
freund die Symphonie frisch .und ungetrübt genießen und ans den Rest verzich¬
tend sich entfernen können. Wer etwa den wohlgemeinten Rath auf der Zunge
hat, mau könne ja zum zweiten Theil sich einstellen, nun, der weiß nicht, wie das
Publicum sich zu unsern Concerten drängt, mit wie langem Warten, Drängen,
Schwitzen mau einen leidliche» Platz erkaufen muß. ,

Das alte Wort, daß die Hälfte mehr sei als das Ganze, soll nicht etwa
ans die Zahl der Zuhörer angewendet werden, aber vom Concertprogramm gilt
es gewiß. Wo mau selten Gelegenheit hat Musik zu hören, wo das Publicum
ungebildet ist, mag der Grundsatz gelten, daß man für sein Geld recht viel 'hören
wolle: hier darf davon nicht die Rede sein. Die Frage, ob die so einseitig vor¬
herrschende Neigung und Beschäftigung mit Musik für die allgemeine geistige
und künstlerische Bildung in Leipzig nicht nachtheilig sei, ob nicht selbst eine
Beschränkung in der Zahl der Concerte für die Ausübenden und Hörer eine
Wohlthat, für die Kunst ein Vortheil sei, soll hier nicht erörtert werden; aber
zuversichtlich kann man behaupten, daß fast jedes Concert des Guten, und nicht
einmal immer des Gute», zu viel thut. Die gute Hausregel, daß man zu essen
aufhören solle, wenn es, am besten schmecke, gilt in vollstem Sinn vom Kunst¬
genuß; unsre Concertprogramme aber scheinen es meistens auf ein eigentliches musi¬
kalisches Magenverderben abgesehen zu haben. Gewöhnlich kommt im ersten Theil
eine Ouvertüre, eine Arie, ein Jnstrnmentalconcert, noch eine Arie, ein zweites
Instrumentalsolo zur Aufführung, mitunter schließt denselben auch eine zweite Ou-
verture: diese Anordnung ist so stereotyp geworden, wie in manchen Gasthäusern
der Speisezettel. Und doch ist sie schon an sich keineswegs günstig, entspricht
höchstens einem Bedürfniß der alleränßerlichstcn Abwechslung und muß, wenn
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97779/210>, abgerufen am 22.12.2024.