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Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band.

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Die Verbrecherstatistik liefert wahrhaft erschütternde Beweise dafür, wieweit,
die Bewohner der Hochebene gegen die mitteldeutschen und norddeutschen Stämme
trotz aller Heiligen noch zurück sind. Welche Gewaltthätigkeiten kommen hier noch
vor!, Zum Beweis, daß in Baiern verhältnismäßig Mehr Mordthaten, als im
ganzen übrigen Deutschland geschehen, berufen wir uns anf den in München er¬
scheinende" ,,Volksboden", dem niemand Baiern feindliche Gesinnungen vorwerfen
wird. Derselbe berechnete vom 13. Juni bis zum 19. October 18S2 in ganz
Deutschland 270 ihm bekannt gewordene Morde. Nicht weniger als 116, also
fast die Hälfte davon, fiel auf Baiern, wo 10 mehr vorkamen, als der bezeichnete
Zeitraum Tage hatte. Ju Baiern selbst gehört dann die größere Zahl der Ver¬
brechen wieder nicht Franken und der Rheinpfalz, sondern Altbaiern und Schwaben
an. Während im November 1863 die Quartalsitzuug der Schwurgerichte in den
fränkischen Provinzen ausfiel, hatte der Gerichtshof von Oberbaiern sieben
Todesurtheile zu fällen! Von den geringern Verbrechen und Vergehen kommen
nach einer officiellen Durchschnittsrechnung in der Pfalz eins auf S72; dagegen
in de" übrigen Kreisen eins auf 38? Einwohner. Ju der Pfalz fällt auf 86
Polizeiübertretungen eine criminell strafbare Handlung; in Schwaben und Neuburg
eine auf 30; in Oberbaiern eine aus 12. Auch an Bettlern und Landstreichern
kommt auf Oberbaiern und Schwabe" die größere Sunnne. Aber in politischer
Hinsicht si"d Schwaben und Oberbaiern dessenungeachtet sehr loyal u"d sehr
conservativ und belobt und Franken und die Pfalz sehr "unterwühlt" und sehr
oppositionell gesinnt. --

Woher kommt aber die Sittenrohheit und Verwahrlosung jener strengkatho-
lischen uno streugcouservativeu Gebiete? Es ist nicht zu leugnen, daß manches
für die Hebung der Volksschulen geschieht. Noch vor kurzem gab König Max
ihren Lehrern die Versicherung, daß er sie liebe,'die Volksschullehrer; sie erhalten
Gehaltszulage; es ist in München sogar ein Cursus der Chemie für gntempfvhleue
Seminaristen eingerichtet. Allein alles das zielt nicht unmittelbar genug auf die
sittliche Erziehung des Volks. Für diese geschieht noch lange nicht genug, weil
die katholische Geistlichkeit ans den Altardienst zu viel und aus die Lehre zu wenig
Gewicht legt. Die' Predigt ist zu mangelhaft, der Religionsunterricht der Jugend
endet wie der Schulunterricht überhaupt schon mit dem zwölften Lebensjahre.
Dann werden die Knabe" auf dem Lande zum Viehhüten und zu kleinen Hand-
leistungen und in de" Städte", wen" die Kiuder zu strenger Arbeit "och z" schwach
sind, zu einer Juterimsbeschäftiguug, als Ausläufer oder i" den Buchdruckereie"
und Fabriken verwendet und die geistige Pflege hat aufgehört. Für die Er¬
wachsenen werden zahlreiche Messen gelesen, aber wenige Predigten gehalten "ut
bei den Morgens, Mittags "ut Abends mechanisch hergesvrochencn Gebeten ist
wenig Nachdenken. Nur die jüngste" Ich"ne"predigte" legte" einen Nachdruck
auf die Moral, wie er i" der katholische" Kirche bis dahin noch nicht dagewesen


Die Verbrecherstatistik liefert wahrhaft erschütternde Beweise dafür, wieweit,
die Bewohner der Hochebene gegen die mitteldeutschen und norddeutschen Stämme
trotz aller Heiligen noch zurück sind. Welche Gewaltthätigkeiten kommen hier noch
vor!, Zum Beweis, daß in Baiern verhältnismäßig Mehr Mordthaten, als im
ganzen übrigen Deutschland geschehen, berufen wir uns anf den in München er¬
scheinende» ,,Volksboden", dem niemand Baiern feindliche Gesinnungen vorwerfen
wird. Derselbe berechnete vom 13. Juni bis zum 19. October 18S2 in ganz
Deutschland 270 ihm bekannt gewordene Morde. Nicht weniger als 116, also
fast die Hälfte davon, fiel auf Baiern, wo 10 mehr vorkamen, als der bezeichnete
Zeitraum Tage hatte. Ju Baiern selbst gehört dann die größere Zahl der Ver¬
brechen wieder nicht Franken und der Rheinpfalz, sondern Altbaiern und Schwaben
an. Während im November 1863 die Quartalsitzuug der Schwurgerichte in den
fränkischen Provinzen ausfiel, hatte der Gerichtshof von Oberbaiern sieben
Todesurtheile zu fällen! Von den geringern Verbrechen und Vergehen kommen
nach einer officiellen Durchschnittsrechnung in der Pfalz eins auf S72; dagegen
in de» übrigen Kreisen eins auf 38? Einwohner. Ju der Pfalz fällt auf 86
Polizeiübertretungen eine criminell strafbare Handlung; in Schwaben und Neuburg
eine auf 30; in Oberbaiern eine aus 12. Auch an Bettlern und Landstreichern
kommt auf Oberbaiern und Schwabe» die größere Sunnne. Aber in politischer
Hinsicht si»d Schwaben und Oberbaiern dessenungeachtet sehr loyal u»d sehr
conservativ und belobt und Franken und die Pfalz sehr „unterwühlt" und sehr
oppositionell gesinnt. —

Woher kommt aber die Sittenrohheit und Verwahrlosung jener strengkatho-
lischen uno streugcouservativeu Gebiete? Es ist nicht zu leugnen, daß manches
für die Hebung der Volksschulen geschieht. Noch vor kurzem gab König Max
ihren Lehrern die Versicherung, daß er sie liebe,'die Volksschullehrer; sie erhalten
Gehaltszulage; es ist in München sogar ein Cursus der Chemie für gntempfvhleue
Seminaristen eingerichtet. Allein alles das zielt nicht unmittelbar genug auf die
sittliche Erziehung des Volks. Für diese geschieht noch lange nicht genug, weil
die katholische Geistlichkeit ans den Altardienst zu viel und aus die Lehre zu wenig
Gewicht legt. Die' Predigt ist zu mangelhaft, der Religionsunterricht der Jugend
endet wie der Schulunterricht überhaupt schon mit dem zwölften Lebensjahre.
Dann werden die Knabe» auf dem Lande zum Viehhüten und zu kleinen Hand-
leistungen und in de» Städte», wen» die Kiuder zu strenger Arbeit »och z» schwach
sind, zu einer Juterimsbeschäftiguug, als Ausläufer oder i» den Buchdruckereie»
und Fabriken verwendet und die geistige Pflege hat aufgehört. Für die Er¬
wachsenen werden zahlreiche Messen gelesen, aber wenige Predigten gehalten »ut
bei den Morgens, Mittags »ut Abends mechanisch hergesvrochencn Gebeten ist
wenig Nachdenken. Nur die jüngste» Ich»ne»predigte» legte» einen Nachdruck
auf die Moral, wie er i» der katholische» Kirche bis dahin noch nicht dagewesen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 13, 1854, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341578_97245/434>, abgerufen am 22.07.2024.